
Die Parshipisierung des Rheinufers
Vielleicht hat die Fremdscham meine Fantasie zu sehr angestachelt, aber ich fürchte, so könnte es wirklich gewesen sein: Ich war am frühen Samstagabend auf dem Rheindeich von Lörick nach Oberkassel unterwegs, als ich langsam zu einer jungen Frau und einem jungen Mann aufschloss, die sich merkwürdig unterhielten. Die beiden tauschten wohl gerade aus, was sie so beruflich machen. „Aber da musst Du doch voll die Ahnung von Computern haben“, sagt er erstaunt. „Ja“, sagt sie, erstaunt darüber, dass er erstaunt ist.
Geht geschickter, denke ich. Das wird für ihn jetzt wohl eher das, was man bei den Olympischen Spielen Hoffnungslauf nennt. Aber warum sind die beiden eigentlich hier, wenn sie sich tatsächlich gerade kennenlernen? Was ist aus den guten alten Zeiten des gemeinsamen Restaurantbesuchs mit vorher vereinbartem Erkennungszeichen und mindestens einem, der viel zu früh da war, geworden? Es scheint, als würden sich die Menschen heute für das erste Date zu einem Spaziergang am Fluss verabreden.
Eine schöne Idee, denke ich zunächst. Das Licht, das Grün, der langsam vor sich hinziehende Strom. Dann aber denke ich über die Parshipisierung oder Tinderisierung oder Bumbleierisung des Rheinufers länger nach. Wenn Du nicht in ein Café gehst, dann kannst Du Dich auch nicht mit Essen und Trinken ablenken, dann hast Du auch ein natürliches Gesprächsthema („Und was nimmst Du?“, „Ja, ich hab mir auch vorgenommen, mehr Salat zu essen“) weniger. Du kannst nur gehen. Und das auch noch bedächtig. So fällt Kennenlernen tendenziell wortlastig aus – was die Sache ganz sicher nicht leichter macht.
Jetzt, da ich weiß oder für mein Empfinden sehr schlüssig spekuliere, dass hier die Liebe im Futur I unterwegs ist, erkenne ich das nächste Noch-nicht-Paar schon von weitem. Die beiden laufen nah, aber nicht zu nah nebeneinander, zwischen den Silhouetten ist immer ein Spalt zu sehen, Berührungen gibt es keine. Und da wir Wochenende und ungefähr 18 Uhr haben, sind das wohl auch keine Kollegen, die zusammen Pause machen.
Sherlock Herrendorf bestätigt seinen Verdacht endgültig. Die beiden sind für alles andere als eine erste Verabredung zu gut angezogen. Sie haben sich erkennbar Mühe gemacht, die beste Hose und sehr saubere Schuhe anzuziehen und den passenden pfirsich-farbenen Pullover locker über die Schulter zu legen. Sonntagsstaat am Samstag.
Bei den neuen Beziehungs-Aspiranten hat er die Gesprächsführung übernommen. Und das läuft nach meinem Empfinden nicht ganz so gut. Er erzählt mit viel Liebe zum Detail, ihre Beiträge beschränken sich im Wesentlichen auf „Hm“ oder „Wow“ in der melancholischen Fassung. Er spricht über sie in der dritten Person. Während sie dabei ist („Da habe ich gedacht, das ist doch was für die Laura“). Er neigt zur motivierenden Zwischenbilanz. „Schön, dass Du auch eine Genießerin bist. Da haben wir schon mal etwas gemeinsam“, sagt er. „Hm“, sagt sie.
Ich überhole die beiden, laufe zur Haltestelle am Luegplatz und sehe unterwegs, wie herzlos das Schicksal den weiteren Weg für die beiden gestaltet hat. Auf den Bänken und der Wiese sitzen Paare, die offensichtlich schon welche sind. Beide schauen aufs Wasser, sie legt den Kopf an seine Schulter, sie sagen kein Wort. Das ist gemein – aber trotzdem schön.