Früher Fabrik von Liesegang, heute Heimat für Kreative

„Liesegang Projektion“ – das ist heute noch deutlich zu lesen auf der Rückfront des Industriebaus in Höhe des S-Bahnhofes Völklinger Straße ebenso wie am Haupteingang an der Volmerswerther Straße 21. Seit 1926 war dort das traditionsreiche Unternehmen ansässig, bis 2002 wurden Dia- und später Overheadprojektoren in Unterbilk montiert und getestet. Auch die Firmenverwaltung hatte dort ihre repräsentativen Räume. Liesegang-Produkte gibt es noch, allerdings werden sie nicht mehr in Düsseldorf produziert. Das Familienunternehmen ist Historie, die Gebäude blieben.
Orientierung geben die Treppenhausnummern 1 bis 5. Der gesamte Komplex gehört heute einem hessischen Recyclingunternehmen, dem Hauptvermieter. In der Liesegang haben gleich mehrere Schreiner und ein Maler ihre Werkstätten. Außerdem ist die alte Fabrik Adresse von Architekten, Textern, einem griechischen Feinkostladen und einem Online-Buchhandel. Die Vielseitigkeit der dort arbeitenden Menschen komplettieren Designerinnen, Künstlerinnen und Künstler. Manche Etagen haben sich zu Coworking-Spaces entwickelt, aber eben mit historischem Flair. Mit Räumen, die die Mieter*innen gemeinsam nutzen, sei es zum Mittagessen oder für kulturelle Veranstaltungen.
Im Treppenhaus 2, holzgetäfelt, erinnert gleich am Eingang noch die Stechuhr an die Geschichte des Hauses. An ihr vorbei führt der Weg in die nächste Etage. Dort ist Peter Ripka seit sechs Jahren glücklicher Mieter. Der Grafikdesigner blickt aus seinem Arbeitsraum auf den S-Bahnhof. Er gestaltet noch Künstler-Kataloge, doch das Büro des Werbefachmanns entwickelte sich in den Jahren immer mehr zum Atelier, in dem Ripka (Jahrgang 1954) seiner Passion, der Bildhauerei nachgeht. „Hier arbeite ich mit Ton“, erklärt er.
Mit einem weiteren „Liesegang“-Künstler, dem Keramiker Ulrich Schmitz, hat er eine Topf-Serie geschaffen, auf deren Deckeln ein Ton-Eselchen thront. Die Serie entwickelte Ripka weiter, bietet auf Bestellung Urnen für verstorbene Hunde an. Fotos der Tiere dienen ihm als Vorlage für die Tonfigur, die er auf die Urne setzt. Eine seiner jüngsten Arbeiten fällt im Atelier besonders auf: ein Beuys-Kopf mit Hut. „Ich habe mir im Beuys-Jahr vorgenommen, mich mehr mit ihm zu beschäftigen.“ Eine Bronzefigur soll folgen. Dafür hat sich Ripka erfolgreich für ein projektbezogenes Künstler-Stipendium aus der Corona-Nothilfe des Landes NRW beworben.
Ein Stockwerk höher in Treppenhaus 2 hat Ripkas Ehefrau Hilli Hassemer ihr Atelier. „Das ist die ehemalige Hausmeisterwohnung“, sagt die Kunsterzieherin und Malerin, die unter anderem in Nîmes und an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Seit zwölf Jahren ist die freischaffende Künstlerin hier Mieterin. Zum Gespräch, das zufällig auf den 20. Hochzeitstag dieses so entspannt wirkenden Paares fällt, sitzen wir in einer kleinen Küche. Mit Blick auf das riesige Baufeld, das an das Liesegang-Grundstück angrenzt. Schon seit Jahren befürchtet die Künstlerin, auch die ehemalige Fabrik werde „aufgeschickt“. Denn bereits zweimal musste die 54-Jährige in Düsseldorf ihre Ateliers aufgeben, Bauprojekten und städtebaulichem Wandel weichen. Das erste Mal im Hafen, ihr Atelier befand sich damals dort, wo die Gehry-Bauten stehen. Das zweite Mal in Oberbilk, auf dem Grundstück befinden sich heute Amts- und Landgericht.
Tatsächlich gibt es für das 1,8 Hektar große Gelände, auf dem die alte Fabrik den nördlichen Riegel darstellt, seit 2006 Pläne für Wohnungsbau. Nach einem Investorenwechsel haben sie zuletzt konkretere Formen angenommen. Zwischen Gladbacher-, Volmerswerther- und Völklinger Straße sollen etwa 230 Wohnungen und eine Kindertagesstätte gebaut werden. Auf einem Schild an der Volmerswerther Straße werden bereits die rund 130 geplanten Eigentumswohnungen mit dem kuriosen Projektnamen „DU! Unterbilk“ beworben, die 2024 fertig werden sollen. Der Bebauungsplan lässt erkennen, dass die ehemalige Liesegang-Fabrik stehen bleiben soll: Ganz pragmatisch, weil der Gebäuderiegel als Lärmschutz zur Bahnstrecke dient, aber ebenso als „kreatives Quartier“, für das Bestandsschutz angedacht wird.
Doch noch ist das Bauland frei. Und das hat das Künstlerpaar nun zur gemeinsamen Aktion inspiriert. Ripka, der in seinem zweiten Atelier auf dem Böhler-Gelände große Holzskulpturen mit der Kettensäge schnitzt, hat gerade ein Ausstellungsstück zurückbekommen. Es ist „Poseidons Tochter“, eine viereinhalb Meter lange Fischgräte, die in Projektarbeit mit der Bildhauerin Gudrun Schuster entstand. Das Objekt aus Nadelholz liegt nun auf dem Baugrundstück, als Kunst im eingezäunten öffentlichen Raum. Den nutzte auch Hilli Hassemer: Sie streute vor einigen Wochen Wildblumensamen aus, jetzt erkennt man die ersten zarten Pflänzchen, die kreisförmig rund um die Fischgräte wachsen. Fünf Kreise sind es. Kreise als Verbindung und als Netzwerk seien ein Motiv ihrer Arbeit, sagt sie. Während andere leere Bierflaschen auf das Grundstück werfen, möchte sie mit der Aktion „künstlerische Spuren“ hinterlassen.
Zu sehen sind die Fischgräte und Kreise, die im August blühen werden, vom Parkplatz des Liesegang-Geländes aus. Ein temporäres Werk, das irgendwann dem Neubau weichen wird. Doch das Künstlerpaar sieht die Entwicklung „mit Wohlwollen“, will die künftigen Nachbarn gerne als Publikum oder Kunden gewinnen und hofft, dass in die neuen Wohnungen „auch Kunst einzieht“. Nach den stillen Monaten während der Corona-Pandemie plant die Gemeinschaft, alle Ateliers in der alten Liesegang-Fabrik wieder an einem Wochenende Ende November für Publikum zu öffnen. Dabei sind auch Hassemer und Ripka, der sagt: „Die Liesegang ist für mich ein sehr emotionaler Arbeitsplatz geworden.“
Weitere Infos über das Künstlerpaar und seine Arbeiten gibt es unter www.hillihassemer.de und www.peterripka.de.