
Sonderfall Düsseldorf: Religionsunterricht ist nicht überall out
Auf einer Kursparty haben wir zusammen Pink Floyd gehört, nach dem Abitur durften wir Petra zu ihr sagen. Vor ein paar Wochen musste ich an meine alte Religionslehrerin denken. Nicht einfach so. Ich dachte an sie, als ich gelesen habe, dass immer weniger Schüler:innen in Nordrhein-Westfalen am Religionsunterricht teilnehmen. Bei relativ konstanten Schülerzahlen sind es heute etwa 270.000 weniger als vor zehn Jahren. Das ist – bei insgesamt etwa 2,5 Millionen Schülern – eine Hausnummer, aber nicht überraschend, dieses Phänomen lässt sich bundesweit beobachten. Ich will trotzdem herausfinden, ob das in Düsseldorf genauso ist. Am einfachsten wäre es, der NRW-Trend würde einfach bestätigt. Das ist jedoch nicht der Fall. Düsseldorf hat gewissermaßen seinen eigenen Trend – und zwar einen ziemlich erstaunlichen.
Die Daten der Bezirksregierung Düsseldorf zeigen: Beim evangelischen Religionsunterricht gehen die Teilnehmerzahlen auch in Düsseldorf zurück, nicht jedoch beim katholischen. Hier nehmen im aktuellen Schuljahr an Grund- und weiterführenden Schulen sogar mehr Schüler:innen teil als zehn Jahre zuvor. 2012/2013 waren es 22.306 (Schüler:innen gesamt: 78.656), heute sind es 23.765 (80.970). Nur: Wie ist das zu erklären?
Ganz allgemein: Der Rückhalt von evangelischer und katholischer Kirche hat deutlich abgenommen. Mitgliederzahlen und Taufen sind rückläufig, eine christliche Prägung des Elternhauses ist immer seltener. Heiner Barz, Bildungsforscher der Heinrich-Heine-Universität, sagt: „Es gibt einen langfristigen Säkularisierungstrend. Die Zahl derer, die sich zum christlichen Glauben bekennen und an entsprechenden Ritualen teilnehmen, wird in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen weniger. Die Religionssoziologie spricht von einem Verdunsten des Christentums.“ Diesen Trend gibt es auch in Düsseldorf. 1961 waren 92,24 Prozent der Bürger:innen katholisch (50,47) oder evangelisch (41,77). 2021 sind es weniger als die Hälfte. Katholiken kommen auf 26,2, Protestanten nur auf 15,5 Prozent (Quelle). Düsseldorf liegt damit unter dem NRW-Schnitt.

Der allgemeine Rückgang ist schnell und einfach erklärt, der Anstieg beim katholischen Religionsunterricht in Düsseldorf nicht. Das Stadtdekanat freut sich darüber, aber woher er kommt, vermag man nicht zu sagen. Als ich Heiner Barz danach frage, ist erst einmal Stille in der Leitung. Der Bildungsforscher hat keine schlüssige Erklärung. Eindeutige Belege gibt es nicht, allenfalls Erklärungsversuche:
- Die katholische Kirche hat ihre Dominanz in Düsseldorf bewahrt. Das liegt auch daran, dass es in der Stadt 39 katholische Schulen gibt (35 Grundschulen), aber nur sechs evangelische. Dies trägt zu höheren Teilnehmerzahlen beim katholischen Religionsunterricht bei. Rainer Dinger, früherer Landeskirchenrat der evangelischen Kirche Westfalen, sagt: Der oft hohe Ausländeranteil an Gemeinschaftsschulen schrecke viele einheimische Familien ab. Auch evangelische Eltern meldeten ihre Kinder nicht selten an katholischen Schulen an, obwohl sie dort am katholischen Religionsunterricht teilnehmen müssen.
- An einem inflationären Anstieg der Taufen kann es auch nicht liegen. Nach Angaben des Erzbistums Köln lag die Zahl der katholischen Taufen in Düsseldorf zwischen 2012 und 2018 bei jährlich etwa 1400. Dann sank die Zahl – wohl auch coronabedingt – auf 1188 (2019), 806 (2020) und 923 (2021).
- Sind in den vergangenen Jahren womöglich viele katholische Familien nach Düsseldorf gezogen? Die Nachfrage bei der Stadt ergibt: Auch in Düsseldorf sinkt die Zahl der Menschen mit katholischer Konfession seit Jahren: minus 13,9 Prozent seit 2011. Einen inflationären Zuzug hat es nicht gegeben – weder aus Deutschland noch aus katholisch geprägten Ländern wie Italien, Portugal oder Spanien. 2021 lebten zwar mehr Menschen aus Lateinamerika (+168) in Düsseldorf als 2011, aber der Saldo ist viel zu gering, als dass er eine mögliche Erklärung bieten könnte.
- Viele katholische und evangelische Schüler:innen nehmen gar nicht am Religionsunterricht teil. Die Teilnehmerzahlen müssten eigentlich viel stärker sinken. Die Erklärung: Im Religionsunterricht sitzen heute wesentlich mehr Schüler, die einer anderen oder gar keiner Religionsgemeinschaft angehören. Erkenntnisse darüber, ob zum Beispiel Muslime womöglich eher dem katholischen Religionsunterricht zuneigen, gibt es nach Aussage von Behörden und Kirchen leider nicht.
Fazit: Das Phänomen lässt sich nicht so recht erklären, den einen Grund gibt es offenbar nicht. Dennoch weicht Düsseldorf vom Trend ab. Laut Bildungsforscher Barz könnte es sich schlicht um zufällige statistische Schwankungen oder Effekte handelt. Dass Düsseldorf ein Sonderfall ist, zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Städten. Egal ob in Duisburg, in Köln, im Kreis Mettmann oder im Rhein-Kreis Neuss: Überall sind die Teilnehmerzahlen im Religionsunterricht deutlich zurückgegangen. Dabei fällt auch auf, dass die evangelische Seite fast immer – und teilweise erheblich – stärker verloren hat.
Angesichts der Skandale der katholischen Kirche ist das erstaunlich. Während der Recherche beklagt ein Theologe, dass der öffentliche Zorn auf die Katholiken auch auf der protestantischen Seite zu vielen Austritten führe. Viele Menschen würden nicht unterscheiden zwischen den beiden Kirchen. Aber warum verliert der evangelische Unterricht sogar stärker? Auch wenn nicht alle Schüler eine Konfession haben, sieht Bildungsforscher Barz einen Zusammenhang mit den Mitgliederzahlen. Die Austrittsneigung sei bei den Katholiken seit langem geringer. Die Gründe: Die katholische Kirche bespiele die emotionale Schiene intensiver. Die Angst, infolge eines Austritts einen Nachteil im Jenseits zu haben, sei offenbar stärker.
Die Kirchen führen weitere Gründe für sinkende Teilnehmerzahlen an. Sie beklagen, dass der Religionsunterricht eine schwache Stellung habe. Häufig gebe es zu wenig Lehrkräfte, außerdem werde der Unterricht gern in ungünstige Randstunden geschoben, was zu zusätzlichen Abmeldungen führe. Schulleitungen könnten dies steuern, wenn sie Wert darauf legen, dies sei aber oft nicht der Fall, heißt es. Nicht selten komme der Unterricht aus Mangel an Teilnehmern nicht zustande. Das liegt auch daran, dass Schüler:innen ab dem 14. Lebensjahr religionsmündig sind und selbst entscheiden können, ob sie Religion wählen oder alternativ Ethik oder Philosophie. Beide Fächer weisen vielerorts stark steigende Teilnehmerzahlen auf.
Meine alte Reli-Lehrerin dürfte inzwischen fast in Pension sein. Ihr kann es also ein bisschen egal sein. Aber stirbt das Fach Reli irgendwann aus? Vermutlich nicht. Seit 2018 gibt es gewissermaßen eine Lösung für „das Problem“. Mehr als 100.000 Schüler an 536 Schulen haben im Schuljahr 2021/2022 bereits am konfessionell-kooperativen Religionsunterricht teilgenommen, der in einigen Regionen in NRW angeboten wird. Das Modell des gemeinsamen Religionsunterrichts sieht vor, dass die Schüler:innen im Wechsel von einer katholischen und einer evangelischen Lehrkraft unterrichtet werden. Nach Zustimmung des Erzbistums Köln können dies auch Schulen in Düsseldorf für das Schuljahr 2023/2024 erstmals beantragen.
Disclaimer: Bei meiner Recherche habe ich festgestellt, dass verschiedene Teilnehmerzahlen für den Religionsunterricht kursieren. Die Daten, die mir Behörden, Erzbistum und Landeskirche geschickt haben, sind nicht deckungsgleich. Ein Gesprächspartner bestritt, dass es überhaupt einen Teilnehmerrückgang gebe. Ein Sprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland versicherte mir jedoch schließlich: Die Zahlen der Bezirksregierung Düsseldorf bildeten die aktuelleren und genaueren Werte ab und seien aussagekräftig. Dies hat mich darin bestärkt, die Daten der Bezirksregierung, die aus den amtlichen Schuldaten für das Land NRW stammen und jährlich durch das Schulministerium bei allen Schulen erhoben werden, als Grundlage zu verwenden.