Theater mit Straßenbahn gegen das Vergessen

Eine von den alten, cremefarbenen Straßenbahnen mit den dunkelgrünen Sitzen ruckelt durch Düsseldorf. Drinnen sitzen Menschen mit Kopfhörern und ernsten, konzentrierten Mienen. Sie lauschen der Stimme von Valentina aus der Ukraine. Valentina erzählt vom Kriegsbeginn, wie sie sich im Keller versteckt, weil die Soldaten einfach in die Häuser hineinbrechen, alles nehmen, was sie zwischen die Finger bekommen, besonders junge Frauen und Mädchen. Eigentlich wollte Valentina Ärztin werden, aber daran ist jetzt nicht mehr zu denken, denn es herrscht Krieg. Es ist nicht das Jahr 2022, sondern 1941.
So beginnt das Stück „Endstation fern von hier“ des Theaterkollektivs Pierre.Vèrs, das am Mittwoch beim des Asphalt Festival uraufgeführt wurde. Es bildet den vierten und letzten Teil des „Historification“-Zyklus, mit dem die Gruppe Spuren der NS-Vergangenheit in Düsseldorf sichtbar macht. Angefangen hat alles 2019 mit „Schwarz-helle Nacht“ einer Zeitreise zur Reichspogromnacht 1938. Ein Jahr später folgte „Aktion:Aktion!“ über eine Widerstandsgruppe, die in den letzten Tagen des Krieges in Düsseldorf die „Aktion Rheinland“ gestartet hat, um den Amerikanern die Stadt kampflos zu übergeben. Im vergangenen Jahr ging es mit dem Stück „Im Process“ ins Jahr 1975, als in Düsseldorf der Majdanek-Prozess gegen 15 SS-Männer und KZ-Aufseherinnen des Lagers Lublin/Majdanek begann. „Endstation fern von hier“ widmet sich einem bisher wenig erinnerten Aspekt der NS-Geschichte: den mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen, die aus verschiedenen Teilen Europas ins Deutsche Reich deportiert wurden, um die deutsche Wirtschaft am Laufen zu halten, die ohne sie zusammengebrochen wäre. Valentina, eine junge Ukrainerin, ist eine davon.
Für mich ist die Reihe auch eine persönliche Reise: Beim ersten Stück war ich als Regieassistenz dabei, das zweite und dritte Stück habe ich als Zuschauerin gesehen und jetzt, beim Vierten, war ich als Journalistin da und schreibe darüber. Seit meiner Mitarbeit bei „Schwarz-helle Nacht“ verfolge ich die Arbeit des Kollektivs aufmerksam und bin immer wieder fasziniert und berührt davon, wie sie die NS-Vergangenheit Düsseldorfs in die Stadt von heute bringen. Vor meiner Arbeit dort war mir das Denkmal für die zerstörte Synagoge an der Kasernenstraße zum Beispiel nie richtig aufgefallen. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wie präsent jüdisches Leben damals im Stadtbild gewesen sein muss und was ab 1938 alles zerstört wurde. Mir war auch nicht bewusst, wie sichtbar die Reichspogromnacht für die Bevölkerung war, als beispielsweise an der Hüttenstraße unzählige Wohnungen geplündert wurden, Möbel in Trümmerhaufen auf dem Bürgersteig lagen.
In den Stücken geht es aber nie um ein bloßes „Geschichte-lebendig-machen“, indem eine vollständige Illusion der Vergangenheit erzeugt wird, die droht, in Kitsch abzurutschen. Stattdessen wird mit einem dokumentarischen Blick auf die Vergangenheit geschaut. Das Jetzt ist immer präsent – im Stadtraum, in dem Bezüge zur Gegenwart hergestellt werden und die historischen Quellen sichtbar bleiben. Damit zeigen die Stücke auch, dass Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken immer nur aus der Gegenwart heraus betrachtet werden können.
Im Gegensatz zu den vorherigen Stücken zeichnet sich das aktuelle durch eine spärliche Quellenlage aus. Wenige Betroffene haben sich über ihre Zeit als Zwangsarbeiter:innen geäußert, auch im kollektiven Bewusstsein waren und sind sie wenig präsent. Und das, obwohl das Unrecht für alle sichtbar gewesen sein muss. Neben Valentina, der Protagonistin des Stücks, die 1942 als Siebzehnjährige nach Deutschland deportiert wird, kommen Jan aus Holland und Stipian aus Polen zu Wort. Die anonyme Masse der übrigen Zwangsarbeiter:innen aus Ländern wie Litauen, Belarus, Frankreich und Italien wird durch einen Chor repräsentiert, dessen Körper und Stimmen zwischen den Protagonist:innen und Aufseher:innen herumschwärmen. Dieser Anonymität stehen bekannte Namen von Unternehmen und Institutionen gegenüber, die Zwangsarbeiter:innen eingesetzt haben: Henkel, Mannesmann, Rheinbahn, die Evangelische Kirche, Rheinmetall. Valentina muss in Düsseldorf für die Duewag arbeiten, die in Lierenfeld Straßenbahnen produziert. Deshalb startet das Stück in einer alten Straßenbahn, die vom Stadtarchiv am Hauptbahnhof zum alten Rheinbahn-Depot Am Steinberg fährt, wo der Großteil der Aufführung stattfindet.
Das Stück fügt sich gut in den Zyklus ein und bildet einen gelungenen Abschluss. Mit den historischen Quellen und Berichten als Basis, der Tonübertragung über Kopfhörer, dem Chor und den öffentlichen Orten und Originalschauplätzen als Spielstätten ist das Kollektiv seinem Stil treu geblieben. Die Aufführung im öffentlichen Raum wie bei den ersten beiden Stücken lässt einen unweigerlich wundern, wie sichtbar die Verbrechen damals waren und wer wieviel wissen konnte. Gleichzeitig sieht man die Stadt von heute, in der die Ereignisse mal mehr, mal weniger oder sogar gar nicht mehr sichtbar sind.
„Im Process“ über den Majdanek-Prozess in Düsseldorf fällt in dieser Hinsicht ein bisschen aus der Reihe, da das Stück in der Berger Kirche mit fester Bühne inszeniert wurde. Trotzdem war der Gegenwartsbezug auch dort vorhanden, da die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit immer noch, wenn auch immer seltener, diskutiert wird.
„Endstation fern von hier“ fügt dem Zyklus eine weitere Opfergruppe hinzu und bringt einen weiteren Aspekt von gesellschaftlicher Erinnerungskultur ins Spiel. Die Geschichte der Zwangsarbeit in der NS-Zeit wurde lange vernachlässigt, was auch die späte Entschädigung ab 2001 zeigt. Damit drängen sich wichtige, aber auch schwierige Fragen auf: Was hat Platz in unserer Erinnerungskultur und was nicht? Wie schafft man es, verschiedenes Unrecht nebeneinander zu zeigen, ohne das Leid zu hierarchisieren oder Dinge zu verharmlosen? Wie lässt sich solcher Themen gemeinsam gedenken und nicht in Konkurrenz zueinander? Der „Historification“-Zyklus des Theaterkollektivs Pièrre.Vers ist eine erste Antwort darauf.
Leider sind alle Vorstellungen von „Endstation fern von hier“ beim Asphalt Festival bereits ausverkauft. Im November wird das Stück beim Düsseldorf Festival aufgeführt. Karten gibt es hier. Auch „Aktion:Aktion!“ kann man im Herbst noch einmal sehen. Für „Im Process“ müssen Interessierte nach Hamburg fahren. Dort wird das Stück drei Mal gespielt.
Auch nach Abschluss der Reihe wird es weitere Stücke des Kollektivs geben. Zusammen mit sieben anderen Gruppen hat es die Spitzenförderung des Landes für die kommenden drei Jahre bekommen. Geplant sind Stücke zu rechter Gewalt und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der jüngeren Geschichte der Stadt und der Bundesrepublik.