Niemand kann überall sein, Walter schon

Walter Schuhen taucht seit Jahren bei allen wichtigen Veranstaltungen der Stadt auf. Dabei hat er weder Amt noch Job, die ihn dazu berechtigen. Wie hat der Kerl das hinbekommen?
Veröffentlicht am 1. September 2022
Walter Schuhen
Wo ist Walter? Auch das DGB-Hoffest ließ sich Walter Schuhen nicht entgehen. Foto: Andreas Endermann

Gesucht wurde ein Pate für den Schabracken-Lippfisch. Pinguine, Haie, alles kein Problem für den Aquazoo, aber wer wollte schon ein Tier mit so einem Namen? Walter Schuhen wollte. Er spürte eine Verbindung. Sagt Walter Schuhen. Seit 2018 zahlt er jedes Jahr 75 Euro für einen Fisch, der im besten Fall neun Zentimeter groß wird.

Walter Schuhen ist – weniger platt lässt es sich nicht sagen – ein Phänomen. Die Rheinische Post schrieb vor einigen Jahren über ihn, er habe „wie kein zweiter Düsseldorfer die Fähigkeit, Einladungen für alle gesellschaftlichen Kleinst- bis Großereignisse in dieser Stadt zu erhalten.“ Dabei sitzt er weder im Stadtrat noch in einem Unternehmensvorstand noch gehört ihm ein Unternehmen. Er weiß selbst am besten, dass sich einige Leute von Rang und Namen in der Stadt fragen, was er in ihren Kreisen überhaupt zu suchen hat, dieser schmächtige Typ von 60 Jahren mit Hornbrille, fliehender Stirn und einem Gesicht, das keinen Bartwuchs erwarten lässt. Um darauf eine Antwort zu finden, habe ich Walter Schuhen mehrfach getroffen und auf zwei Veranstaltungen begleitet.

Dass ich ihn im Folgenden nur noch Walter nennen werde, ist bloß ehrlich. Unser erstes Treffen in seiner Altstadt-Wohnung ist kaum 20 Minuten alt, da bietet er mir das Du an. Walter duzt beinahe gnadenlos. Der frühere Oberbürgermeister Joachim Erwin ist für ihn bloß Jochen, mit Helge meint er selbstverständlich den Kunstberater Achenbach. Nur einige Minuten später gibt er mir eine ausgedruckte Liste, ein DIN-A4-Blatt. Darüber steht: „Was hat Walter Schuhen für Düsseldorf bewirkt?“ Fein säuberlich führt er dort unter den Punkten Sport, Wirtschaft, Sozial, Politik, Kultur, Kunst und Brauchtum, Tourismus seine Leistungen für die Stadt auf. „Andreaskirche Faltblatt chinesisch“, „Weihnachtsbäume Unicef/Commerzbank“, „Metro Marathon Düsseldorf“ und so weiter. Stand: 3. Januar 2020.

Schon bevor wir uns am ersten Donnerstagabend nach den Sommerferien beim DGB-Hoffest wiedersehen, gibt mir Walter eine Ahnung, wie er sich in den Netzwerken hält, zu deren Zugang ihn weder Amt noch Job berechtigen. Er bittet mich am Telefon, der Fotograf meiner Redaktion möge auch ein Bild machen, auf dem Sigrid Wolf zu sehen ist, die DGB-Chefin von Düsseldorf. Kaum sind wir dort, stellt er sie mir vor, damit ich weiß, wer die Frau ist, die mit aufs Foto soll. Ich habe den Eindruck, Walter ist das deutlich wichtiger als ihr. Jedenfalls sage ich meinem Fotografen später, bitte, mach auch ein Foto von ihr, sonst gibt Walter keine Ruhe.

Das DGB-Hoffest ist ein sanfter Einstieg für jemanden wie mich, der Gästelisten bloß von Rockkonzerten kennt. Die Veranstaltung im DGB-Haus an der Friedrich-Ebert-Straße besuchen zwar auch einflussreiche Menschen, weiterhin vor allem Männer aus Wirtschaft und Politik, aber die DGB-Mitglieder sind in der Überzahl. Im Innenhof stehen Bierbänke und Biertische, Kellnerinnen laufen mit Tabletts herum, später gibt es ein warmes Büfett. Ein ganz in weiß gekleideter Mann spielt irgendwas Verträumtes auf seinem mit einem Lautsprecher verbundenen Saxophon. 

Walter ist mit dem Rad angereist. Er trägt eine graue Stoffhose, ein helles Hemd und neongelbe Turnschuhe, über der Schulter eine kleine Umhängetasche. Kaum da, kommt er mit Michael Szentei-Heise ins Gespräch, der bis vor zwei Jahren Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde war. Vor fünf Jahren standen sie auch schon so hier. Walter war damals noch Marketing-Chef des Düsseldorf-China-Centers. Szentei-Heise erzählte ihm, dass sich die Jüdische Gemeinde im kommenden Jahr zum ersten Mal am Rosenmontagszug beteiligen werde. Einen Wagen bei Jacques Tilly mit Heinrich Heine als Motiv hatte er bereits bestellt.

Ein Journalist der Rheinischen Post stand dabei und sagte, sie könnten nicht einfach so am Zug teilnehmen, sondern müssten richtig Aufmerksamkeit erzeugen. So geschah es, dass Szentei-Heise Walter fragte: Willst du nicht als Moderator mitfahren? Walter wollte, und weil die Gemeinde keine Erfahrung mit dem Karneval hatte, Walter aber schon, organisierte er alles, was sie sonst noch brauchten. In den beiden Jahren darauf wurde daraus der Toleranzwagen, auf dem Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime feierten. Walter wieder vorne dabei, ließ sich sogar als Brauchtumsmanager der Jüdischen Gemeinde engagieren, so stand es jedenfalls auf seinen Visitenkarten. 2020 lernte er auf dem Wagen den Arzt Valentin Agadzanov kennen, der das Medizinische Versorgungszentrum Intermed an der Immermannstraße führt. Der Suchtmediziner war so beeindruckt davon, wie Walter die Sache mit dem Karnevalswagen organisierte, dass er ihn kurz darauf als Projektmanager einstellte. Er brauchte jemanden, der eine Zweigstelle in der Drogenhilfe an der Erkrather Straße einrichtete. Seit Juni 2022 können seine drogensüchtigen Patienten nun dort ihr Methadon erhalten. Die Netzwerkarbeit hatte sich für Walter wieder mal bezahlt gemacht.

Sigrid Wolf eröffnet das DGB-Hoffest und dankt allen möglichen Leuten. Walter klatscht vernehmbar, wenn sie Personen wie Oberbürgermeister Stephan Keller und Bürgermeister Josef Hinkel nennt. Es ist ein langsames, lautes Klatschen. Bei anderen klatscht er leiser.  Er begrüßt den IHK-Chef Mittlerer Niederrhein, sie stoßen an. Der Mann stellt sich kurz neben ihn, gemeinsam hören sie die Rede von Keller, dann geht er mit seinem halbvollen Weißweinglas auf die andere Seite des Hofes zu einem Stehtisch mit zwei Männern, die den Eindruck machen, als wären sie in der freien Wirtschaft tätig. Walter räumt drei leere Gläser vom Biertisch und bringt sie zur Getränkeausgabe. Wenn vorne geredet wird, lacht er manchmal. Dann hört er sich an wie die deutsche Synchronstimme von Bill Cosby. Er hält Ausschau und erblickt Stefan Engstfeld, Landtagsabgeordneter der Grünen. Zur Begrüßung schlägt Walter ihm kräftig mit der Hand auf den Rücken, bevor der ihn übersehen kann.

Es ist nun gleich 19 Uhr, Walter muss kurz weg, zur Korpsversammlung der Prinzengarde Blau-Weiss in die Brauerei Schumacher. Dort wolle er hin, um „meinen Impuls zu setzen“. Er möchte seinen Vereinskameraden sagen, dass sie den ersten Zugriff auf seine Mietwohnung in der Altstadt haben, aus der er bald ausziehen wird. Eine Wohnung in der Altstadt ist praktisch für die Karnevalszeit. Er verpasst die Podiumsdiskussion zwischen einem Gewerkschaftsvertreter und einer Gewerkschaftsvertreterin, es geht um Umverteilung.  Auch der Oberbürgermeister bekommt davon nichts mit. Er unterhält sich mit den Wirtschaftsleuten am Stehtisch und hat der Diskussion den Rücken zugewandt. Um kurz vor halb acht kehrt Schuhen zurück, trifft Josef Hinkel und erzählt ihm, wie er eben der Prinzengarde angeboten habe, seine Wohnung zu übernehmen. Engste Stelle des Rosenmontagszuges, 600 Euro warm, 46 Quadratmeter. Im selben Gespräch sagt Walter, Hinkel könne sich aber gerne melden, wenn er die Wohnung für einen seiner Mitarbeiter haben wolle. Er sagt Hinkel, wie schön es sei, dass das Fest wieder stattfinde nach zwei Jahren Corona-Pause. Sein Gegenüber findet das auch. Sie stehen noch kurz beieinander, dann hält Hinkel Ausschau, nennt einen Namen, zu dem er gehen will, und geht.

Zum wiederholten Mal an diesem Abend trifft Walter auf Szentei-Heise. Walter erklärt ihm und mir die Vorteile, in so einem informellen Rahmen mit Entscheidungsträgern zu reden. „Lieber im persönlichen Gespräch alles klären als eine hochoffizielle Mail, die keine Sau liest.“ Er berichtet, wie sie im Karneval für den Toleranzwagen fast John Cleese geholt hätten, aber die Katholiken hatten Einwände. Er hatte sogar schon Kontakt mit dem Management aufgenommen. Szentei-Heise sagt, vielleicht hätte es geklappt, vielleicht.

Ich begleite Walter zum Büfett. Wir kommen an OB Keller vorbei. Walter klatscht auch ihm auf den Rücken und stellt ihn mir vor. Ich bin mir sicher, er macht das auch, um zu zeigen, dass er wichtige Leute kennt und sie ihn. Er duzt Keller selbstverständlich. Zum Essen setzen wir uns auf eine Bierbank. Ich frage, Walter antwortet, gerne steigt er mit dem Satz „Sagen wir mal so“ ein. Walter berichtet, wie er die ukrainische Generalkonsulin Iryna Shum neulich im Treppenhaus traf – das medizinische Zentrum ist im selben Gebäude wie das Konsulat – und  sie bat, ihrem Präsidenten zu sagen, die Ukrainer, die in Deutschland mit ihrem SUV rumfahren, auch wenn es nur wenige sind, sollten lieber etwas zurückhaltender auftreten. Er hat Sorge, dass die Stimmung in Deutschland sonst kippt.

Als ich mich zu fragen beginne, wen in Düsseldorf er eigentlich nicht kennt, erzählt er mir die Geschichte von Bert Wollersheim. Der wollte einmal an einem Drachenbootrennen teilnehmen im Medienhafen. Zum Training erschien er mit seinen muskulösen Security-Kerlen, aber Walter, selbstverständlich involviert, sagte, die Hälfte der Besatzung müsse weiblich sein. Bert habe gesagt „Messezeit ist Stoßzeit“, heißt: die Prostituierten waren gerade schwer beschäftigt. Also organisierte Walter ihm einige Mitglieder der Tanzgarde der Karnevalsfreunde der katholischen Jugend, ein Verein, bei dem er sich ebenfalls engagiert. Als Wollersheim später einmal aus der U-Haft entlassen wurde und mit einem Fernsehteam auf der Kö drehte, hätten sich alle von ihm abgewandt, nur er, Walter, nicht. Als dann Wollersheims Geburtstag anstand, fragte Walter dessen Frau Sophia, was sich Bert zum Geburtstag wünsche. Sie sammelten für einen neuen Vergaser, die Feier finde im kleinen Kreis statt. Warum er dabei sei, wollte Walter wissen. Bert habe darauf bestanden, weil sich Walter nicht von ihm abgewandt habe. Sagt Walter.

Vier Tage später sehen wir uns abends beim „Düsseldorf In“ im Alten Kesselhaus wieder, Areal Böhler auf der Grenze zu Meerbusch. Hier sind Düsseldorfer:innen aus Wirtschaft, Kultur und Politik unter sich. Ein Gast nennt es „eine Mischung aus Rotarier und Kegelclub“. Die Gäste sitzen draußen oder stehen drinnen, wo auch das Büfett aufgebaut wurde. Walter trägt Anzug und Lederschuhe, keine Krawatte. Beim Hoffest hatte ich den Eindruck, dass Walter nicht mit so wirklich vielen Leuten ins Gespräch kam, hier aber smalltalked er mit einem Bekannten nach dem nächsten. Regelmäßig ordert er Weißwein. Auf seinem Namensschild steht MZV statt MVZ Intermed. Mal wieder falsch geschrieben, erklärt er seinem Gegenüber, müsse er endlich korrigieren lassen. Er wird gefragt, was er mache und ob er Arzt sei. Viele, die Walter kennen, wissen gar nicht so genau, was er gerade macht. Später wird er mir sagen, dass dies nicht der richtige Ort sei, um über seine Arbeit mit Junkies zu sprechen. Er trifft auf einen Journalisten, der mir sogleich berichtet, wie auf seiner kirchlichen Hochzeit Walter als Messdiener auftauchte. Walter hatte mir die Geschichte auch schon erzählt.

Auf dem Weg zum Büfett schüttelt er Hände, auf dem Rückweg auch. Er beherrscht die Kunst, in einer Hand einen beladenen Teller zu halten und mit der anderen Leute zu begrüßen. Während ich angesichts dieser teuer gekleideten Menschen das Gefühl habe, zum ersten Mal Schlittschuh zu laufen, gleitet er übers Eis. Jede Veranstaltung, auf der Walter ist, wird an seiner Seite auch ein bisschen zu Walters Veranstaltung.  Später geht er zum Stand eines Unternehmens, das Gebäude saniert. Dort nimmt er von einem Mann zwei Beutel entgegen, die gefüllt sind mit sehr dünnen FFP2-Masken für die Mitarbeiter in der Drogenhilfe. Walter geht zur Garderobe, lässt sich seinen Rucksack geben, zieht eine braune Papiertüte heraus und stopft die beiden Beutel hinein. Mit der Tüte geht er zum Mann am Stand zurück, zieht eine Flasche Olivenöl heraus und überreicht sie ihm. Walter erzählt, dass er gerade mit seiner Freundin in eine Wohnung in Osterath zieht. Der Mann sagt, es gebe dort im Edeka einen sehr guten Japaner. Genau daneben ziehe er ein, sagt Walter. Er solle doch mal vorbeikommen.

Walter geht weiter durch die Halle, erkennt Leute, wird von Leuten erkannt. Während ich eine Frau von irgendeinem Wirtschaftsverband mit der Aussage langweile, dass ich wirklich kaum über Wirtschaft schreibe, erzählt Walter einem Typen, der einen Trampolinpark in Mönchengladbach vertritt, dass er in Mönchengladbach ein Corona-Impfzentrum geleitet habe. Am selben Stehtisch kommt er mit einer jungen, blonden Frau einer Supermarktkette ins Gespräch. Sie werden schnell so vertraut, dass ich ihn später frage, ob sie sich schon mal begegnet sind. Nein, nein, gerade erst kennengelernt. Sie will nach draußen, eine „löten“. Die beiden gehen also nach draußen, sie steckt sich einen Zigarillo an. Ein Vertreter des Bankenverbands NRW stellt sich dazu, sie sprechen über die Ukraine. „Wenn du bei den Flüchtlingen hörst, die haben Probleme mit der Bank, lass mich das durchaus wissen“, sagt der Mann. Um 23 Uhr ist Schluss. Walter und ich gehen zur U-Bahn-Haltestelle Lörick, er muss in die eine Richtung, ich in die andere. „Wenn alle so ticken wie ich, dann wäre die Russland-Ukraine-Scheiße nicht passiert“, sagt er. Kurze Zeit später steigt er in die Bahn.

An diesem Abend beginne ich zu verstehen, dass die Netzwerkpflege für Walter auch ein Spiel ist. Kleine Deals machen. Leuten einen Gefallen tun, damit sie einem einen Gefallen schuldig sind. Auch wir haben einen unausgesprochenen Deal: Walter lässt mich in sein Leben, damit ich einen Artikel über ihn schreiben kann. Dafür erfährt sein Netzwerk, was für ein Typ er wirklich ist. Ich beschließe, darauf zu achten, ihm am Ende nichts schuldig zu sein. Das ist nicht gut für einen Journalisten.

Das Prinzip des Geben und Nehmen hat Walter schon früh begriffen. Er wuchs in Morsbach auf, einer kleinen Gemeinde im Oberbergischen Land an der Grenze zu Rheinland-Pfalz.

„Du kommst von der Autobahn, fährst einige Berge rauf und runter, dann bist auf der Höhe. Dann heißt es Morsbach vier Kilometer, und du fährst in ein tiefes, dunkles Tal. Da sind die Uhren langsamer gegangen.“ Immerhin war Morsbach eine Karnevalshochburg, sein Vater war Spieß in der Funkengarde. „Ich war in der Schule eher der Streber, der introvertierte Typ. Körperlich ein bisschen schwach. Ich musste mir die starken Jungs, die mich beschützt haben, gewogen machen durch Hilfe bei den Hausaufgaben.“ Geben und Nehmen, da tauchte es zum ersten Mal auf. Einen Freund habe er in der Grundschule zweimal vorm Sitzenbleiben bewahrt. Statt zu kämpfen lernte Walter zu quatschen. Wie sollte man ohne groß zu sein und ohne Kohle zu haben sonst an Mädchen kommen?

Seine Eltern hatten wenig Geld. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Schlosser, sie hatten sich völlig mit dem Eigenheim übernommen.  Hätte nicht ein wohlhabender Onkel in die Familie eingeheiratet, hätte Walter nicht mal Abitur gemacht. Der Mann war Führungskraft bei Henkel, verschaffte ihm dort erst einen Ferienjob in der Kantine und später eine Lehrstelle zum Industriekaufmann. So kam Walter nach Düsseldorf und brachte es bei Henkel bis zum Abteilungsleiter „Controlling“. Ohne den Unfall 1997 wäre er dort wohl bis zur Rente geblieben. Mit Frau und Tochter war er auf der Autobahn unterwegs, als jemand vor ihm auf die Spur zog. Walter erinnert sich an drei Überschläge ohne Airbag. Alle überleben. Walter erlitt neben den körperlichen Verletzungen eine posttraumatische Belastungsstörung, die er bis heute nicht ganz los ist. Beides führte dazu, dass er seinen Job bei Henkel nicht mehr machen konnte. Bevor sie ihn irgendwo ins dunkle Kämmerlein abschoben, ging er 2005 lieber mit einer hohen Abfindung. Walter brauchte einen neuen Job.

Da hatte er bereits angefangen, sich in Düsseldorf ein Netzwerk aufzubauen. Mit seiner Familie suchte er in den 90ern ein Haus in Garath, wo sie bereits wohnten. Mit dem Kontakt zum Bauamt begann sein Interesse für die Machtstrukturen der Stadt. Er lernte Joachim Erwin auf einer Wahlkampfveranstaltung Ende der 90er kennen, half ihm beim Häuserwahlkampf in Garath. Dann organisierte Helge Achenbach eine Düsseldorfer Laufgruppe für den Marathon in New York 2000, Walter hatte sich der Fortuna-Abteilung angeschlossen und 1997 seinen ersten Marathon absolviert. „Dieser Aktion mit Helge habe ich eigentlich meine ganzen Netzwerke zu verdanken.“ Zur Gruppe gehörten der damalige Regierungspräsident Jürgen Büssow, Fotograf Andreas Gursky, Joachim Erwin und der Chefredakteur der Rheinischen Post. Walter lief in unter vier Stunden auf Platz 7063, sein erstes Meisterstück legte er aber für das Foto ab, das ein Pressefotograf an diesem Tag in New York von der Gruppe machte. Im Hintergrund stehen unter anderem Achenbach und Gursky, aber vorne im Zentrum des Bildes hockt Schuhen hinter einer Fortuna-Fahne und grinst in die Kamera. Das würde ihm immer wieder gelingen: Er auf Fotos mit Menschen, die wesentlich bekannter und einflussreicher sind als er selbst. Später half Walter Jan Henning Winschermann dabei, Erwin von der Notwendigkeit eines Düsseldorf-Marathons zu überzeugen. 2003 war Premiere.

Walter hatte geholfen, und ihm wurde geholfen. Nach dem Aus bei Henkel bekam er über Erwin vorübergehend einen Job bei der Stadt. Walter merkte, dass er nicht mehr als Controller arbeiten wollte. Walter studierte Sportmarketing im Fernstudium. Auf einer Radtour von Büssow lernte er eines Tages Axel Pollheim kennen, den Gründer von „Düsseldorf In“,  und ohne dass er genau wusste, warum, durfte er gleich zur nächsten Ausgabe kommen. Dort stellte irgendwann auch das Düsseldorf-China-Center aus. Sie suchten einen neuen Marketing-Chef. Durch seine Pflegetochter, eine Halbchinesin, hatte er eine gewisse Affinität. Er bewarb sich und bekam den Job. Damit begann 2009 sein Aufstieg in Düsseldorf.

Im Düsseldorf-China-Center sollten die deutsche und chinesische Wirtschaft Kontakte knüpfen. So wie Walter Schuhen heute darüber redet, hat es die Aufgabe nie erfüllt. „Das China-Center war eine wunderbare Chinese-Fake-Veranstaltung. Man hat sich so einen Pausenclown wie mich gehalten, der das schön nach außen verkauft hat.“ Walter machte es sich zur Aufgabe, mit dem Center in die Netzwerke zu kommen. Er sagt, er habe es mit Bedeutung aufgepumpt, und diese Bedeutung machte auch ihn wichtiger. Schon weil er in der Marketing-Abteilung mit schmalem Budget im Grunde allein war,  musste er selbst all diese Veranstaltungen besuchen. Es gefiel ihm aber auch. Arbeit und Privatvergnügen in einem. In dieser Zeit erwarb er sich den Ruf, wirklich überall aufzutauchen, auch an mehreren Orten pro Abend. Einmal sorgte er dafür, dass drei wichtige Besucher aus China ein paar Bälle gegen Timo Boll spielen konnten, der dort ein Superstar ist. Zur Belohnung durften beide einen Chinesisch-Kurs belegen. Als sie zum ersten Mal zum Unterricht auftauchten, wartete vor dem Gebäude schon ein chinesisches Fernsehteam. Kurz darauf rief eine Kollegin aus Shanghai Walter an und erzählte, in jeder Zweigstelle der Kommunistischen Partei hänge ein Foto von Timo Boll und ihm. Sagt Walter. Er erwähnt nebenbei, dass Boll mit 41 Jahren die Nr. 10 der Weltrangliste ist. Ich prüfe das nach. Es stimmt exakt.

Als Walter das China-Center verklagte, weil Bonuszahlungen ausblieben, war er 2018 seinen Job los, sagt er. Er hatte Sorge, von den Gästelisten zu fliegen, und er flog auch von einigen, aber auf vielen blieb er drauf. „Ich habe probiert, mich über Nutzenstiftung ins Spiel zu bringen.“ Walter konnte sich eben nie darauf verlassen, nur aufgrund seiner Position eingeladen zu werden. Er vermittelt bis heute Kontakte, besorgt Sponsoren, tut Gefallen. „Ich habe eine Grundregel verinnerlicht: Geben und Nehmen muss sich die Waage halten. Wenn du ein Netz nur zum Saugen nimmst, ist das nicht von langfristigem Erfolg gekrönt.“ Wenn er zum Beispiel Fortuna bei der Beschaffung von Sponsoren helfe, erklärt er, dann dürfe er beim Spiel in den VIP-Bereich und knüpfe dort neue Kontakte. Netzwerkarbeit sei zeitintensiv, aber man dürfe das nicht aufrechnen. „Du hast heute nix davon, aber es entsteht ein neuronales Netz. Irgendwann profitierst du von diesem Netz.“

Er hat kein Problem damit zu sagen, dass er das alles auch für sich macht, nicht nur für ein Unternehmen, das er vertritt. „Ich bin kein Eremit, ich bin gerne unter Menschen, deshalb nutze ich das auch gerne, auch um den Horizont zu erweitern.“ Auch das gibt er zu: „Es ist ein Game, es ist gambling. Leute zu connecten ist vielleicht meine Droge.“ Das Spiel des Spiels wegen. Dass er einige nervt, ist ihm bewusst. Aber er sagt, er muss nerven, um sein Ziel zu erreichen. „Ich trete nicht an, um der Beliebteste zu werden.“ So sagt er vermutlich nur halb im Scherz, dass in der Ausländerbehörde Dartscheiben mit seinem Gesicht darauf hängen. Weil die Mitarbeiter dort wüssten: Wenn er ein Anliegen für einen Geflüchteten hat, kümmern sie sich besser darum, weil er sonst Dezernentin Miriam Koch kontaktiert.

Selbstverständlich stelle ich mir immer wieder die Frage, ob Walter seine Rolle im Netzwerk nicht überschätzt. Ein bisschen Selbstbetrug gehört vermutlich dazu, um selbstbewusst gegenüber anderen aufzutreten zu können. Andererseits sieht er als seine Aufgabe: „Ich möchte das Schmieröl sein.“ Schmieröl, nicht der Motor. Walter scheint zu wissen, dass dafür andere zuständig sind.

Zwei Tage nach „Düsseldorf In“ treffen wir uns ein letztes Mal. Walter trägt graues T-Shirt, Jeans, rote Turnschuhe. Von der Praxis an der Immermannstraße gehen wir zur Zweigstelle in der Drogenhilfe in der Nähe des Worringer Platzes. In der ersten Etage haben sie ihre Räume. Dort sitzt ein Arzt gleich neben dem Fahrstuhl, vor ihm ein Glasbehälter mit Polamidon, eine Flüssigkeit, die wie Methadon die Funktion hat, die körperlichen Symptome des Entzugs zu dämpfen. Es klingelt, auf dem Bildschirm ist zu sehen, dass unten eine Frau mit Rollator wartet. Walter nimmt den Fahrstuhl, sie schiebt sich mit ihrem Rollator hinein, sie fahren wieder hoch. Um den Rest kümmert sich der Arzt. Walter und ich gehen ins Nebenzimmer. Er sagt, er sitze viel unten im Café, spreche mit den Süchtigen, achte aber darauf, sich nicht vereinnahmen zu lassen. „Ich bin so gestrickt, jedem mit allem zu helfen.“ Manchmal sitzt er auch dort, wo gerade der Arzt sitzt, aber die Substitute ausgeben darf er nicht. Er überlege deshalb, eine Ausbildung zum Arzthelfer zu machen.

Wir sprechen noch mal über das Thema Netzwerke. In welchen Vereinen er nochmal genau Mitglied sei, frage ich. Er zählt auf. Prinzengarde, Karnevalsfreunde der katholischen Jugend, Altstadtgemeinschaft, Heinrich-Heine-Kreis, Jonges und so weiter. Und wo er nicht Mitglied ist, dahin hat er gute Verbindungen. Er hat mir schon vor einigen Tagen erzählt, dass er mittlerweile kürzertrete. Das Veranstaltungs-Hopping hat er drangegeben, weil er dann nirgendwo richtig ist. Zugleich er räumt ein: „Von mir aus absagen, ist jedes Mal mit einem kleinen Schmerz verbunden.“ Aber das Privatleben zählt auch. Seine Freundin begleitet ihn selten, sie hat deutlich weniger Spaß daran als er. Sie finde, er verbringe zu viel Zeit mit der Kontaktpflege. Aber auch sie profitiert davon. Die nächste Walter-Geschichte. Um es kurz zu machen: Über seine Verbindungen bei den Jonges bekam sie deutlich schneller einen Arzttermin.

Eine Sache will ich ihn noch unbedingt fragen: Walter, sind Netzwerke nicht unfair für die, die nicht drin sind? Er hat keine meiner Fragen ausweichend beantwortet, auch diese nicht. „Ja.“ Irgendjemand werde kurzzeitig an die Wand gedrückt. Dann kommt das Aber: „Das, was ich an Gutem ins System gebe, wenn ich gut drauf bin, ist ein Vielfaches von dem, was ich durch individuelle Vorteile bekomme. Per Saldo geht die Rechnung für die Gesellschaft auf.“

Er begleitet mich zum Hauptbahnhof. Ich sage ihm, dass ich zu meiner Freundin nach Krefeld fahre, und er fragt mich, was sie beruflich mache. Ich sage es ihm. Kulturpädagoginnen könne man auch in Düsseldorf gut gebrauchen, sagt er. Plötzlich habe ich leichte Sorge, dass er mich in den nächsten Tagen auf eine Stelle hinweist und ich doch noch in das Walter-Netzwerk rutsche, unfähig, ihm den nächsten Gefallen abzuschlagen. Wir verabschieden uns. Ein paar Minuten später schickt er mir eine Nachricht, darin steht: „Habe noch ein wichtiges Thema vergessen: Bin Beirat im Marketing Club Düsseldorf.“


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