Ehre für Ehra

Der 82. Jahrestag war ein besonderer. Düsseldorf erinnerte am 16. Mai wie in den Jahren zuvor an die Deportation und Ermordung von Sinti. Die Figur „Ehra – Kind mit Ball“ am Alten Hafen war diesmal aber mehr als ein Symbol. Oberbürgermeister Keller berichtete in seiner Rede erstmals ausführlich über die Geschichte des Mädchens, das der Künstler Otto Pankok mit dieser Skulptur porträtierte. Ehra wurde 1921 geboren, am 16. Mai 1940 deportiert und überstand den Völkermord an den Sinti und Roma im besetzten Polen unter dramatischen Umständen. Sie kehrte nicht nach Düsseldorf zurück und lebte noch bis 1994.
Die Geschichte hinter dem Kunstwerk hat mich neugierig gemacht und ich bin auf die Geschichte hinter der Geschichte gestoßen. Es gibt inzwischen viel Wissen über Ehra und andere Mitglieder der Sinti-Community der 30er-Jahre. Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte, hat mir erzählt, wie sein Team Puzzlestück für Puzzlestück die Lebensläufe der Menschen zusammengesetzt hat. Die Ergebnisse dieser detektivischen Arbeit werden ab Oktober in einer ungewöhnlichen Otto-Pankok-Ausstellung zu sehen sein.
Ungewöhnlich ist die Ausstellung, weil die Kunstwerke eine Nebenrolle spielen. Die Mahn- und Gedenkstätte zeigt sie zwar, aber nicht so, wie sie schon oft zu sehen waren. In den vielen Schauen der vergangenen Jahrzehnte stand die Biografie des Künstlers an der Wand, seine Arbeiten wurden gelobt und diskutiert, aber niemand stellte die Frage „Wer sind die Menschen, die Pankok porträtiert hat?“. Die Mahn- und Gedenkstätte hat diese Frage gestellt und arbeitet seit gut zwei Jahren an den Antworten. Die Fundstücke zu den Personen stehen deshalb im Mittelpunkt der Schau im Oktober. Die Zeichnungen und Radierungen sind nur ein Element der Biografien, die man dort kennenlernen wird.
Auch wenn Otto Pankok nicht so wichtig für die Ausstellung ist, muss man doch verstehen, wie seine Werke entstanden sind. Im Düsseldorfer Norden, in Unterrath, gab es Ende der 20er und Anfang der 30er-Jahre das Heinefeld. Freundlich formuliert eine „informelle Siedlung“, härter gesprochen das größte „Slum“ der Weimarer Republik. Dort lebten Arme und Wohnungslose, darunter viele Sinti und Roma. Otto Pankok mietete sich im Heinefeld (der Name geht auf einen Bauern aus dem Düsseldorfer Norden zurück, nicht auf den Dichter) einen kleinen Hühnerstall, radelte morgens von Oberkassel nach Unterrath und wollte eigentlich Äpfel, Vasen und Katzen malen.
Dann aber kamen die Kinder des Heinefelds gucken, was der Mann da macht, ihnen folgten die Erwachsenen. Die Menschen des Heinefelds vertrauten Otto Pankok, es entstanden besondere Freundschaften, deshalb zeichnete und malte der Künstler schon bald Kinder und Erwachsene statt Äpfel, Vasen und Katzen.
Die Bilder, die damals entstanden, tragen die Namen der Porträtierten: Ringela, Gaisa, Papelon, Herteli. Es sind allerdings Ruf- und Spitznamen in der Sprache Romanes, nicht die Namen, die die Väter beim Standesamt angaben. Diese Namen kannten die Träger zum Teil nicht einmal. Für die Mitarbeiter:innen der Mahn- und Gedenkstätte lag genau darin die Herausforderung mit Blick auf die geplante Ausstellung. Mit den Rufnamen konnten sie keine Akten im Stadtarchiv suchen, dafür brauchten sie die amtlichen Namen.
Wenn sie diese fanden, kamen neue Puzzlestücke zusammen: Geburtsurkunden, Meldekarten oder auch Akten aus dem Gefängnis Ulmer Höh‘. Über Ringela fanden die Wissenschaftler:innen zum Beispiel heraus, dass sie von Düsseldorf nach Remscheid ging, nach Auschwitz deportiert und – so bestätigen die dortigen Archivare den Düsseldorfern – starb. Es gibt auch Fälle, in denen die Forscher:innen scheiterten. In diesen Fällen kann die Mahn- und Gedenkstätte ausschließlich das Bild und den Spitznamen präsentieren.
Wie Ringela erging es den meisten Sinti und Roma. Sie wurden Mitte Mai 1940 in Hamburg, Stuttgart und Köln „gesammelt“. In Köln-Deutz kamen rund 330 Sinti und Roma aus Düsseldorf und dem Ruhrgebiet zusammen. Am 21. Mai wurden sie deportiert, in Polen dann in provisorische Unterkünfte eingewiesen und zu schwerster Zwangsarbeit heranzogen. Viele von ihnen wurden ermordet, in Massenerschießungen oder den Vernichtungslagern der Nazis. Die wenigen Überlebenden kämpften nach dem Krieg in entwürdigenden Prozessen für eine Entschädigung. An ihrer Seite: Otto Pankok.
Die Ausstellung im Oktober ist eines der Ergebnisse der Forschung der Mahn- und Gedenkstätte, in wenigen Jahren wird ein weiteres folgen: ein Buch über die Sinti und Roma in Düsseldorf. Die NS-Zeit wird darin ein Kapitel bilden, es geht aber um mehr. Bastian Fleermann möchte die Geschichten von den Anfängen im späten Mittelalter bis in die 1980er Jahre hinein erzählen.
Die Recherchen für all das haben auch zu bewegenden Begegnungen geführt. Über Facebook erhielt die Mahn- und Gedenkstätte eine Nachricht von Baumeli. „Welcher Baumeli?“, fragten sie. „Na Baumeli. Ich bin der Sohn von Ehra“, antwortete der Mann, der wenige Kilometer hinter der niederländischen Grenze wohnt. Bastian Fleermann besuchte ihn – und erfuhr vieles von dem, was den 82. Jahrestag zu einem besonderen machte.
Weiterführende Informationen
Aktuell zeigt die Mahn- und Gedenkstätte an der Mühlenstraße 29 die Sonderausstellung „zwangssterilisiert. Eingriffe in die Menschenwürde in Düsseldorf 1934–1945“. Wegen des großen Interesses wurde sie bis zum 28. August verlängert. Öffnungszeiten: dienstags bis freitags und sonntags von 11 bis 17 Uhr, samstags von 13 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Die Mahn- und Gedenkstätte hat im Mai ein digitales Gedenkbuch veröffentlicht, in dem die Lebensläufe aller Düsseldorfer Opfer des Holocaust zu finden sind. Das Gedenkbuch steht hier.
Über die Entstehung der Mahn- und Gedenkstätte hat meine Kollegin Carolin Scholz diese Geschichte geschrieben.