
Lütgenau, Resi und Horten – Erinnerungen an Düsseldorfer Passagen
Der folgende Text entstand für die Veranstaltung „Passagen reloaded“, die an Walter Benjamins großes Werk über Paris erinnert. Das Literaturbüro NRW hatte Ende Juli im Rahmen des Projekts EINE STRASSE zu einem literarisch-architektonischen Spaziergang entlang der Graf-Adolf-Straße eingeladen. Mit dabei waren der Stadtplaner Hans-Jürgen Greve, unser Autor Sebastian Brück und der folgende Text:
Samstagnachmittag. Der Graf-Adolf-Platz ist eine Straße, und wir stehen am Rande des Bürgersteigs. Vor uns: Stau auf der Abbiegespur. „Alle“ wollen zur Königsallee. An der anderen Straßenseite: das Hotel Leonardo Royal und das Kostüm-Fachgeschäft Deiters. Von hier aus werden wir in Opposition zu den üblichen Shoppingrouten die Graf-Adolf-Straße entlang spazieren – 850 Meter, Richtung Hauptbahnhof, inspiriert von Walter Benjamin. „Passagen Reloaded“.
Wir drehen uns um, betrachten die weite Fläche. Denn natürlich ist der Graf-Adolf-Platz auch ein Platz. 2006 hat die Stadt Düsseldorf diesem Ort ein neues Gesicht verpasst: Erhöhte Rasenflächen, durchzogen von linearen Durchgängen, dazwischen – Achtung, Beamtendeutsch – „alter und neuer Baumbestand“. Besonders fallen die Bänke ins Auge: weiße, längliche Objekte. Gemäß der Design-Idee liegen sie wie Mikado-Stäbe über dem Areal – wenn es dunkel wird, von innen beleuchtet.
„Nicht, dass du im Text einen auf rheinischen Benjamin machst“, sagt mein bester Freund P. „Das kann nur schiefgehen.“
„Ist klar“, sage ich. „Aber was es mit Benjamins Passagen auf sich hat, das muss man schon kurz erklären.“
Gesagt, getan: Der aus Berlin stammende Walter Benjamin – das ist der wohl berühmteste Flaneur aller Zeiten. Und sein zwischen 1927 und 1940 entstandenes Passagen-Werk – das ist sowohl ein philosophisches als auch ein literarisches Projekt. Im Titel nimmt es auf die überdachten Ladenpassagen Bezug, die ab dem frühen neunzehnten Jahrhundert in Paris entstanden.
P. zückt sein Smartphone und schaut mich bedeutungsvoll an. Und dann sagt er: „Lass uns doch einfach mit zwei Rezensionen starten, die zum Graf-Adolf-Platz abgegeben wurden – der besten und der schlechtesten.“
„Rezensionen?“ Ich runzele die Stirn, schaue ihn fragend an, da hat er bereits begonnen vorzulesen.
Die beste Google-Bewertung stammt von einem Daniel. Er gibt fünf Sterne und schreibt: Der Graf Adolf Platz (GAP) ist quasi die `grüne Insel´ am Anfang der Königsallee (Kö), die weltweit bekannt ist, auf der einen Seite – und dem architektonischen Leckerbissen GAP 15 auf der anderen.
„Es mag dich überraschen“, sage ich, während ich auf die Hochhaus-Glasfassade zeige. „Aber dass GAP die Abkürzung für Graf-Adolf-Platz ist – das war mir bisher nicht bewusst, das sprechen ja auch viele englisch aus. Gäpp!“
Mein bester Freund P. zieht spöttisch die linke Augenbraue hoch und liest unbeirrt die negativste der Graf-Adolf-Platz-Bewertungen vor. Sie stammt von einer Elke und ist erst ein paar Tage alt: Hallo. Also es tut mir leid das ich nur einen Stern gebe! Düsseldorf mag eine nette Stadt sein aber wenn man dort parken muss oder möchte und sich in Düsseldorf überhaupt nicht aus kennt ist das eine Katastrophe!! Wohnen möcht ich dort auf keinen Fall!!! 😣 Das wäre mir zu stressig! 👎
Wir durchqueren den denkmalgeschützten Garten am Süd-Ende der Königsallee. Als wir an der Ampel stehen und uns Heidi Klum in Unterwäsche von einer drehbaren Litfaßsäule aus anlächelt, sagt P.: „Du, wir haben doch vorher besprochen, dass wir auch kurz auf die Emanuel-Leutze-Geschichte eingehen.“
In diesem Sinne: Bevor ab 1892 abschnittsweise die Graf-Adolf-Straße angelegt wurde, befanden sich auf dem Areal des heutigen Graf-Adolf-Platzes, der wiederum erst ab 1905 im Stadtplan verzeichnet ist, die Kopfbahnhof-Vorgänger des Düsseldorfer Hauptbahnhofs – zum einen der „Elberfelder Bahnhof“ und zum anderen zwischen Adersstraße und Luisenstraße der „Köln-Mindener Bahnhof“. Irgendwo auf halbem Weg muss es eine Gaststätte mit dem treffenden Namen „Stübben zwischen den Bahnhöfen“ gegeben haben. In einem leerstehenden Hinterzimmer des Lokals unterhielt der Deutsch-Amerikaner Emanuel Leutze eines seiner Ateliers. Und 1851 malte er eben dort ein Gemälde, das heute als berühmtestes Kunstwerk der Vereinigten Staaten überhaupt gilt und im Metropolitan Museum of Art ausgestellt ist: „Washington Crossing the Delaware“.
„Also, wenn, dann erwähne ich das nur kurz“, sage ich. „Drei, vier Sätze vielleicht.“
„Wieso?“, fragt P. „Das ist doch eine tolle Story. Man könnte sie als Beispiel dafür nehmen, dass Bahnhofviertel schon vor 170 Jahren Künstler angezogen haben.“
„Ist das so?“, frage ich.
„Schmuddelige Bahnhofsnähe verwandelt leerstehende Hinterzimmer quasi automatisch in temporäre Ateliers“, sagt P. und grinst sein Grinsen zwischen Ernst und Ironie.
Ich wechsele das Thema: „Sollten wir nicht lieber durch die Gegenwart als durch die Vergangenheit flanieren?“
„Ach komm.“ P. winkt ab. „Richtige Flaneure sind wir doch ohnehin nicht.“
„Warum?“
„Weil wir nur so tun, als würden wir uns treiben lassen. Tatsächlich haben wir ein klares Ziel vor Augen.“ Er knipst ein Auge zu und zeigt auf die gegenüberliegende Straßenseite – da, wo die Graf-Adolf-Straße beginnt.
Die Ampel zeigt grün. Während wir die Königsallee überqueren, frage ich: „Und wie flaniert man richtig – deiner Meinung nach?“
P. setzte eine gespielt-selbstgefällige Miene auf. Und während er einen Satz ausspricht, den er – da bin ich mir sicher – extra für den heutigen Tag vorbereitet hat, stolpert er fast über die Bordsteinkante: „Man flaniert, weil es passiert.“
Die ersten hundert Graf-Adolf-Straßen-Meter haben wir geschafft, vorbei an einem Geschäft für Fitnessgeräte, einem Goldschmied, einem Reisebüro und einer Apotheke. Und nun gucken wir in die Röhre.
„Schau an“, sagt mein bester Freund P., „da haben wir sie – unsere erste Passage.“
„Ex-Passage“, sage ich. Denn tatsächlich gleicht der etwa fünf Meter breite und zwanzig Meter ins Hausinnere reichende Kanal im Erdgeschoss des Hauses Nr. 20 eher einem schwarzen Schlund. Bis 1999 war hier der Eingang zu einem der größten und populärsten Lichtspielhäuser der Stadt, dem Residenz-Kino.
„Früher konnte man bis zur Bahnstraße durchspazieren, oder?“, sagt P. „Und in der Mitte ging´s zu den Kinos.“
Inzwischen ist der Eingang meist durch ein Rollgitter verschlossen. Ein Großteil des ehemaligen Kinos mit fünf Sälen ist in der Diskothek „Nachtresidenz“ aufgegangen, die wiederum von der anderen Seite des Häuserblocks erreichbar ist.
„Bis diese Passage reloaded wird, dauert es wohl noch“, sage ich.
Und P. fragt: „Sollen wir jetzt den Kino-Exkurs machen – oder später?“
Worauf er anspielt: Seit dem Aufkommen des Stummfilms galt die Gegend an und entlang der Graf-Adolf-Straße stets als die Kino-Meile der Stadt – bis der Boom der Multiplex-Kinos den Markt umkrempelte.
„Lass uns thematisch vor Ort bleiben“, sage ich und deute auf die beiden prachtvollen Jugendstil-Gebäude in den Häusern Nr. 11 und Nr. 15. Schräg gegenüber, dort wo die Hüttenstraße von der Graf-Adolf-Straße abzweigt.
Und dann erzähle ich, dass die beiden Jugendstilhäuser die einzigen „Überlebenden“ aus dem Ensemble der Essmann’schen Geschäftshäuser sind, die hier um 1894 von zwei Berliner Architekten gebaut wurden, auf dem Gelände der abgerissenen Kopfbahnhöfe und der zu ihnen führenden Eisenbahnschienen.
„Lütgenau!“, sagt mein bester Freund P. und meint das ehemals himmelblau gestrichene Haus Nr. 15, in dessen Erdgeschoss sich heute eine Filiale der Modekette Ulla Popken eingemietet hat. „Da sind wir als Kinder sogar von Neuss aus rüber nach Düsseldorf gefahren, um Spielsachen zu kaufen.“
Wir erinnern uns an Carrera-Bahnen und Playmobil-Figuren aus dem bis 2010 bekanntesten Spielwarengeschäft der Region, und dann sagt P.: „Wer Lütgenau erwähnt, der darf Funkhaus Evertz an der Ecke zur Kö nicht vergessen. Sonst gibt‘s Beschwerden. Weil: Da haben ja Generationen von Düsseldorfern Platten und Hifi-Geräte und Computer gekauft.“
„Okay“, sage ich – ein wenig genervt, weil ich mir innerlich vorstelle, wie man all diese Infos in einem kurzen Text unterbringen soll. „Ist hiermit geschehen, aber nun reichts mit der Nostalgie.“
Aus dem Augenwinkel sehe ich eine blonde Dame Anfang siebzig. Sie trägt ein dunkles, schick-schlichtes Kostüm, und an der Leine führt sie einen Dackel. Ihr Stil erinnert mich an Düsseldorfs Grand Dame Gabriele Henkel, obwohl ich nur so ungefähr weiß, wie Gabriele Henkel aussieht oder ausgesehen hat. Lebt die noch? Ich bin total ungebildet, müsste das mal googeln …
Der Dackel der Frau schnüffelt jedenfalls an der nächstgelegenen Laterne. Fast drei Minuten steht die beiden schon da, in Zwei-Meter-Entfernung zu uns.
Ich drehe mich zu P. und raune: „Du, ich glaube die Frau mit Hund und Sonnenbrille, die hört uns zu.“
„Quatsch“, sagt. P. – etwas zu laut, wie ich finde.
Ich schaue zur Dackel-Frau und treffe ihren Blick.
Sie nickt uns zu, lächelt. Ich lächele zurück, und P. lächelt auch, und dann spazieren wir weiter – zur Kreuzung Graf-Adolf-Straße/Berliner Allee.
Auf dem Weg erklärt P.: „Das ist definitiv eine Fla-neu-rin, die ist komplett entspannt und lässt sich treiben, ganz im Gegensatz zu uns.“
An der Ampel drehen wir uns um. Die Gabriele-Henkel-Doppelgängerin hat derweil gerade mal zehn Meter geschafft. Der Dackel schnüffelt, nimmt in Seelenruhe Geruchsproben, hebt kurz das Bein. Und als er danach immer noch keine Anstalten macht, sich zu bewegen, zieht ihn die schicke blonde Dame sanft weiter.
„Na gut, ich nehme meine Aussage zurück“, sagt P. grinsend „Sie ist es nicht, der Dackel ist es.“
Beim Überqueren der Berliner Allee tippe ich, ohne dass P. es merkt, auf meinem Smartphone eine Frage in die Suchmaske: Hatte Gabriele Henkel einen Hund?
Statt über den Gehweg bewältigen wir den zweiten Block der Graf-Adolf-Straße durch das Gebäude von Edeka Zurheide. Und das Gespräch, das mein bester Freund P. und ich dabei führen – das geht so.
Er: „Woran denkst du?“
Ich: „An Nena.“
Er: „Warum das denn?“
Ich: „Weil ich hier, also bei Horten, also im Keller, also im Untergeschoss, in den 80ern oft Schallplatten gekauft habe, und eine davon war das Debütalbum von Nena. Sonderangebot, nur 9,90 Mark, weil: Zu der Zeit war ja gerade das zweite Nena-Album in die Charts eingestiegen, wodurch das erste billiger wurde.“
Er: „Und wen interessiert das?“
Ich: „Letztens habe ich mich mit einem unterhalten – der hat sich als Kind bei Horten im ersten OG einen Sportbogen ausgeliehen und dann im Erdgeschoss Pfeile auf die Schaufensterpuppen abgeschossen.“
Er: „Schon besser.“
Ich: „Erst kam die Polizei, und dann musste er aufs Internat.“
Während wir an den Edeka-Kassen vorbei spazieren, fällt mir zum ersten Mal auf, dass es sich bei den rund 150 Graf-Adolf-Straßen-Metern vom Zugang Berliner Alle bis zum Zugang Oststraße streng genommen auch um eine Passage handelt. Eine Supermarkt-Passage mit integrierten Lokalen und Geschäften: eine Patisserie, ein italienisches Restaurant, eine Grilltheke, eine Smoothie-Bar, ein Lottogeschäft und ein Blumenladen. Vor der Bäckerei Büsch am Ende der Edeka-Passage hält mein bester Freund P. abrupt an und bestellt sich ein Rosinenmürbchen und einen Kaffee zum Mitnehmen.
Derweil schaue ich mir die Notizen an, die ich mir vorab für diesen Teil unseres Spaziergangs gemacht habe. Es sind so einige. Und: Es sind zu viele. Man könnte mit dem sehr langen, aber nur acht Meter breiten Gebäude beginnen, das hier Ende der 1890er Jahre auf den stillgelegten Gleisen der Bergisch-märkischen-Bahngesellschaft entstand. Eine Art Vergnügungsparadies: Es gab eine „Wunderhalle“ mit wechselnden Attraktionen – vom Musikautomaten bis hin zu den „lebenden Photographien“ der frühen Stummfilmzeit. Und es gab das im maurischen Stil unter dem Einfluss der Kolonialzeit konzipierte „Arabische Café“ im Obergeschoss. Wobei letzteres mit Minarett und Kuppeln die Architektur des Baus prägte und zu einem Wahrzeichen der Straße machte – bis zum Abriss 1928.
Wenn man schon diesen Abriss erwähnte, käme man nicht umhin, auch vom Nachfolgegebäude zu erzählen: Im sogenannten Europahaus wurde nämlich eine Filiale des Deutschen Familienkaufhauses, kurz DeFaKa, installiert – in direkter Nachbarschaft zum Europa-Palast, einem großen Erstaufführungskino. Wenn man dann einmal dabei wäre, könnte man auch noch den Bogen in die Gegenwart schlagen: Denn durch die ab Mitte der fünfziger Jahre neu angelegte Berliner Allee und das in den Sechzigern an Stelle von Europa-Palast und DeFaKa errichtet Warenhaus Horten bekam der Block zwischen Bahnstraße, Oststraße und Graf-Adolf-Straße die heutige Form.
Könnte man alles so machen, denke ich, während wir Edeka Zurheide verlassen und vor der Fußgängerampel an der Ecke Oststraße/Graf-Adolf-Straße auf grün warten. Unvollständig wäre das Bild trotzdem. Weil man einfach nicht alles erwähnen kann, was im Laufe der Geschichte an und auf einer Straße passiert ist – sei es aus historischer oder aus persönlicher Perspektive.
Mein bester Freund zeigt nach rechts, auf die begrünte und mit Vodafone-Werbung garnierte Fassade des Eckhauses. Dann deutet er mit dem Kopf auf das uns gegenüberliegende Ladenlokal. Es hat keinen Mieter, und das Gebäude ist mit Gerüsten maskiert, und ich ahne schon, was mein rosinenmürbchenkauender Begleiter gleich sagen möchte: Dass er genau dort als Kind zu einem Geburtstag in Düsseldorfs erster McDonalds-Filiale eingeladen war. Oder: Dass er dort als Student gerne einen Hamburger verdrückt hat, vor oder nach den Besuchen im Savoy-Kino. So was in der Art.
Stattdessen nimmt P. einen Schluck Pappbecher-Kaffee – und rezitiert einen Songtext: „Ach, Düsseldorf. Du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau. Du kannst so schön schrecklich sein …“
„Ach komm“, unterbreche ich und tue empört. „Das hast du doch geklaut – von einem Berliner geklaut und umgedichtet.“
Und als hätte jemand für diese Szene noch einen Farbtupfer bestellt, rast bei rotgelb eine barbiepinke Stretchlimousine mit dreibuchstabigen Kennzeichen über die Kreuzung …
Weiter. „Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war das hier ein Flanier-Boulevard“, sagt mein bester Freund P., während wir den Blick schweifen lassen. „Die schicke Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Königsallee.“
Dass dieser Eindruck heute nichtmehr aufkommt, liegt sicher auch daran, dass die meisten Jugendstilhäuser an der einst von Linden flankierten Graf-Adolf-Straße nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu retten gewesen und durch schlicht-funktionelle Neubauten ersetzt worden sind. Eines der wenigen Gebäude, die in vereinfachter Form wiederaufgebaut wurden, ist das Savoy-Theater im ehemaligen Haus der Handelskammer. Inzwischen beherbergt es im großen Saal eine Kleinkunstbühne und im Keller das letzte Kino der Straße.
Wir bleiben stehen – vor dem mit Fortuna-Logo verzierten Lokal „Dene & Gör“, das im Döner-Segment Kultstatus genießt, gekrönt von dem so originellen wie zutreffenden Claim: Unser Döner schmeckt super, mit Soße spitze!
Gerade als ich das, was ich für diesen Abschnitt der Graf-Adolf-Straße vorbereitet habe, zum Besten geben möchte, überfällt mich mein Begleiter mit der nächsten Anekdote. Sie spielt im Eduard-Zimmermann-Deutschland, und ich fasse sie mal so kurz wie möglich zusammen. Schauplatz ist eines jener eben erwähnten, nicht gerade schönen Nachkriegsgebäude. Genauer gesagt: die Nummer 45, vis-a-vis zum Döner-Laden, rechts neben dem Savoy, momentan mit leerstehendem Ladenlokal.
In der 1971 spielenden Geschichte aus der Kategorie „Kann man sich nicht ausdenken“ gibt es zwei Täter und ein Opfer: Da sind zum einen der „Panzerknacker“ Paul Kron, in der Ganoven-Szene „Diamanten-Paule“ genannt, und sein Kumpan, der durch Spielschulden belastete Rechtsanwalt Heinz-Joachim Ollenburg. Und da ist zum anderen der Aldi-Mitgründer Theo Albrecht, den das Gangster-Duo vor der Aldi-Zentrale in Herten entführt und anschließend in Ollenburgs Kanzlei an der Graf-Adolf-Straße versteckt. 17 Tage halten die Entführer Albrecht bei laufendem Kanzleibetrieb in einem Hinterzimmer gefangen und rufen die weltweit höchste Lösegeldforderung aller Zeiten auf: sieben Millionen D-Mark.
„Aktenzeichen XY“ berichtet, ganz Deutschland rätselt mit, und die Geldübergabe klappt. Der Entführte kommt frei. Die Täter werden kurz darauf gefasst und gehen für acht Jahre in den Knast. Die Hälfte des Lösegelds ist bis heute verschwunden. Immerhin durfte Theo Albrecht die Summe in seiner Einkommenssteuerklärung als „außergewöhnliche Belastung“ absetzen.
„Und, was wolltest du eben erzählen?“, fragt mein bester Freund P.
Inzwischen stehen wir an der Stelle, wo Bahnstraße und Charlottenstraße sich treffen und gleichzeitig in die Graf-Adolf-Straße münden. Auf den vergangenen hundert Metern haben wir an „unserer“ Straßenseite sechs Lokale passiert: Neben „Dene & Gör“ zunächst den Vietnamesen „Ho Noi Pho“ und das türkische Restaurant „Schwarzes Meer“. Danach das auf Donuts und Waffeln spezialisierte Kitsch-Café „Donecake“ und schließlich zwei Franchise-Filialen: Man könnte hier – rein theoretisch – bei „ÇiğköfteM“ türkische Wraps oder Takos essen und danach bei „Espresso Perfetto“ einen Kaffee trinken. Hinzu kommt das Restaurant „Sila Thai“ im Eck-Altbau der Bahnstraße, rechterhand flankiert vom trendigen Vietnamesen To1980, der wiederum an die Schnellimbisse „Burgery-Pizzary“ und „Urfa Lahmacun“ grenzt. Wer dagegen in die Bahnstraße einbiegt, trifft auf zwei indische, drei chinesische sowie je ein koreanisches und japanisches Restaurant.
„Also, wenn ich das positiv vermarkten müsste“, beginne ich, „so würde ich diesen Abschnitt als die aufstrebende Gastro-Zone der Graf-Adolf-Straße anpreisen. Für alle Geschmäcker was dabei …“
„Aufstrebend?“ P. spielt den Nörgler. „Also, ich habe hier schon vor mindestens 20 Jahren zum ersten Mal thailändisch gegessen.“ Er zeigt auf die Sila-Thai-Fassade: „So oder so ist das der schönste Altbau in der gesamten Innenstadt – besonders, wenn er abends beleuchtet wird.“
Wir betrachten das Haus. Schweigend. Eine Jugendstil-Meditation, gewissermaßen. Bestimmt zwei Minuten geht das so. Ein Mann und eine Frau in Ordnungsamt-Uniform schlendern vorbei. Sie stoppen, folgen unseren Blicken, können sie nicht einordnen. Bis P. das Schweigen bricht und mit erhobenem Zeigefinger leicht spöttisch, aber auch irgendwie ernst verkündet: „Vorsicht, wer ohne erkennbaren Grund stehen bleibt – der macht sich verdächtig.“
Dabei grinst er die beiden Ordnungsamt-Flaneure so einnehmend an, dass die sich ebenfalls zu einem Lächeln durchringen. Im Weggehen antworten die Ordnungsamtfrau und der Ordnungsamtmann in spontanem Einklang mit jener Floskel, die sich in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren an die Spitze der Floskel-Charts gemogelt hat und allzu oft das Gegenteil bedeutet: „Alles gut!“ P. behauptet später sogar, die beiden hätten „Alles gut!“ gesungen. Aber das bildet er sich nur ein …
Am Tag vor unserem Spaziergang bin ich auf ein prägnantes Walter-Benjamin-Zitat gestoßen: Bei seinen Streifzügen strebte der berühmte Flaneur stets nach der „Analyse des kleinen Einzelmoments“ – mit dem Ziel, auf diese Art und Weise „den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken“.
Auf Höhe des Pfeifen- und Zigarrengeschäfts Linzbach beschert uns das „Totalgeschehen“ der Graf-Adolf-Straße einen „Einzelmoment“, den es festzuhalten gilt: Wir passieren – gemächlichen Schrittes – mit Blick auf die Pfeifen im Schaufenster das Geschäft und werden von drei Jugendlichen links liegen gelassen. Sie haben den Blick auf ihre Smartphones gesenkt, jeder für sich – und bewegen sich dennoch im Verbund über das Trottoir. Nur ganz selten schauen sie für Sekundenbruchteile auf, um Kollisionen zu vermeiden. Bei Gegenverkehr fällt einer zurück oder übernimmt die Führung. Danach findet das Trio scheinbar intuitiv zur Reihenformation zurück. Ein digitales „Sondereinsatzkommando“, angepasst an die Umgebung. Parallel zu alldem führen die Teenager eine lebhafte Unterhaltung. Multitasking der Generation Z. Ob sie einem Online-Spiel oder einer digitalen Schnitzeljagd folgen oder unabhängig voneinander durchs Netz surfen – wir wissen es nicht. Mit offenen Mündern schauen wir den synchronisierten Weggefährten hinterher.
„Die Szene lasse ich im Text besser weg“, sage ich. „Damit das nicht so alter-Mann-lästert-über-die-heutige-Jugend-mäßig rüberkommt.“
„Okay Boomer!“, sagt P. beschwichtigend und klopft mir auf die Schulter, als sei ich sein seniler Großvater.
Der Stresemannplatz schenkt uns ein neues Thema. Er kanalisiert den Durchgangsverkehr der Graf-Adolf-Straße in die Karlstraße und lässt den Rest in Scheurenstraße, Mintropstraße oder Stresemannstraße fließen. An einem Knotenpunkt wie diesem bleiben zwangsläufig kleine Areale ungenutzt. Oder, auf Amtsdeutsch übersetzt: Es entstehen „Verkehrsrestflächen“, die üblicherweise mit „Verkehrsbegleitgrün“ verschönert werden. 2007 verpasste die Pflanzenkünstlerin Tita Giese dem Platz ein neues Gesicht. Mit drei Dutzend aus Mexiko importierten Yucca-Palmen schuf sie elf mittelamerikanische Inseln, umrandet durch mit Kies gefüllte Autoreifen.
„Ich liebe es, besonders wenn das Ganze abends mediterrangelb angestrahlt wird“, sagt mein bester Freund P. „Palmenstadt Düsseldorf!“
Ausnahmsweise sind wir uns einig, sind beide Fans der Tita-Giese-Oase. Wer indes Fotos des Pflanzenkunstwerks auf Social Media postet, merkt schnell, wie sehr es polarisiert: Die Kommentare reichen von „Toll, fühl mich wie in Malaga“ über „Gleich fährt Sonny Crockett mit seinem Ferrari vorbei“ bis hin zu „hässliches Altreifenlager“, „insolvente Kartbahn“ und „Ich verstehe den Sinn nicht.“ Mit anderen Worten: Das Kunstwerk hat sein Ziel erreicht. Es bewegt …

Wir wechseln von Mexiko nach Indien – in den „Big Bazar“ an der Ecke Stresemannstraße/Stresemannplatz. Mein unberechenbarer Freund P. möchte, „wo wir schon mal hier sind“, nebenbei einen Einkauf erledigen. In dem Supermarkt für „ayurvedische & internationale Lebensmittel“ strebt er zielsicher durch die Gänge, vorbei an frischem Gemüse, an Masala-Pasten, Curry-Pasten und Chillisaucen – bis zu den Reissäcken. Die vor ihm gestapelten Packungen sind die größten im Laden. 20 Kilo für 54,99 Euro. P. zögert kurz, dann – „wenn schon denn schon“ – wuchtet er sich einen Sack mit der Aufschrift „Extra Long Basmati Rice“ auf die Schulter, strebt zur Kasse und zahlt. Eine zweiminütige Sack-Reis-Intervention.
An der anderen Seite des Stresemannplatzes springt uns weiß auf knallrot der Name eines weiteren Geschäfts ins Auge: Erdbeermund Erotic Store. Aufschriften am Eingang: „Toys, Dessous & vieles Mehr“ sowie „DVD‘s ab 3,99“. Und: „Erlebnis-Shopping auf über 200 Quadratmetern“. Gemeinsam mit drei Sexshops, zwei Tabledance-Bars, dem Nightclub „Klein Paris“ und einen Erotik-Kino ist das Ladenlokal Teil des Mini-Rotlichtbezirks zwischen Graf-Adolf-Straße, Mintropplatz und Stresemannplatz – oder dem, was davon übrig ist.

„Das sparen wir uns“, sagt P. und setzt einen streng-ironischen Blick auf.
„Immerhin wärst du der erste, der da mit einem Zwanzig-Kilo-Sack Reis reinmarschiert“, sage ich.
Wäre dieser Text doppelt so lang, so könnten wir nun einen Streifzug entlang der Scheurenstraße unternehmen. Vorbei an der Cocktail-Bar Ellington, einem Sportwetten-Café und einer Rewe-Filiale. Vorbei an einer Shisha-Bar, einem marokkanischen Gemüsehändler und einem Schnell-Friseur – bis hin zum alteingesessenen Luxusküchenfachgeschäft Thelen.
Ebenso könnten wir an der anderen Seite des Platzes, beim „Big Bazar“ in die Stresemannstraße einbiegen, die sich – so schrieb ein lokales Szene-Magazin – von der „milieubestaubten Innenstadtstraße zu einer hippen New Area gemausert“ hat.
Vor dem Erotic Store Erdbeermund und der gegenüberliegenden öffentlichen Toilette auf dem Areal einer ehemaligen Tankstelle tummeln sich auch an diesem Nachmittag Menschen, die für derlei Luxus-Optionen keinen Kopf haben. Eine Frau sitzt apathisch am Boden, hat für den neben ihr liegenden Hund eine Decke ausgebreitet. Andere halten auf einer Bank ein Nickerchen, stehen scheinbar unschlüssig herum, telefonieren oder unterhalten sich in kleinen Gruppen.
Stadtplaner diskutieren gerne über „Verweilqualitäten“. Jenes Kriterium, das bestimmt, wie anziehend und behaglich ein urbaner Ort ist und ob er die Menschen zu einem längeren Aufenthalt einlädt. Der südliche Teil des Stresemannplatzes ist die Antithese dazu: Es gibt Menschen, die hier täglich mehrere Stunden verbringen. Menschen, deren Alltag aus Warten zu bestehen scheint. Warten, bis die benachbarten Notschlafstellen für Obdachlose öffnen. Warten auf den Dealer. Warten, dass die Zeit vergeht. Kurzum: Dies ist der traurigste Abschnitt der Graf-Adolf-Straße. Die zweite Heimat der Heimatlosen. Nicht im Traum würde einer von ihnen auf die Idee kommen, nur so zum Spaß in einem indischen Supermarkt einzukaufen. Ich schaue P. an – und den Sack Reis auf seiner Schulter.
„Komm“, sagt er. „Lass mal weitergehen“.
Am Stresemannplatz biegen wir in die Mintropstraße ein. Wollte man Besuchern der Stadt eine Straße zeigen, die übliche Düsseldorf-Klischees konterkariert und üblichen Bahnhofsviertel-Klischees am nächsten kommt, so wäre es diese. In den wenigen schönen Jugendstilhäusern und den oft vernachlässigten Nachkriegsbauten haben sich Table-Dance-Clubs, Wettbüros, Spielhallen und ein Shisha-Fachgeschäft angesiedelt. Nach rund hundert Metern stehen wir vor dem Haus Nr. 16. Ein von gelben Kacheln umgebener Tor-Eingang. Nichts deutet darauf hin, dass hier ab 1970 eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der Popmusik geschrieben worden ist.
Schaut man vom Durchgang zum Hof zurück, so fallen die Beschriftungen des Hamams „Sahara Wellness“ und der Café-Patisserie „El Bahia“ an der anderen Straßenseite ins Auge. Tritt man in den Hinterhof, so erkennt man in der rechten Ecke eine über vier Stufen erreichbare Terrasse. Neben Pflanzenkübeln steht ein kegelförmiges Verkehrshütchen – das inoffizielle Symbol der Düsseldorfer Band Kraftwerk. Auch das rote Firmenlogo über der Tür wissen Fans zu deuten: Elektro Müller. Hier war er – der Zugang zum Soundlabor der „Godfathers of Techno“.
„Okay, das reicht“, sagt mein musikbegeisterter Freund P. „Über Kraftwerks Kling-Klang-Studio ist mittlerweile so viel geschrieben worden – da müssen wir jetzt nicht auch noch unseren Senf dazugeben.“
„Aber du hast doch eben großspurig angekündigt, du hättest noch eine wenig bekannte Kraftwerk-Anekdote auf Lager“, sage ich. „Sogar mit Verbindung zur Graf-Adolf-Straße.“
P. lächelt verschwörerisch und zeigt Richtung Ausgang. „Ja, aber die erzähle ich vor Ort, und der Weg vom Kling-Klang-Studio dorthin – der ist Teil der Story.“
Zwei Minuten später. Vor dem Eckhaus Stresemannplatz 4 hält mein bester Freund an – leicht erschöpft, denn so einen 20-Kilo-Sack Basmatireis mit sich zu schleppen, das ist anstrengender als erhofft.
„Am liebsten würde ich hier einen Kaffee mit Palmenblick trinken“, sagt er und deutet mit dem Kopf auf die Terrasse der Kaffeebar. Das Lokal gehört zur „Code Agency“, die nebenan in ihren Escape-Rooms interaktive Abenteuer- und Rätselspiele anbietet.
„Lass uns erst mal unsere Tour zu Ende bringen“, sage ich, während die Straßenbahnlinie 709 Richtung Hauptbahnhof vorbeifährt.
P. wuchtet den Sack Reis von der rechten auf die linke Schulter, und dann überqueren wir die Graf-Adolf-Straße, die ab hier für den Durchgangsverkehr gesperrt ist. Ein paar Meter weiter, am Haus Nummer 92, in dem ein Hotel untergebracht ist, bleiben wir stehen: Auf der Gedenktafel ist Gustaf Gründgens in seiner Rolle als Hamlet zu sehen. Darunter steht: „Der bedeutendste deutsche Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter unseres Jahrhunderts wurde hier am 22. Dezember 1899 geboren.“

„Schau mal, die Tafel wurde 1984 angebracht“, sagt mein Begleiter. „Mit der Jahreszahl könntest du überleiten – zum nächsten Thema.
Worauf er hinauswill: 1984 wurde schräg gegenüber, an der Graf-Adolf-Straße 83-87, an Stelle eines Kinos jenes Tanzlokal eröffnet, in dem viele Düsseldorfer aus unserer Generation ihre ersten Ausgeherfahrungen machten: die Bhaggy-Disco. Betrieben von den Anhängern der Bhagwan-Bewegung des Inders Chandra Mohan Jain, der sich selbst „Osho“ nannte. Viele Eltern waren in Aufruhr: Wird mein Kind dort für eine Sekte rekrutiert? Doch letztlich ging es den Sanyassins nur um eines: Geld zu verdienen. Um die Jahrtausendwende war Schluss damit. Bis 2023 übernahm ein biederes Vier-Sterne-Hotel die Räumlichkeiten. Und seit ein paar Monaten, so auch heute, wird renoviert. Der kommende Mieter: Ein Design-Hotel.
Ein paar Häuser weiter, vor einer wenig charmanten Mischung aus Büdchen und Kaffeebude, erzählt mein bester Freund P. endlich die angekündigte „Kraftwerk-Anekdote“: Sie dreht sich um Florian Schneider-Esleben, einen der beiden Kraftwerk Gründer, und dessen Beziehung zur Graf-Adolf-Straße 98. Die jüngere Geschichte des Hauses geht so: Im Jahr 1963 übernimmt die italienische Familie Comune hier den „Löwenbräuhof“ – und bietet neben Schnitzel, Bockwurst und Co mit als erste in Düsseldorf original italienische Spaghetti Bolognese an. Mitte der Siebziger ändern die Comunes den Namen in „Da Paolo“, mit dem Vater der Familie als Namenspaten. Unter den Gästen sind viele italienische und spanische „Gastarbeiter“ der ersten Generation, die bei der nahegelegenen Post arbeiten.
Auch die Künstler aus dem Atelierhaus um die Ecke entdecken das Lokal für sich. Kreative Nähe: Das Atelierhaus-Grundstück an der Harkortstraße 7, wo unter anderem die Akademieklasse von Gerhard Richter sitzt, grenzt rückwärtig an das Kling-Klang-Studio. Florian Schneider besucht das „Da Paolo“ sporadisch ab Ende der Neunziger Jahre. Inzwischen ist es zu einer klassischen Bahnhofsmilieukneipe mutiert. Mario, der Sohn der Familie Comune, dreht 2003 das Ambiente um 180 Grad und eröffnet an gleicher Stelle eine Kaffeebar mit Bohemian-Flair und italienischen Gerichten. Ein grünes Sofa, ochsenblutroter Holzboden, mehrere alte Sessel, ein Klavier – das Shabby-Chic-Ambiente im Caffè Enuma zieht „neues“ Publikum an. Künstler, Schauspieler, Tänzer und Kreative. Ein Ort der Zusammenkunft: Es herrscht Telefonier- und Laptopverbot. Aber auch: ein Refugium für Einzelgänger.
Florian Schneider wird Stammgast, erscheint stets allein, setzt sich an einen Ecktisch und schlägt seine Tageszeitung auf. Zum Trinken bestellt er Kaffee Schwarz, zum Essen Pasta Arrabbiata. Die Anonymität eines Weltstars: Selbst in seiner Heimatstadt Düsseldorf wird er selten erkannt und schon gar nicht angesprochen. Als Kraftwerk 2009 ihr Studio nach Meerbusch-Osterath verlegen, verlässt Florian Schneider die Band. Das Kling-Klang-Studio bleibt noch für einige Jahre seine musikalische Heimat. Und das Caffè Enuma: Zieht 2013 um, von der Graf-Adolf-Straße an die Brunnenstraße. Auch am neuen Standort in Bilk bleibt Schneider dem Lokal treu – für rund sieben Jahre. Im März 2020 öffnet das Caffè Enuma zum letzten Mal. Da ist Florian Schneider bereits schwer erkrankt. Einen Monat später stirbt er, im Alter von 73 Jahren.
Unsere Tour endet vor dem Stammhaus des anatolischen Restaurants Anadolu. Seit 1988 gibt es das Lokal – eine der Konstanten entlang der Graf-Adolf-Straße, wobei die Adresse offiziell bereits zum Konrad-Adenauer-Platz gehört.
„Du, wir sollten langsam zum Schluss kommen“, sagt mein bester Freund P. „Ich muss gleich meinen Sohn zum Fußballtraining begleiten.“
Kurz darauf stehen wir mitten im Vorplatztrubel des Hauptbahnhofs. Ich fotografiere den ortsansässigen „Säulenheiligen“ – eine der übers Stadtgebiet verstreuten Skulpturen des Künstlers Christoph Pöggeler. In diesem Fall ist der Fotografierte selbst ein Fotograf. Er thront auf einer Litfaßsäule mit Lidl-Werbung.

„Eigentlich müssten wir jetzt noch über Litfaßsäulen als Evergreen des urbanen Lebens diskutieren“, sage ich. „Und über Kunst im urbanen Raum.“
„Boah ej, ich hab jetzt echt keine Zeit mehr, schlau daher zur reden“, sagt P. feixend.
„Gib mir noch drei Minuten“, sage ich. Und dann zitiere ich eine Buchpassage aus dem Jahr 1928. Damals nämlich brachte der Piper-Verlag die Reihe Was nicht im Baedeker steht heraus – eine feuilletonistische Antwort auf den Prototyp des Reiseführers. In der Gemeinschaftsausgabe für Köln, Düsseldorf und Bonn schrieb der Autor Hermann von Wedderkop über seinen ersten Eindruck eben jenes Ortes, an dem wir in diesem Moment stehen: Wie auch in anderen deutschen Großstädten, so biete sich in Düsseldorf ein „unerfreuliches, tristes, graues Bild“, wenn man aus der Bahnhofshalle trete. „Monster-Architektur der neunziger Jahre, also falsch verstandene Renaissance, falsch verstandenes Barock, vor allem alles in billiger Ausführung, kurzum Dinge, die einem durch ihre Verkorkstheit in schlechte Laune versetzen.“ Ein Bahnhofsvorplatz könne im Idealfall ein „munteres schönes Entrée“ sein, doch stattdessen verströme er „eine enorme Ödigkeit“ und sage „nicht das Geringste über das aus, was einem bevorsteht.“
„Ist das nicht kurios“, resümiere ich, „dass jemand vor rund hundert Jahren ausgerechnet die Architektur kritisiert, die heute gefeiert wird, wenn man sie auf alten Fotos oder Postkarten sieht?“
Mein auf das Fußballtraining seines Sohnes fixierter Freund P. schaut auf die Uhr. Ich betrachte sein dunkelblaues Polo-Shirt, zeige auf das grüne Krokodil-Logo und wage einen letzten Konversationsversuch: „Wenn Lacoste stattdessen eine Schildkröte als Markenzeichen auserkoren hätte, wäre das die perfekte Steilvorlage für ein flaneurmäßiges Schlusswort gewesen. Als Symbol für Müßiggang und Entschleunigung und so weiter, du weißt schon …“
Mein Begleiter reagiert nicht, schaut nervös zur Straßenbahnhaltestelle. Dann sagt er „Hat Spaß gemacht, ich muss los, wir telefonieren“ und rennt so schnell das eben geht, wenn man 20 Kilogramm Reis auf der Schulter trägt, zur soeben eingefahrenen Linie 709. Schwuppdiwupp ist er mit seiner Basmati-Beute auf den Heimweg Richtung Unterbilk. Entlang der Graf-Adolf-Straße …