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Landwirt Wilhelm Andree Senior
Wie aus einer vergangenen Zeit, aber sehr real: Wilhelm Andree in seinem Büro im Großmarkt. Foto: Andreas Endermann

Wilhelm Andree und sein Kampf um den Großmarkt

Der 88-jährige Landwirt aus Hamm ist seit Jahrzehnten jede Nacht dort und will nicht akzeptieren, dass man den Handelsplatz an der Ulmenstraße schließt. Eine bessere Versorgung der Menschen gebe es nicht. Aber die Stadt bleibt hart: Die Hallen sollen weg, das Gelände anders genutzt werden.

Veröffentlicht am 7. September 2023

Um 8 Uhr morgens wird auf dem Gelände des Düsseldorfer Großmarkts bereits aufgeräumt. Gabelstapler mit Kisten und Körben voller Obst und Gemüse fahren hin und her, zwischendrin holen die letzten Großkunden ihre Bestellungen. In Halle acht gehen sie dafür zu Wilhelm Andree. Die Luft ist klar und frisch, es riecht leicht süßlich, insbesondere Trauben und Tomaten verströmen ihr Aroma. Stolz sitzt der Landwirt im Bürostuhl an seinem hölzernen Schreibtisch im holzvertäfelten Büro. Hier riecht es eher nach Papier und Kaffee. Hinter ihm hängen viele Fotos von seiner Familie, Freunden, Kunden, von seinem Hof. Konzentriert beugt er sich über Rechnungen, unterschreibt sie, prüft Geldscheine auf Fälschungen. Dazu benutzt er eine kleine Maschine. Sollte Falschgeld dabei sein, würde sie piepen. Hat sie bisher aber nie.

Einen Computer sucht man bei Wilhelm Andree vergebens. Er macht alles noch analog, Lieferscheine, Rechnungen, alles ist noch auf Papier. Seine Kollegen, ja, die nutzen diese „neue Technik“, aber „für mich ist das nichts“, sagt er.

Müdigkeit ist im Gesicht des 88-jährigen Landwirts aus Düsseldorf-Hamm nicht zu erkennen. Sein kariertes Hemd ist nicht zerknittert, die Hosenträger sitzen immer noch da, wo sie sein sollten, seine weißen Haare liegen ordentlich, der Blick hinter den Brillengläsern ist wach und aufmerksam. Dabei ist er um diese Uhrzeit bereits seit acht Stunden bei der Arbeit. Während andere um diese Tageszeit in den Beruf starten, hat er bald Feierabend. Sein Arbeitstag – oder seine Arbeitsnacht, wie er selbst sagt – beginnt gegen Mitternacht. Dann fährt er zum Großmarkt und verkauft seine Produkte. Er beaufsichtigt die Sortierung der Bestellungen, koordiniert seine 14 Mitarbeiter, verwaltet die Kasse. Und hat dabei immer ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.

Landwirt Wilhelm Andree Senior
Und für treue Kunden und Mitarbeiter gibt es einen Schokoriegel. Foto: Andreas Endermann

Seine Kunden sind unter anderem Gastronomen und Marktverkäufer aus der Region, wie Theo, Markthändler aus Oberkassel. Er hat Obst und Gemüse gekauft und bringt seinen Lieferschein zur Unterschrift in das kleine Büro. „Theo, wie isset?“, fragt Wilhelm Andree. Viele seiner Kunden kennt er seit Jahrzehnten, private Gespräche gehören bei ihm immer dazu, ebenso Zuspruch, wenn er nötig ist. Nachdem Theo bezahlt hat, dreht er sich um und geht zurück in die Lagerhalle. „Theo, komm ma‘ wieder rein!“, ruft Wilhelm Andree. Er greift in eine Schublade seines Schreibtisches und holt einen Schokoriegel heraus. „Hasse von mir schon wat Süßes jekrischt?“, grinst er und reicht das kleine Päckchen an seinen Kunden weiter.

Es ist seine Art, die seine Beziehung zu den Kunden festigt, seine gute Laune und sein Herz, das er am rechten Fleck trägt. Auf der anderen Seite sind da seine Produkte, alle aromatisch, alle frisch auf seinem Hof in Hamm gezogen.

Landwirt Wilhelm Andree Senior
Wilhelm Andree ist kein Freund digitaler Technik. Bei ihm läuft noch alles per Papier. Foto: Andreas Endermann

„60 bis 70 Prozent der Ware, die wir hier verkaufen, stammen aus Eigenproduktion“, erklärt der 88-Jährige. Spezialisiert hat er sich – wie seine Vorfahren – auf Salat und Gemüse. Nur bei den Tomaten kann er nicht mehr mithalten: „Die aus Holland sind einfach zu schnell in der Produktion.“ Auch Obst kauft er an, um es seinen Kunden auf dem Großmarkt anzubieten. Mittlerweile ist er seit 75 Jahren im Geschäft und hat jede Veränderung des Großmarkts mitgemacht: Während er früher in Halle 14 verkaufte, musste er vor acht Jahren aufgrund von Umbauten in Halle 8 umziehen. Ein Teil wurde saniert, andere abgerissen, neue Firmen siedelten sich an. Doch Andree blieb. Mittlerweile ist er der älteste Verkäufer auf dem Gelände.

Im Gespräch mit ihm wird schnell klar: Andree ist ein gewachsener, lebendiger Teil des Großmarkts. Ein Leben ohne die „heiligen Hallen“ kann er sich nicht vorstellen. „Als ich drei oder vier Jahre alt war, war ich das erste Mal hier“, erzählt er. „Ich habe meinen Vater begleitet, der hier ebenfalls verkauft hat.“ Schon als Jugendlicher tritt er in seine Fußstapfen, leitet den Hof nach dessen Tod weiter und verkauft seine Produkte auf dem Großmarkt. Seitdem weiß er: Seine Arbeit ist nicht nur irgendein Beruf. Sie ist Berufung. Die Verbindung zu den großen Hallen ist so intensiv, dass er sogar seinen 80. Geburtstag dort feierte. „Wir haben ein Buffet aufgebaut, es gab warmes Essen, Kuchen, Musik und Tanz, das war ein Fest! Es ging so lange, dass die ersten Kunden von mir auch mitfeiern konnten!“, schwärmt er. Seine Augen leuchten, wenn er Geschichten des Großmarkts erzählt. Und die Lachfältchen um seine Augen werden dann noch etwas tiefer. 

Großmarkt Düsseldorf
Massenhaft Obst auf Paletten – der normale Anblick im Großmarkt. Foto: Andreas Endermann

Dass sein Sohn Willi ebenfalls Landwirt geworden ist, macht ihn stolz. „Willi ist mein Prinz. Wir sind im stetigen Austausch, was unsere Höfe angeht.“ Auch die drei Enkelkinder des Seniors zeigen Interesse an der Landwirtschaft.

Um sein Erbe muss sich Wilhelm Andree also eher weniger Sorgen machen. Was ihm jedoch am Herzen liegt, ist die Zukunft des Großmarktes. Denn die Stadt Düsseldorf hat am 1. Juli 2021 beschlossen, das Gelände des Marktes zu planieren, um dort neue Flächen für eine gewerbliche Nutzung zu schaffen. Eine Ausweichmöglichkeit für den Großmarkt soll es nicht geben: Der Großmarkt Düsseldorf soll Ende 2024 aufgelöst werden. Eine Entscheidung, die Wilhelm Andree nicht nachvollziehen kann. „Im Raum Düsseldorf und der Stadt selbst wollen etwa eine Million Menschen essen. Sie wollen frische und qualitativ hochwertige Produkte bekommen, regional essen und Nachhaltigkeit ist doch jetzt eh im Trend. Wie soll das gehen, wenn wir, die Landwirte, unsere frischen Produkte nicht mehr anbieten können?“

Er fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. „Alle reden immer von der Nachhaltigkeit, aber niemand über die Landwirtschaft“, sagt er. „Dabei wird hier bei uns beides angeboten. Nirgendwo kannst Du regionaler und frischer einkaufen als bei den Bauern aus der Nachbarschaft.“ Die Stadt Düsseldorf schlägt vor, dass die derzeitigen Kunden des Großmarkts die Betriebe selbst anfahren. Dazu würden dann auch Fahrten in die Niederlande gehören: „Das ist wirklich total an der heutigen Zeit vorbei!“, sagt Wilhelm Andree. „Es ist viel Zeit- und emissionssparender, wenn wir eine große Menge Lebensmittel importieren und gesammelt an einem Ort anbieten, als dass jeder einzeln losfahren muss. Außerdem: Wer soll das alles bezahlen?!“ Über die Pläne der Stadt kann er nur den Kopf schütteln.

Auch die Industrie- und Handelskammer Düsseldorf kann den Entschluss der Stadt nicht nachvollziehen: „Der Stadtrat hat die Auflösung des Großmarktgeländes für Obst, Gemüse und Lebensmittel an der Ulmenstraße beschlossen. Damit bricht für zahlreiche Marktbeschicker und Gastronomen eine wichtige Bezugsquelle weg; für die Markthändler gar die Existenzgrundlage. Unter Umständen weichen die bisherigen Einkäufer künftig auf alternative Optionen im Umland oder den Niederlanden aus. Das widerspricht dem Gedanken einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Daher plädiert die Wirtschaft dafür, eine geeignete Fläche im Stadtgebiet zu suchen, um einem modern ausgerichteten und gestalteten Großmarkt Platz zu bieten.“

Landwirt Wilhelm Andree Senior
Immer in Bewegung. Ware kommt, Ware geht. Foto: Andreas Endermann

Ein Teil der Großhändler hat sich sogar zusammengetan und gegen den Entschluss der Stadt geklagt, wünschte wenigstens eine Ausweichfläche – jedoch ohne Ergebnis. Düsseldorf bleibt bei seiner Entscheidung.

Aufgeben wird Wilhelm Andree jedoch nicht. Er sammelte bereits 2000 Unterschriften gegen die Schließung, schrieb und verteilte mehrere Flyer, in denen er die Vorteile eines Großmarkts in der Stadt aufzählt und suchte mehrmals Kontakt zum Oberbürgermeister. „Herr Geisel hat sich früher sogar den Großmarkt angeguckt, ich habe ihm alles gezeigt und er fand es großartig“, erzählt Wilhelm Andree. Dass dessen Nachfolger Dr. Stephan Keller nun die Schließung des Großmarktes umsetzen lässt, schmerzt den Landwirt sehr. „Die Politik ist schuld, dass es der Landwirtschaft schlechter geht. Denn sie nimmt ihr die Chance zu wachsen“, sagt er.

Sein Kampfgeist ist dennoch ungebrochen.  „Die Schließung des Großmarktes erfolgt nur über meine Leiche!“, droht er schmunzelnd. Ein mutiger Spruch – er überlebte bereits zwei Herzinfarkte und einen Schlaganfall, trägt einen Herzschrittmacher und hat Diabetes. Trotzdem sitzt er jede Nacht in Halle 8. Wilhelm Andree ist also zäh und definitiv bereit, weiterzukämpfen – damit sein geliebter Großmarkt bleibt und weiteren Generationen nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch eine Art Zuhause bietet.

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Weitere Fotos aus dem Großmarkt von Andreas Endermann

Grossmarkt Duesseldorf
Die Einfahrt zum Großmarkt Düsseldorf an der Ulmenstraße. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Die Hauptbetriebszeit ist nachts. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Halle 8 des Großmarkts. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Ein Kunde hat seine Auswahl getroffen. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Die Kühlkammer. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Die Ware geht frisch an die Kunden. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Die Schaltzentrale von Wilhelm Andree. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Seit mehreren Generationen betreibt Familie Andree Landwirtschaft in Hamm. Foto: Andreas Endermann
Landwirt Wilhelm Andree Senior
Wilhelm Andree und sein Lächeln. Foto: Andreas Endermann

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