Meine Reise zu den Grenzen der Stadt

Oberlöricker Straße (Entfernung zum Düsseldorfer Rathaus: 5,7 Kilometer)
Ich kann die Farbe nicht genau benennen, mit der man den Bentley lackiert hat, also nehme ich mir die Freiheit heraus zu behaupten, dass es British Racing Green ist, obwohl es garantiert kein British Racing Green ist, eher ein Grau. Es passt bloß so gut. Ein Bentley in British Racing Green parkt also an der Gärtnerei. Später verlässt ein schwarzer Porsche die Stadt deutlich zu schnell. Der Fahrer saugt durch einen Strohhalm etwas aus einem Pappbecher. Noch etwas später folgt ein weißer Lamborghini mit heruntergeklapptem Verdeck. Der Wagen macht ein Geräusch, das verkündet: Seht her, ich bin’s. Das SUV-Aufkommen ist enorm. Sagte ich schon, dass wir in Düsseldorf stehen, an der Grenze zu Meerbusch?
Der erste Donnerstag im Oktober, 10 Uhr, hier geht sie los, meine Reise zu den Punkten der Stadt, an denen sie die Menschen hineinlässt, an denen sie den ersten Eindruck macht, an den Ortsschildern, die eigentlich Ortstafeln heißen. Landeshauptstadt Düsseldorf steht dort schwarz auf gelb, darunter der Stadtteil, Lörick. Wie also erscheint Düsseldorf hier? Welche Erwartungen weckt die Stadt, wenn man so tut, als habe man noch nie etwas von ihr gesehen oder gehört?
Eine schmale, zweispurige Straße führt nach Lörick hinein. Rechts liegen die Beete einer Gärtnerei. Am Rand des Gehwegs haben sich Gestrüpp, Dornen und Brennnesseln breitgemacht. Ich höre ein paar Bäume rauschen. Auf der linken Straßenseite liegt ein großes Grundstück, darauf mit einigem Abstand von der Straße die Baustelle eines Hauses. An der Fassade stehen Gerüste. Das Gebäude ist geschützt durch Mauern und Zäune. Ein Mann parkt sein Auto vor dem Grundstück, er ist Handwerker, lädt Dinge aus dem Kofferraum in eine Schubkarre und schiebt los. Auf dem linken Gehweg parken ein E-Roller und ein E-Bike des Anbieters mit dem drollligsten Namen. Weiter lörickeinwärts rotieren Anzeigen von Google, C&A und der Fernsehshow Skate Fever. Ein Mann zieht sein Einkaufswägelchen zur Bushaltestelle, eine Frau biegt mit ihrem Hund rechts auf die Büdericher Straße ab, die mit Büdericher Weg angemessener benannt wäre. Wenn die Ampel auf Rot springt, macht eine circa hundert Meter davor liegende weitere Ampel in orange darauf aufmerksam. Nur wenige Menschen verlassen oder erreichen die Stadt nicht mit dem Auto, ich sehe kaum Radfahrer und Fußgänger. Ein Straßendorf ist Düsseldorf hier, beschaulich, ohne schön zu sein. Bitte fahren Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.
Duisburger Landstraße (Entfernung zum Rathaus: 11,9 Kilometer)
Ich habe einen Fehler gemacht. Doch ich bemerke ihn erst, als ich von der U-Bahn-Haltestelle Froschenteich, der nördlichsten von Düsseldorf, schon fast nach Duisburg gelaufen bin. Die Grenze liegt ungefähr an der A524, aber noch bevor ich dort bin, dämmert mir, dass Ortsschilder selten an den geografischen Grenzen der Stadt stehen, sondern dort, wo die geschlossene Bebauung, die geschlossene Ortschaft beginnt. Ich laufe noch bis zu dieser Grenze, aber dort ist wirklich kein Schild. Ich gehe zurück zur U-Bahn-Haltestelle, steige ein und in Wittlaer wieder aus.
Das Ortsschild hat nicht die Aufgabe, die geografischen Grenzen einer Kommune zu markieren, sondern Autofahrer:innen darauf hinzuweisen, dass ab hier eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gilt. Die Schilder verleiten aber zu der Annahme, dass alles vor dem Ortsschild noch nicht Düsseldorf ist. Dabei ist es bloß das nur spärlich bebaute Düsseldorf. Genaugenommen besuche ich also die Grenzen der geschlossenen Bebauung.
Die Schilder am Ortseingang Wittlaer stehen auf beiden Seiten der Duisburger Landstraße. Die Bundesstraße führt schnurgerade nach Wittlaer hinein, auf der linken Seite schließt sich gleich an ein Feld eine hohe Hecke an, die vermutlich die neuen, mehretagigen Wohnhäuser vor dem Autolärm schützen soll. Auf der rechten Seite stehen ebenfalls Wohnhäuser, doch die Hecke ist deutlich niedriger. Die Häuser auf der linken Seite sind neu, weiß oder geklinkert, die Häuser auf der rechten Seite sind beige oder mit der Zeit beige geworden, die Ritzen zwischen den Klinkern sind durch Schmutz verdunkelt. Später werde ich erfahren, dass Wittlaer der Stadtteil mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Düsseldorf ist. Hier allerdings merke ich wenig davon. Die Autos sind geradezu durchschnittlich bis auf einen obligatorischen Porsche. Beide Ortsschilder hängen schief und sind mit Aufklebern zugepappt.
Links und rechts der Straße verläuft ein Radweg, in exakten Abständen stehen hohe Bäume, unter anderem Ahorn, die Äste hängen über der Straße. Keiner der Leitpfosten am Straßenrand hält sich mehr senkrecht. Der Asphalt ist rissig, die Mittelstreifen sind verblasst. Erst ein paar Meter jenseits der Ortsschilder wird der Asphalt schlagartig besser, als hätte man die Grenze mit einem Lineal gezogen. Dort trägt nicht mehr die Stadt die Verantwortung für die Pflege der Bundesstraße. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass sich Düsseldorf nicht so wirklich für seine Ränder interessiert. Wann ist hier zuletzt ein Fahrzeug des städtischen Fuhrparks vorbeigekommen? Und warum ist es schon so viele Jahre her?
Morper Straße (Entfernung zum Rathaus: 8,1 Kilometer)
Ich schaue Richtung Schild und ich schaue Richtung Düsseldorf, doch eigentlich sehe ich weder das eine noch das andere. Das Ortsschild an der Morper Straße, die nach Gerresheim führt, ist beinahe vollständig zugewachsen von Dornengestrüpp. Der Aufgabe, auf die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hinzuweisen, kann es kaum nachkommen. Dafür aber ist darüber sichtbar das Schild für Höchstgeschwindigkeit 30 angebracht. Nicht, dass es hier jemanden interessiert. Auch von Düsseldorf sehe ich nichts, weil die Straße unter eine Eisenbahnbrücke abbiegt. Dahinter könnte auch einfach nichts sein, dabei beginnt gleich nach der Brücke die Gerresheimer Bebauung. Für eine schmale Landstraße, die Düsseldorf mit Erkrath verbindet, herrscht um 14 Uhr wahnsinnig viel Verkehr. Ich schaue nach links und sehe Weideland. Auf der Weide laufen Enten oder Gänse oder wasweißich für ein Geflügel herum. Eine Kuhherde liegt in der Sonne, ein paar Pferde stehen auch herum. Die Weide geht in eine bewaldete Hügelkette über. Die Düsselauen gehören allerdings schon zu Erkrath. Es wirkt ganz so, als ob hier ein Mittelgebirge ausläuft.
Ich bekomme das alles nicht in Einklang. Dieses Auenland zu meiner Linken und den unermüdlichen Straßenverkehr, die hässliche Eisenbahnbrücke und das Gestrüpp am Gehweg. Ist denn jeder Gehweg am Stadtrand dazu verdammt, von Wildwuchs bedrängt zu werden? Fußgänger begegnen mir nicht, nur ab und an ein Fahrradfahrer, der nach Gerresheim möchte. Der Weg ist hier schmal und mehrfach geflickt. Wie viele Radfahrer haben es sich wohl schon anders überlegt und sind nach der Brücke, dem abrupten Wechsel von Land zu Stadt, wieder umgedreht?
Baumberger Weg (Entfernung zum Rathaus: 12,3 Kilometer)
Urdenbach ist das Land, in dem sogar die Handwerker E-Bike fahren. Mag sein, dass ich am Baumberger Weg auch Autos sehe, aber vor allem sehe ich Räder. Es ist vermutlich der einzige Ort der Stadt, an dem sie in der Mehrheit sein könnten. Es kann gar nicht anders sein. Der Radweg ist immerhin halb so breit wie die Straße. Wo man hinschaut, grünt es in Form von Wiesen, Bäumen und Grünstreifen, die gepflegter wirken als anderswo in der Stadt, als würde sich die Dorfgemeinschaft noch selbst darum kümmern. Links geht’s ab in das Altrheinparadies und Naturschutzgebiet Urdenbacher Kämpe, rechts auch, zum Radfahren und Wandern. An einem Schild sind dermaßen viele Fahrrad-Routen-Wegweiser angebracht, dass man meinen könnte, es gäbe zwölf Himmelsrichtungen. Hier ist die Welt noch in Ordnung, zumindest macht sie diesen Eindruck. Die Straße führt über den Altrhein und dann ins Dorf. Von dem sieht man bloß ein paar Spitzdachhäuser, ein Banner, der ein Willkommen zum Erntedankfest ausspricht, und Schilder, die in Baumform an einem Holzkonstrukt hängen und auf die diversen Vereine und sonstigen Zusammenschließungen hinweisen. Eigentlich ist die ganze Ortseinfahrt ein stilles Willkommenskomitee. Während Lörick am Ortsschild dazu auffordert, es bitte schnell zu durchfahren, möchte man in Urdenbach unbedingt anhalten.
Die Frage, was Düsseldorf ist, stellt sich hier mit besonderem Nachdruck. Ein Urlaubsziel für den Feierabend nämlich auch. Die Verschiedenheit an den Rändern ist größer als im Zentrum der Stadt. Nur an den Rändern bekommen wir einen Eindruck davon, was Düsseldorf alles sein kann. Wer am Hauptbahnhof aussteigt, sieht bloß Beton und Ampeln. An den Rändern ist alles möglich. Düsseldorf müsste eigentlich Düsseldörfer heißen. Vielleicht ruht die Seele der Stadt nicht zwischen Bilk und Pempelfort, sondern an ihren Grenzen. Dort darf Düsseldorf sein, wie es sein möchte, dort soll man sowieso nur schnell durchfahren. Im Zentrum hingegen, wo die Stadt zu repräsentieren hat, muss Düsseldorf sein, wie es das Rathaus gerne hätte.
Burgunderstraße (Entfernung zum Rathaus: 6,9 Kilometer)
Es regnet nicht, es regnet ja nie, aber würde es hier und jetzt anfangen zu schütten, nicht ein Tropfen könnte versickern. Das Ortsschild an der Burgunderstraße gleich an der U-Bahn-Haltestelle Vogesenstraße muss eine der am stärksten versiegelten Stellen der Stadt sein. Hier, wo Neuss nahtlos in Heerdt übergeht, gibt es fast keine Bäume, keinen Grünstreifen, hier gibt es nur Bebauung. Mietshäuser, McDonald’s und sein in den Himmel ragendes Logo, ein Baukran und der Asphalt, über den ein Pkw, ein Lkw nach dem anderen fährt, bis sie nach wenigen Metern die erste rote Ampel der Stadt stoppt. Die Straße ist vierspurig, in der Mitte verlaufen zwei Gleise. Radfahrer:innen wagen sich kaum auf die schmalen Radwege. Es gibt hier keine Spaziergänger oder Wanderer, höchstens ab und zu einen Fußgänger. Während anderswo die Ränder der Stadt wirken, als wären sie vergessen worden, wollte hier jemand eine Menge Beton loswerden.
Die Burgunderstraße ist Urdenbach multipliziert mit minus eins. Wer an dieser Stelle in Düsseldorf eintrifft, muss die Stadt für einen der schlimmsten Orte Deutschlands halten. Die Seele von Düsseldorf, sie ruht hoffentlich nicht hier.