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Krümeln auf der Kö

Lange bevor der Brunch erfunden wurde, frühstückte man gern im Café Heinemann. Nicht zuletzt, weil es außer Kaffee, Brötchen, Wurst und Schinken immer was zu gucken gab. Und weil Erinnerungen wach werden an eine Reise zweier Mädchen aus dem Sauerland nach Düsseldorf.

Veröffentlicht am 25. Januar 2022
FrŸhstŸck bei Heinemann
Das freut die Küche: leere Teller, nur noch Krümel sind geblieben. Foto: Andreas Endermann

Das letzte Frühstück in der Konditorei Heinemann ist mindestens vier Jahre her. Ich frage mich gerade: Warum? Damals bestellte ich gern das Studenten-Frühstück. Schinken, Gouda, Konfitüre, Butter, Freiland-Ei, appetitlich arrangiert auf einer Etagere, mit Brötchen, Brot und einem Cappuccino. Um mein Frühstück zu bekommen, musste ich keinen Studentenausweis vorlegen, einen Impfnachweis schon gar nicht. Das waren noch Zeiten!

Und wie sind sie nun? Nach Avocado-Mandelmilch-Quinoa-Bowl, Eierspeisen mit Sucuk, Mango Smoothie, Pancakes mit Ahornsirup, oder was das Düsseldorfer Frühstücksangebot mir sonst für gewöhnlich bietet, steht mir heute nicht der Sinn. Bei Heinemann gibt es das auch gar nicht. Genau deshalb gehe ich ins Café im ersten Stock der Konditorei in der Kö-Passage.

Das Gefummel nach dem QR-Code auf dem Smartphone und dem Ausweis, um meinen Zutritt zu legitimieren, hat mich wieder ein bisschen unter Stress gesetzt. Doch jetzt, wo Mantel und Schal an der Garderobe hängen, der Mund-Nase-Schutz verstaut ist, ich die Speisekarte studiere, komme ich so langsam an. Bis auf das pandemiebedingte Kontrollprozedere ist hier alles unverändert. Die Bedienungen in ihren schwarz-weißen gestärkten Schürzen sind freundlich. Stammgäste werden herzlich begrüßt, als seien sie Teil der großen Heinemann-Familie. Ich bin kein Stammgast, werde aber auf unprätentiöse Art wie einer behandelt und fühle mich willkommen.

Ich bestelle einen Cappuccino und zwei Brötchenhälften mit Roastbeef, Butter und (jawoll!) selbstgemachter Remoulade. „Butter allein reicht ja nicht“, seufze ich und beiße mit Genuss in mein Brötchen. Es schmeckt perfekt. Das Fleisch ist weder zu roh noch zu trocken, das Brötchen knusprig, aber nicht so, dass ich um meine teilüberkronten Zähne fürchten muss. Mein Platz ist ebenfalls gut gewählt. Ich beobachte das Miteinander von Angestellten und Gästen. Meine Serviererin checkt gerade die Nachweise und lobt die Jacke eines weiblichen Gastes. Ihr Verhältnis zum Thema Pelz ist offenbar unverkrampfter als meins. Während ich mich durch den Milchschaum schlürfe, klimpert im Hintergrund leichte Klaviermusik, ab und an übertönt das Keuchen des Kaffeevollautomaten die Musik. Die zahlreichen Mitarbeiter:innen gehen flink durch die Räumlichkeiten, den Blick aufmerksam auf die Gäste gerichtet. Sie verschwinden mit abgeräumtem Geschirr durch die linke Schwenktür in der Küche und kommen kurz danach mit vollen Tabletts durch die rechte wieder heraus. Für kurze Gespräche ist – bei aller Geschwindigkeit – immer Zeit. Ein Schwätzchen hier, eine Verabschiedung da. „Bis morgen!“

All das hier gemahnt an die Choreografie von Fernsehballetts großer TV-Shows der 70er und 80er Jahre. Gleich kommt Harald Juhnke im Smoking durch die rechte Schwenktür, flankiert von reizenden Damen und Herren in schwarz-weißen Schürzen (auch ein paar Stammgäste haben sich untergehakt). Alle heben synchron die Beine nach links und rechts, die Angestellten tragen Silbertabletts mit Tee- und Kaffeetassen. Sie lächeln und verschütten keinen einzigen Tropfen.

Apropos Harald Juhnke: Sitzt denn heute keine bekannte Person aus Funk und Fernsehen im Café? Am Treppenaufgang, der in den ersten Stock führt, hängen einige Bilder von berühmten Besuchern. Ich schalte meine Promi-Antennen auf Empfang und lasse meine Blicke durch die Räume gleiten.

Da! An einem Tisch hinten im Wintergarten plaudern eine weibliche und männliche Bedienung angeregt mit einem Gast. Er wirkt irgendwie prominent. Sitzt allein an seinem Tisch, aber seine Körpersprache und seine Oberarme brauchen Platz für vier Personen. Wer könnte das sein? Entweder hat H.P. Baxxter von Scooter die auftrittlose Zeit mit reichlich Hanteltraining verbracht, Ralf Moeller seinen tätowierten jüngeren Bruder vorbeigeschickt oder Prinz Frédéric von Anhalt wieder gegen Geld einen blondierten Herrn mit Aknenarben aus der Halbwelt adoptiert. Ich grübele, um welche Berühmtheit es sich handeln könnte, komme aber ums Verrecken nicht drauf.

Stattdessen erinnern mich dieser Cafébesuch und die Aknenarben an einen Herbsttag anno 1985, als ich in Karottenjeans und mit einem asymmetrischen Haarschnitt (von dem es gottlob keine Fotos mehr gibt) gemeinsam mit meiner Freundin Marijke der hochsauerländischen Provinz entfloh. Wir fuhren mit dem Zug vom Heimatort Willingen nach Düsseldorf. Diese Stadt erschien uns gerade mondän genug für zwei 16jährige, die immerhin schon in der Vogue geblättert hatten und sich regelmäßig mit Lagerfeld besprühten. In Düsseldorf wollten wir bummeln, schicke Cafés aufsuchen und Klamotten kaufen. Von „Shoppen“ war Mitte der 80er noch keine Rede. Wir kannten uns überhaupt nicht in der rheinischen Metropole aus, fragten uns vom Hauptbahnhof zur Königsallee durch. Beim Blick auf die Preisschilder in den Schaufenstern der Edelboutiquen wurde uns schnell klar, dass die Waren nicht unserem Budget entsprachen. Aber wenigstens frühstücken zwischen all dem Glamour wollten wir.

Frühstücken gehen kam damals gerade erst in Mode. Ich bin mir nicht ganz sicher, welches der Traditionscafés, die es schon seit vielen Jahren nicht mehr gibt, wir wählten, glaube aber, wir nahmen in der Café-Konditorei Hemesath Platz. Natürlich direkt am Fenster, sehen und gesehen werden war uns wichtig. Wozu hatten wir uns denn den perlmuttfarbenen Lippenstift gekauft? Sehr nasal bestellten wir Croissants mit Erdbeerkonfitüre und Café au lait, der dem Filterkaffee langsam den Rang ablief, holten uns Modemagazine an den Tisch und begannen uns sehr düsseldorferinnenhaft zu fühlen.

Ein Mann mittleren Alters mit grobporiger Haut setzte ich an einen der Tische an der Wand schräg gegenüber. Er war in Begleitung eines Kleinkindes, dem er ein Croissant bestellte. Er selbst trank Kaffee. Schwarz. Meine Promi-Antennen reagierten prompt. Ich sah meine Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an und wies mit dem Kopf leicht nach links. Marijke reagierte nicht. Mit dem Fuß stieß ich unter dem Tisch gegen ihr Schienbein. „Aua!“ Endlich guckte meine Freundin. Ich wies wieder mit dem Kopf an den Nachbartisch. „Was ist denn?“ Meine Lippen formten sehr akzentuiert, aber lautlos JÜRGEN PROCHNOW. Wieder die Kopfbewegung nach links. Wieder ein stummes JÜRGEN PROCHNOW. Herrje, verstand sie denn nicht, dass ein deutscher Hollywoodstar am Nachbartisch saß? Mit Blätterteigkrümelchen im Mundwinkel flüsterte ich ihr ins Ohr: „Da vorne sitzt Jürgen Prochnow, der Mann mit dem Kind.“ Nun weiteten sich die Augen meiner Freundin. Wir hatten den Schauspieler doch gerade erst in Der Bulle und das Mädchen im Kino gesehen, und als KaLeu in Petersens Das Boot.

Da wir in Willingen, von ein paar olympischen Skispringern und Bata Illic mal abgesehen, selten Begegnungen mit Prominenten hatten, waren wir bereits jetzt sehr zufrieden mit unserem Düsseldorf-Besuch. Heutzutage hätten Teenager vermutlich ihr Smartphone gezückt und um Selfies gebeten. Wir hatten seinerzeit noch keine Mobiltelefone, schon gar keine, die Fotos machten. Es war viel cooler, einen desinteressierten Eindruck zu machen und über die Modemagazine zu schielen. Ich fürchte, dass wir uns auffällig unauffällig benahmen. Wir redeten extra laut über unser Einkaufspläne und schauten schnell weg, wenn Herr Prochnow guckte. Als er dann noch flink sein Kind auf dem Kaffeehaustisch wickelte, blieb uns die Spucke weg. Dass der sich das traute. Nachdem der Hollywoodstar die Windel in der Herrentoilette entsorgt hatte, zahlte er und ging.

Nach diesem Erlebnis und dem französischen Frühstück verließen wir gestärkt das Café auf der Kö und erkundeten die Stadt. Im Schuhhaus Juppen kauften Marijke und ich uns Cowboystiefeletten aus Wildleder und auf der Flingerstraße Strickpullover mit bunten grafischen Mustern. Zum Rhein gingen wir selbstverständlich auch. Das Rheinufer gefiel uns gar nicht mit all dem Autoverkehr auf der vierspurigen Straße. Mit der Mata-Hari-Passage hatten wir wiederum einen sehr spannenden Ort entdeckt. Boutiquen, Friseur, Plattenladen und mittendrin eine Bar, an der im pinkroten Zwielicht Menschen am Nachmittag Sekt tranken. Irre. Beladen mit unseren Einkaufstüten gingen wir zurück zum Hauptbahnhof und stiegen erschöpft in den Zug, der uns zurück ins Hochsauerland brachte.

Vermutlich war dieser Ausflug ein Grund, warum ich mich 1991 dazu entschloss, meine Ausbildung in Düsseldorf zu machen. Meine Promi-Antennen sind immer noch ausgefahren. Einen Hollywoodstar habe ich seitdem jedoch nicht mehr gesehen. Nur Frank Zander beim Jazz-Frühschoppen bei Maaßen im Hafen. Den gibt es auch nicht mehr. Also, den Frühschoppen. Genauso wie das Café Hemesath, das 1992 schloss.

Aber die Kö-Galerie, die gibt es noch. Dort bin ich einmal Elton John beim Einkaufen begegnet. Das war Ende der 90er.

Da hieß Einkaufen schon Shoppen.


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