
Vallourec: Mitarbeitende sollen gehen, wollen aber nicht
Am Tor scheint alles normal. Man sieht einen gut gefüllten Parkplatz. Der Pförtner kommt ans Fenster auf der Beifahrerseite – und macht mir dann klar, was hier schon nicht mehr normal ist. „Wollen Sie zur Jobbörse?“, fragt er.
Bei Vallourec im Düsseldorfer Stadtteil Rath präsentieren sich an diesem Tag mehrere Dutzend Unternehmen, um die Mitarbeitenden des Röhrenwerks abzuwerben. An Stellwänden hängen Ausschreibungen von großen Konzernen wie der Telekom und der Bahn oder kleineren Firmen in Oberhausen oder Ludwigshafen. Und das alles auf ausdrücklichen Wunsch und mit voller Unterstützung des gastgebenden Unternehmens.
Die Jobbörse ist eines der letzten Kapitel in einer Geschichte, die vor mehr als 100 Jahren unter dem Namen Mannesmann begann. Der heutige Eigentümer Vallourec hatte im November 2021 erklärt, die Produktionsstätten in Düsseldorf und Mülheim zu verkaufen und sein Geschäft nach Brasilien zu verlegen. Die folgenden Angebote möglicher Käufer bezeichnete der Vorstand als „enttäuschend“, im Mai 2022 verkündete er deshalb die Schließung der beiden Werke bis Ende 2023.
Am 1. Januar haben die letzten Monate begonnen, in denen in Rath und Mülheim noch produziert wird. Aktuell geschieht dies noch in großen Mengen, die Veränderungen werden nun aber immer sichtbarer. „Es wird ein sehr emotionales Jahr“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Vilson Gegic, als ich ihn in Rath besuche. „Die ersten verabschieden sich jetzt.“
Mitte November haben die Vertreter:innen der Belegschaft und die Konzernspitze in Paris einen Interessenausgleich unterschrieben. Diese Vereinbarung regelt, wie das Jahr 2023 läuft und wann er ausscheiden wird beziehungsweise soll. An dieser Stelle zeigt sich, warum Vilson Gegic von einem emotionalen Jahr spricht. Viele der Mitarbeitenden klammern sich trotz des sicheren Endes an den gewohnten Job. Zwei Zahlen belegen das: Im Zuge eines Freiwilligen-Programms könnten 500 Beschäftigte das Unternehmen bis Frühjahr verlassen. Beworben haben sich bis Ende Januar aber nur 220, rund 150 davon aus Rath. Für die Abwicklung nach Ende der Produktion im Jahr 2024 werden 300 Menschen gebraucht. Für diese Jobs liegen laut Betriebsrat fast doppelt so viele Bewerbungen vor.
Wie läuft das Freiwilligen-Programm ab?
Ab sofort können Mitarbeitende sich bewerben, das Unternehmen ab dem 1. April zu verlassen. Das machen vor allem diejenigen, die erfolgreich eine neue Stelle gesucht haben. Die Vallourec-Zentrale in Frankreich rechnet (im Wortsinn) mit 500 Abgängen. Diese Kalkulation geht bisher nicht auf. Auch deshalb gibt es nun Jobbörsen, eine interne Recruiting-Kampagne mit dem Stahlkonzern Thyssenkrupp und Vertreter:innen der Agentur für Arbeit in Rath und Mülheim, die sich ausschließlich um die Vermittlung von Vallourec-Beschäftigten kümmern. Sie bieten Trainings für Vorstellungsgespräche an und helfen, die Bewerbungsunterlagen zusammenzustellen.
Selbst wenn die Zahl der Bewerbungen fürs Freiwilligen-Programm nun steigt, heißt es nicht, dass jede und jeder gehen kann. Es gibt für jede Abteilung sogenannte Run-down-Pläne. Darin steht, wie viele Menschen mit welcher Qualifikation die momentanen Schichten bestreiten und wie viele es nach dem ersten Stellenabbau noch sein müssen. Ein Beispiel: In einer Tätigkeit sind aktuell 87 Personen in drei Schichten im Einsatz. Nach dem 1. April werden es noch zwei Schichten und 68 Personen sein. Der Plan sieht genau vor, welche Qualifikationen unter diesen 68 benötigt werden.
Der Betriebsrat hat diese Zahlen ausgehandelt, damit die verbleibenden Mitarbeitenden nicht plötzlich mit zu wenigen Kolleg:innen dastehen und überlastet sind. Bewerbungen fürs Freiwilligenprogramm sind also erfolgreich, wenn sichergestellt ist, dass alle Qualifikationen in Bereich noch vertreten sind. Aus diesem Grund kann laut Betriebsrat etwa 50 der rund 220 Bewerbungen fürs Freiwilligenprogramm im Moment nicht zugestimmt werden.

Wann wird den Mitarbeitenden gekündigt?
Anfang Mai beginnt die zweite Phase des letzten Jahres. Da die maximale Kündigungszeit sieben Monate beträgt, verschickt Vallourec dann betriebsbedingte Kündigungen. Voraussichtlich werden rund 1200 Menschen diese bittere Post erhalten.
Die Unternehmensführung wird sich auch in dieser Zeit weiter spürbar bemühen, neue Jobs für die Beschäftigten zu finden. Denn die Kündigungen alleine erfüllen nicht den eigentlichen Plan von Vallourec. Wer keinen neuen Job findet, hat Anspruch darauf, 2024 in die Transfergesellschaft aufgenommen zu werden. Das bedeutet, dass Vallourec ein weiteres Jahr Gehalt zahlen muss. Die Franzosen möchten die Zahl der Menschen auf ihrer Gehaltsliste so niedrig wie möglich halten.
In der zweiten Hälfte dieses Jahres wird die Veränderung dann auch sichtbarer sein. Es wird weniger produziert und auf dem Parkplatz werden weniger Autos stehen.
Was geschieht nach dem Ende der Produktion?
Auch wenn nicht mehr gewalzt wird, ist noch einiges zu tun in Rath und Mülheim. Die bestellten Rohre werden nicht alle bis zum 31. Dezember abgeholt und ausgeliefert sein. Deshalb wird es unter anderem Menschen geben, die sich um das Verladen der noch vorhandenen Waren kümmern. Die übrigen der voraussichtlich rund 300 Beschäftigten kümmern sich darum, Maschinen abzubauen und das Grundstück so freizumachen, dass es übergeben werden kann. Ein Teil bis Ende Juni 2024, die übrigen bis Ende Dezember.
Diejenigen, die nicht zu den 300 zählen und die noch keine neue Stelle gefunden haben, wechseln zum 1. Januar für bis zu zwölf Monate in die Transfergesellschaft. Das ist ein theoretisches Gebilde mit praktischer Ausformung. Die Beschäftigten fahren nicht mehr jeden Tag in den Betrieb. Die Transfergesellschaft hat aber Büros, in denen zum Beispiel Einzel- und Gruppengespräche stattfinden, die für Weiterbildungen oder Bewerbungen benötigt werden. Die Büros werden an Punkten eröffnet, die möglichst nah an den Wohnorten der meisten Beschäftigten der Transfergesellschaft liegen.
Wie passiert mit dem 90-Hektar-Grundstück in Rath?
In diesem Punkt stoßen die Interessen von Konzern und Stadt aufeinander. Vallourec hat für den Verkauf des Areals eine Einnahme vorgesehen, die Sozialplan und Sozialtarifvertrag finanzieren soll, also Abfindungen und die Beschäftigung in der Transfergesellschaft. Folglich möchte das Unternehmen einen möglichst hohen Verkaufspreis erzielen. Das Problem: Die Quadratmeterpreise für Industriegebiete sind niedriger als für Gewerbe-, Wohn- oder Mischgebiete.
Die Stadt möchte in Rath aber ein Industriegebiet bewahren. Dies hat der Rat deutlich geäußert, auch um ein Zeichen der Solidarität mit den Beschäftigten zu setzen. Am Standort soll es weiter Industrie-Arbeitsplätze geben. Düsseldorf hat auf dem Gelände der früheren Glashütte in Gerresheim erlebt, wie ein Grundstück, das fürs Wohnen freigegeben wurde, Gegenstand von Bodenspekulationen wurde und nicht gebaut wurde. Das soll sich nicht wiederholen, deshalb beharren die Politiker:innen auf ein Industriegebiet zwischen Theodorstraße und Rather Kreuzweg. Im Zweifel will die Stadt das Gelände kaufen.
Bisher hat sich kein Käufer gefunden. Dass nun noch jemand auftaucht, gilt als unwahrscheinlich. Dass Vallourec zum Preis eines Industriegebiets an die Stadt verkauft, ist nach betriebswirtschaftlicher Logik auch nicht zwingend zu erwarten. Nur weil die Stadt ein Vorkaufsrecht besitzt, heißt dies nicht, dass Vallourec darauf auch eingeht. Das Unternehmen könnte damit drohen, das Areal brach liegen zu lassen. Dann wird es für die Stadt schwierig, die bisherige Verhandlungsposition zu halten. Sie wird sich bewegen müssen und mindestens in Teilen Gewerbe und/oder Wohnen zulassen.
Es werden also wohl auch nach dem Ende von Jobbörsen, Produktion und Abwicklung noch Menschen an der Schranke am Rather Kreuzweg vorfahren.

Weiterführende Links
Über die zentralen Punkte der Verhandlungen rund um Vallourec habe ich hier berichtet.
Über die Geschichte, die mit der Schließung endet, hat mein Kollege Hans Onkelbach hier geschrieben.