Diese Karte zeigt den Verlauf der Benrather Linie. Abbildung: Greven Verlag/LVR
Diese Karte zeigt den Verlauf der Benrather Linie in Düsseldorf. Abbildung: Greven Verlag/LVR

Wo der Dialekt an seine Grenze stößt

Die Benrather Linie ist weltberühmt - unter Germanisten. Sie verläuft quer durch Deutschland, in Düsseldorf separiert sie sprachlich den äußeren Süden vom Rest der Stadt. Sebastian Brück ist ihr mit dem Fahrrad gefolgt und erklärt uns, wo man maken sagt und wo es machen heißt.
Veröffentlicht am 25. Juni 2021

Letztens hat mein bester Freund P. mit der Benrather Freundin eines Benrather Freundes geredet, und diese schlug ihm als Thema für die Kolumne die Benrather Linie vor. Die Benrather Linie sei in der Germanistik und Niederlandistik das, was die Düsseldorfer Bands Kraftwerk und NEU! in der Popkultur seien: weltberühmt und wegweisend. Insofern könne diese Dialektgrenze natürlich nicht nur einen deutschen, sondern auch einen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag vorweisen („the Benrath Line“). Von der Stadt Eupen im deutschsprachigen Teil Belgiens verlaufe sie durch das deutsch-niederländische Grenzgebiet und das Rheinland über das Bergische Land und das Sauerland, Kassel und Wittenberg passierend, nach Berlin und schließlich bis zur polnischen Grenze. Nur wisse das in Düsseldorf eben kaum einer, und in Benrath wüssten es wohl in erster Linie die Mitglieder des örtlichen Heimatvereins …

Eine private Schnellumfrage (auch ein gebürtiger Benrather war darunter) ergab tatsächlich unisono: nie gehört. Außer bei den Lehrern: Die schossen auf „Kennst du die Benrather Linie?“ umgehend und fast dankbar mit Fachwörtern wie „zweite Lautverschiebung“ und „Isoglossenbündel“ (Definition siehe unten) zurück. Und weil Lehrerinnen wie Lehrer auch Erwachsenen gerne etwas beibringen, wissen wir nun, dass jeder Germanistikstudent zwischen Oslo und Auckland früher oder später die Benrather Linie kennenlernt. Im Grund genommen geht es darum, wie man was im Dialekt ausspricht. Es handelt sich also anders als bei Stadt- oder Staatsgrenzen um eine gedachte, fließende, nicht um eine starre Linie. Kurzum: um jenen Bereich, wo ein Dialektraum in den anderen übergeht.

Unsere Mission für den heutigen Tag ist definiert: Den Ruhm der Benrather Linie mehren, damit sie auch außerhalb von Insider-Kreisen die verdiente Aufmerksamkeit erhält – durch eine Fahrradtour auf sprachwissenschaftlichen Spuren. Als offiziellen Startpunkt haben wir den Wanderparkplatz Am Schönenkamp an der Stadtgrenze von Düsseldorf zu Hilden angesteuert. Wobei wir „offiziell“ besser in Anführungsstriche setzen sollten, denn die Routenplanung gestaltet sich weniger eindeutig als erwartet. Zwar kennen wir durch das Buch „Düsseldorfisch – eine Stadt und ihre Sprache“ von Georg Cornelissen den genauen Verlauf der Benrather Linie auf Düsseldorfer Gebiet, und der besagt: Im Norden ist sie identisch mit der Ortsgrenze Benraths. Allerdings beziehen sich die Angaben auf das Ende des 19. Jahrhunderts, wo Stadt und Land dünner besiedelt waren, mit viel Freifläche zwischen den heute oft zusammengewachsenen Vierteln.

„Du musst am Anfang des Textes genau erklären, wie die Benrather Linie entstanden ist“, sagt mein bester Freund P., als wir losfahren. Also noch einmal: Wir haben es hier mit einer Grenze zwischen einerseits dem Hochdeutschen und den mitteldeutschen Mundarten im Norden und andererseits dem Niederdeutschen und Niederfränkischem im Süden zu tun. Am besten illustriert man das am „Künstlernamen“ der Benrather Linie: Sie wird auch „maken-machen-Linie“ genannt. Nördlich von ihr wird im Dialekt (ebenso wie im Standarddeutsch) das Verb „maken“ genutzt, während südlich der Linie im Dialekt „machen“ dominiert. Die Geschwister und Cousins der maken-machen-Linie sind zum Beispiel die ik-ich-Linie (auch Uerdinger Linie genannt), die dat-das-Linie und die hebben-haben-Linie. In Düsseldorf liegen Benrath und Urdenbach sowie die zur Zeit der Erhebung noch nicht existenten Stadteile Garath und Hellerhof südlich der maken-machen-Linie, alle anderen liegen nördlich von ihr.

Doch warum ist ausgerechnet Benrath der Namenspate für diese so wichtige Mundart-Grenze? Ihr Vater, Georg Wenker (1852-1911), war ein gebürtiger Düsseldorfer, und er begann seine Dialektforschung mit gerade mal 24 Jahren in und um seine Heimatstadt. Und dabei ergab sich, dass die Linie bei Benrath auf den Rhein trifft. Ein Glück, denn im Prinzip hätte die Benrather Linie genauso gut Gummersbacher Linie oder Wittenberger Linie genannt werden können. Wenker arbeitete in den 1870er und 1880er Jahren mit standardisierten Fragebögen, die er an Schulen und Lehrer verschickte – zunächst in der Rheinprovinz, später in weiteren Gebieten im Deutschen Kaiserreich. Als Datengrundlage für die Benrather Linie und seinen „Sprachatlas des deutschen Reichs“ erhielt er im Laufe der Jahre einen Rücklauf von mehr als 44.000 „Wenkerbögen“. Auf diesen waren jeweils drei bis vier Dutzend Mustersätze auf Hochdeutsch verzeichnet, die wiederum in den jeweiligen lokalen Dialekt „übersetzt“ werden sollten. Dazu später mehr.

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Startpunkt der Tour entlang der Benrather Linie: der Wald an der Stadtgrenze von Düsseldorf und Hilden. Foto: Sebastian Brück

Wir fahren erst mal los, vom nördlichsten Punkt Benraths aus durch den Benrather Wald, ein bisschen Zick und ein bisschen Zack, sodass wir kurz darauf an der ausgesprochen geraden Forststraße landen, der heutigen Nordgrenze Benraths (zumindest, wenn man Google Maps glaubt). Da, wo die Forststraße auf die Münchener Straße trifft, nehmen wir den Fahrradweg in Richtung Zentrum, bleiben also jenseits der Benrather Grenze, die für gut einen Kilometer entlang der ebenfalls geraden Schnellstraße verläuft. Wobei diese Aussage eigentlich Quatsch ist, denn erstens verlief die alte Grenze Benraths nicht schnurgerade, und zweitens haben wir es wie gesagt mit einer gedachten Linie zu tun. Unsere Fahrradtour ist also ohnehin ein Experiment mit Augenzwinkern. Mein bester Freund P. erklärt das so: „Nicht, dass jemand denkt, bei Edeka Zurheide, also knapp nördlich der Benrather Linie würden Dialektsprecher automatisch maken sagen und 500 Meter weiter am Schloss-Gymnasium, also knapp südlich der Linie, machen.“

Über die Paul-Thomas-Straße folgen wir der Benrather Stadtteilgrenze Richtung Rhein – und erreichen da, wo die Bonner Straße in die Benrather Schlossallee übergeht, einen entscheidenden Punkt unserer Tour: Flankiert von den Straßenbahngleisen trifft die Benrather Linie auf Höhe der Seitenstraße „Schöne Aussicht“ auf den Rhein. Allerdings überquert sie ihn nicht, das kommt später. Vielmehr verläuft sie von hier aus stromabwärts genau in der Mitte des Flusses. Der Sprachwissenschaftler Georg Cornelissen plädiert in seinem Buch „Düsseldorfisch“ dafür, die Benrather Linie an dieser Stelle mit einem Grenzstein, einer Stele oder einem anderen Erinnerungszeichen zu markieren. Mein bester Freund P. findet diese Idee hervorragend, und weil es gerade passt, zitiert er einen der Mustersätze aus den Wenkerbögen, den er auswendig gelernt hat: Euer Hund hat uns das Fleisch aufgefressen. Im Dialekt nördlich der Benrather Linie wird daraus (in diesem Fall Kaiserswerth): Öre Honk hätt ons et Flesch opgefrete. Südlich der Benrather Linie heißt es wiederum: Öre Honk hätt et Fleesch obfrässe (in diesem Fall Stürzelberg).

Auf Höhe der Seitenstraße „Schöne Aussicht“ trifft die Benrather Linie auf den Rhein. Foto: Sebastian Brück
Auf Höhe der Seitenstraße „Schöne Aussicht“ trifft die Benrather Linie auf den Rhein und verläuft fortan bis Volmerswerth in der Flussmitte. Foto: Sebastian Brück

Da wir gerade kein Boot zur Verfügung haben, radeln wir weiter, versuchen die Benrather Linie zu begleiten. Das funktioniert im Bereich des Reisholzer Hafens und am Himmelgeister Rheinbogen nur bedingt, weil das Ufer oft nicht oder nur schwer zugänglich ist. Am wiederum sehr gut zugänglichen Rheinufer der Straße Alt-Himmelgeist, wo früher eine Autofähre den Düsseldorfer Stadtteil mit dem zum Kreis Neuss gehörenden Uedesheim verband, erkennen wir einen weiteren potenziellen Standort für eine Infotafel. Denn hier fällt der Blick über den nahen und doch fernen, da nur über die Fleher Brücke erreichbaren Nachbarort quer über den Rhein – und die maken-machen-Linie liegt genau dazwischen.

Vorbei am Wasserwerk Flehe und der Fleher Brücke erreichen wir schließlich das Ziel unserer Benrather-Linie-Tour. Volmerswerth. Genauer gesagt: Den kleinen Sporthafen am Ortsrand, wo der Volmerswerther Deich den Namen wechselt und im weiteren Verlauf als Hammer Deich firmiert. Von der Flussmitte aus geht die Benrather Linie hier am gegenüberliegenden Ufer an Land. Entlang des Ortsrands von Neuss-Grimlinghausen verläuft sie im Westen weiter Richtung Niederlande. Der Dialekt von Grimlinghausen gehört demnach ebenso wie der von Uedesheim, Benrath und Urdenbach zur südlichen Dialektgruppe (machen), während beispielsweise Hassels, Holthausen, Itter, Himmelgeist und Volmerswerth bereits zur nördlichen Dialektgruppe gehören (maken).

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Die Benrather Linie führt einen rechtsrheinisch nach Neuss-Grimlinghausen. Foto: Sebastian Brück

„Eigentlich müsste man nicht nur der Benrather Linie, sondern auch diesem Georg Wenker ein Denkmal setzen“, sagt mein bester Freund P. „Im dialektbesoffenen Köln wäre der schon längst heiliggesprochen worden“. Ich ziehe mein Smartphone zu Rate: Immerhin ist dem „Erfinder“ der Benrather Linie und dem Urvater der deutschen Dialektforschung eine Straße gewidmet, die Wenkerstraße in Mörsenbroich. Und seine 44.000 Wenkerbögen, aus denen er die Benrather Linie und seine Sprachatlanten geformt hat, sind an der Universität Marburg archiviert, wo Wenker bis zu seinem Tod das Forschungsinstitut für Deutsche Sprache leitete.

„Der Typ war ja quasi der Christoph Kolumbus der deutschen Dialektentdecker“, sagt P., dem Menschen imponieren, die sich mit aller Kraft einem Thema widmen.
„Eher der Luis Trenker der deutschen Dialektlandschaft“, entgegne ich.
„Nein falsch“, kontert P. „der Franz Beckenbauer des deutschen Mundartmittelfelds.“

Und bevor wir noch mehr schiefe Bilder fabrizieren, kommen wir besser zum Schluss, und am Schluss steht ein 1:0. Dies ist der „Spielstand“ zwischen Baesweiler und Düsseldorf. Die kleine Stadt Baesweiler liegt nahe Aachen und der niederländischen Grenze, und da, wo das Stadtgebiet die Benrather Linie berührt, ist ein Schild mit einem Benrather-Linie-Erklärtext aufgestellt worden, das vermutlich das einzige Benrather-Linie-Info-Schild der Welt ist. Soll das so bleiben? Zumindest der Ausgleich durch ein Benrather-Linie-Schild in Benrath müsste doch drin sein. Und vielleicht reicht es ja sogar für ein 3:1, mit weiteren Infoschildern in Himmelgeist und Volmerswerth. Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt …

Weitere Infos

Wer sich mehr mit der Benrather Linie, dem Düsseldorfer Dialekt oder allgemein mit Dialekten im Rheinland beschäftigen möchte, dem seien die folgenden Bücher des Dialektforschers Georg Cornelissen empfohlen (erschienen im Greven-Verlag). Der Kabarettist Konrad Beikirchner bezeichnet ihn als „Sprach-Navigator des Rheinlands“. Man könnte auch sagen: Cornelissen ist der legitime Nachfolger Georg Wenkers.
„Düsseldorfisch – eine Stadt und ihre Sprache“, 9,90 Euro; „dat & wat – der Sprachatlas für das Land am Rhein zwischen Emmerich und Eifel“, 28 Euro

Wer neugierig ist, welche Mustersätze Georg Wenker für seine Dialektgrenze genutzt hat, kann diese auf dem ohnehin informativen Portal Regionalsprache.de nachlesen.

Auf YouTube findet sich ein Vortrag-Mitschnitt des Heimatarchivs Benrath über die Benrather Linie.

Und was ist ein Isoglossenbündel? Bitte sehr: Der Begriff Isoglosse leitet sich aus den griechischen Wörtern „isos“ (gleich) und „glōssa“ (Zunge, Sprache) ab und bezeichnet eine Grenze zwischen zwei Ausprägungen eines sprachlichen Merkmals, zum Beispiel „maken“ und „machen“, „dorp“ und „dorf“ oder „dat“ und „das“. Und wenn (wie bei der Benrather Linie) mehrere Isoglossen auf einer Linie verlaufen, spricht man von einem Isoglossenbündel.

Zum Autor des Artikels

Sebastian Brück schreibt unter anderem das Blog „Düssel-Flaneur“. Dafür läuft er den Fluss von der Mündung zur Quelle entlang. Seine Geschichten dazu sind allerdings keine Wander- oder Reiseberichte. Vielmehr hat er sich eine besondere Erzählform ausgedacht. Die Erlebnisse an und neben der Düssel schildert ein fiktiver Ich-Erzähler, der mit seinem ebenfalls fiktiven besten Freund P. unterwegs ist. Die beiden Figuren hat Sebastian Brück auch für diesen Artikel verwendet. Alles andere ist mit großer Leidenschaft und feinem Blick für die Details recherchiert und absolut wahr.

Der Autor und sein Blog
Mehr Text von Sebastian Brück gibt es auf duessel-flaneur.de.


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