
Der Radsport-Messias
Bastian Marks würde niemals mit dem Rad zum Bäcker fahren, es sei denn, bis zum Bäcker sind es 70 Kilometer. Wenn Marks Rad fährt, dann Rennrad und weit. 15.000 Kilometer im Jahr. Wenn es sein muss, auch mal 600 Kilometer nach Berlin in weniger als 24 Stunden. Als er mich am ersten Mittwoch im Juli am S-Bahnhof Düsseldorf-Hamm abholt, fahren wir mit dem Auto weiter. Marks, 37 Jahre alt, 1,69 Meter groß, trägt kurze Hose und rasierte Beine. Ein Typ, den man sofort Basti nennen möchte. Wir fahren zur Tankstelle. Er will noch Snacks holen für unseren Fernsehnachmittag.
Einen wie Bastian Marks habe ich mir schon lange gewünscht. Einer, der mir alle Fragen zu meinem neuen Hobby beantworten kann. Mit der nachlassenden Begeisterung für Fußball schob sich der Radsport in mein Leben. Nicht als körperliche Verausgabung, sondern als TV-Übertragung. Doch meine Freunde haben mit Radsport so wenig am Hut wie mit Querflöte spielen oder Finnisch lernen. Sie ertragen zwar meine Begeisterung und die unaufgefordert vorgetragenen Kurzreferate zu Windschatten und belgischen Radrennen, aber sie würden mit mir niemals vier Stunden vor dem Fernseher verbringen.
Marks schon. Es gibt in Deutschland für jede Nische mehrere Podcasts, auch für Radsport. Marks macht mit den beiden Ex-Profis Paul Voß und Andy Stauff seit vier Jahren den wichtigsten. Er heißt „Besenwagen“ und ist benannt nach dem Fahrzeug, das hinter dem Feld die Fahrer aufsammelt, die nicht mehr können. Schon der Titel lässt erahnen, dass sie sich nicht als bierernste Chronisten der Radsportwelt sehen. Als ich vor drei Jahren auf den Podcast stieß, schien mir Marks von allen die größte Begeisterung mitzubringen. Erst später lernte ich, dass er auch sehr viel weiß.
Wir haben uns verabredet, um die fünfte Etappe der Tour de France zu gucken, die 157 Kilometer von Lille nach Wallers-Arenberg führt. Ich will wissen, wie ein Experte ein Radrennen guckt. Das Besondere heute sind die Passagen übers Kopfsteinpflaster, die auch beim Radsportklassiker Paris-Roubaix gefahren werden. Es ist nicht das gepflegte Kopfsteinpflaster aus deutschen Altstädten, es sind riesige Brocken, zwischen denen Schluchten liegen. Wir Radsportfans lieben es.
Als wir uns im Wohnzimmer vor den Fernseher setzen, holpern die Fahrer gerade zum ersten Mal übers Kopfsteinpflaster. Eine Ausreißergruppe liegt vorne. Die Tour de France hat für Marks nicht die herausragende Bedeutung wie für Menschen, die außer der Tour keinen Radsport gucken. Seine Saison dauert nicht drei Wochen, sondern 52. Ein tolles Radrennen ist die Tour für ihn schon, aber sein Favorit unter den dreiwöchigen Rundfahrten ist der Giro d’Italia. Die Strecke ist spektakulärer, die Anstiege sind steiler, der Ausgang unberechenbarer. „Aber bei der Tour fahren die besten Fahrer in ihrer besten Form des Jahres.“
Marks ist selbst nie Profi gewesen, aber er fährt seit seiner Jugend. Der Radsport kam zur richtigen Zeit auf die richtige Art in sein Leben. Es fing natürlich mit Mädchen an. Er wächst in einem Dorf in der Nähe von Aschaffenburg auf. Mit 14 ist er sich selbst ein bisschen zu moppelig geworden. „Meine Großeltern haben mich komplett gemästet als Kind. Du schaffst noch ein Eis, wir glauben an dich“, sagt er heute. Es ist das Jahr 1998. Er macht Liegestütze und Sit-Ups wie ein Irrer, geht joggen. Eine Bekannte seiner Mutter fragt ihn, ob er nicht das alte Stahlrennrad haben wolle, bevor sie es wegwirft. Will er, setzt sich drauf, fährt durch den Spessart und zwar so häufig, dass das Rad nach wenigen Monaten hinüber ist. Er kauft ein neues, tritt einem Verein bei und gerät dort an einen Ex-Profi, Heinz Peter Appel. Der wird sein Mentor, bringt ihm alles bei, was er wissen muss. „Mein Einstieg in den Sport“, sagt Marks. Ich fange im selben Jahr an, Rennrad zu fahren, aber in meinem Verein ist niemand, der zum Mentor taugt. Ein Jahr später höre ich wieder auf.
Marks lernt durchs Radfahren auch Patrick kennen, seinen besten Freund für immer. Die beiden verbringen viel Zeit zusammen auf dem Rad. Die Strecken sind schließlich lang, in der Pubertät gibt es viele Themen, die es zu bereden gilt. Patricks Vater, ein früherer Radprofi, fährt die beiden am Wochenende zu den Rennen. Es zeichnet sich allerdings schnell ab, dass Marks nicht zum Profi taugt. „Ich gehöre zu der Spezies, die das Feld auffüllen“, wird er später in einem Podcast sagen. Er wird Physiotherapeut, zieht aus der süddeutschen Provinz nach Köln, später wegen seiner Freundin nach Düsseldorf. Rennrad fährt er weiter, geht nicht anders. „Jeder kann sich aus dem Radsport rausziehen, was er gut findet. Natur sehen, Rennen fahren, Technik, die Leute.“ Er findet alles gut. Doch wäre alles den üblichen Weg gegangen, würde ich jetzt nicht über Marks schreiben.
Es dauert nicht lange an diesem Tour-de-France-Nachmittag, und wir fangen an, über Radsport-Kommentatoren im deutschen Fernsehen zu sprechen. „Deutschland findet Radfahren geil und die Tour de France, aber ist keine Radsport-Nation“, sagt Marks. Deshalb stört es ihn, dass die Journalisten im Fernsehen viel zu wenig erklären. „Die müssen viel mehr über den Sport gehen, aber im deutschen Kommentar wird über Gott und die Welt geredet.“ Ich erinnere mich an den Tag zuvor, als der ARD-Kommentator seinen Co-Kommentator fragte: „Was hältst du von Spitzenkleidern?“ Um damit eine Überleitung zu bauen zu einem Einspieler über die Herstellung von Spitze im Etappenziel Calais.
Marks will, dass die Zuschauer verstehen, was bei einem solchen Rennen passiert. Wo man auf der Etappe angreifen kann, weil dort zum Beispiel ein kurzer Anstieg liegt. Wer überhaupt für einen Sieg in Frage kommt an diesem Tag, weil er der richtige Fahrertyp ist für die Strecke. Was so eine Rundfahrt über drei Wochen ausmacht. Ein Radrennen sei „mega-interessant. Aber es ist komplett uninteressant, wenn du es nicht verstehst.“ Um Laien die Tour de France zu erklären, vergleicht er sie mit Leichtathletik, bloß dass bei der Tour de France alle Sportarten in einem Rennen vertreten sind. „Primoz Roglic ist der Marathonläufer vom Team Jumbo-Visma. Der muss nach drei Wochen am besten sein. Dem stelle ich drei Zehntausendmeter-Läufer zur Verfügung, die aber nicht drei Wochen abliefern können. Wout van Aert ist der 3000-Meter-Hindernis-Läufer im Team. Dann hat man noch Sprinter wie Usain Bolt.“ Jeder der acht Fahrer eines Teams hat unterschiedliche Qualitäten. „Es gibt Fahrer, die nie gewinnen, aber dafür bezahlt werden, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.“ Der Teamkapitän soll auf den Flachetappen so wenig treten wie möglich. Dafür braucht er den Windschatten seiner Kollegen. „Das können sich die Leute nicht vorstellen. Die fahren einen Schnitt von 45 Stundenkilometern, aber der Käpt‘n hat bloß einen Puls von 100.“
Marks hat kürzlich sechseinhalb Stunden die Deutsche Meisterschaft kommentiert. Endlich sei mal über den Sport geredet worden, habe man ihm gesagt. Aber die Chancen stehen schlecht, dass er auch mal ein Rennen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kommentiert, schließlich ist er weder ein bekannter Ex-Profi noch Sportjournalist.
Im Grunde begann seine Karriere im Radsport an dem Tag, als er plötzlich kein Rennrad mehr hatte. Damals arbeitet er als selbständiger Physiotherapeut in einer Praxis in Köln-Chorweiler. Jeden Morgen schließt er sein teures neues Rennrad in einem Raum ein, doch vorher muss er in der Praxis den Schlüssel holen. In diesen wenigen Sekunden wird ihm eines Tages das Rad geklaut. Kurz zuvor hat er alle Bafög-Schulden auf einen Schlag zurückgezahlt. Wovon soll er nun ein neues Rennrad kaufen? Ohne kann er nicht. Also arbeitet er den Rest des Jahres noch viel mehr als sonst, was dazu führt, dass er eine Menge Steuern nachzahlen muss. Sein Masterplan war, bis zur Rente als Physiotherapeut zu arbeiten. Nun sieht er, wie schnell so ein Plan ins Wanken gerät. Wer nicht gerade eine eigene Praxis hat, verdient in der Branche nicht viel. Er ist kurz vor der Privatinsolvenz, sagt er, kommt richtig schlecht drauf. Also überlegt er, was er sonst noch kann. „Eigentlich nur Radsport.“
Nachdem er in sich geschaut hat, sieht er sich in seinem Netzwerk um. Er steigt ins Bike-Fitting ein, sorgt also dafür, dass Rennradfahrer auf einem Rad sitzen, das zu ihnen passt. Er hilft einem Radhersteller aus Berlin, ein Rennrad für kleine Fahrer zu entwickeln. Kurz vor der Tour de France 2018 kommt er mit einem Hersteller von Radsport-Bekleidung ins Gespräch, der nach Möglichkeiten sucht, in Deutschland zu werben. So viele Möglichkeiten, ein Radsport-Publikum zu erreichen, gibt es hier nicht, denn Radsport ist in Deutschland in der Nische, seitdem Jan Ullrich nicht mehr fährt. Wenig später läuft die erste Folge vom „Besenwagen“. Damit verdient Marks mittlerweile eine hübsche Summe.
Dann rutscht er in einen weiteren Job. Als hätte die Welt nur darauf gewartet, dass er loslegt. Beim Radfahren auf Mallorca lernt er den Essener Mountainbike-Profi Ben Zwiehoff kennen. Zusammen fahren sie auf dem Rennrad die Anstiege hoch, bis Marks zurückfällt. Als er später von dessen Wattwerten erfährt, also die Power, die Zwiehoff auf die Pedale bringt, ist er schwer beeindruckt. Für ihn steht fest: Dieser Kerl eignet sich gar nicht so gut für die kurzen, steilen Anstiege beim Mountainbiken, sondern für die langen Anstiege auf dem Rennrad. Im Gespräch mit dem Chef von Deutschlands bestem Radsport-Team Bora-hansgrohe lässt er Zwiehoffs Namen und die Werte fallen. 2021 gibt Zwiehoff sein Profi-Debüt im Team. Marks wird sein Riders Agent, so nennt man im Radsport das, was im Fußball der Spielerberater ist. Seitdem hält er nach weiteren Talenten Ausschau.
All das macht Marks so erfolgreich, dass er gerade den Job als Physiotherapeut aufgegeben hat. Er nennt sich selbst halb im Scherz Radsport-Messias. Nicht, weil er der Erlöser ist, sondern weil er die frohe Botschaft des Radsports verbreitet, Leute dafür begeistert, wie es Ex-Profi Heinz Peter früher bei ihm geschafft hat. Als Physiotherapeut hat er gelernt, Leuten komplexe Dinge einfach zu erklären. Marks mag einen Dünkel gegenüber einigen Radsport-Journalisten haben, aber nicht gegenüber Leuten, die noch für den Radsport zu gewinnen sind.
Noch etwas mehr als 50 Kilometer sind es bis ins Ziel im Norden Frankreichs. „Die sind alle extrem angespannt“, sagt Marks und erklärt, dass das Feld sehr schnell sei, aber trotzdem breit. Das passiere sehr selten. Ein schnelles Feld ist normalerweise weit auseinandergezogen in Einer- oder Zweierreihen, weil die Fahrer bloß in den Windschatten wollen. Doch heute ist es wichtig, bei der nächsten Kopfsteinpflaster-Passage in den ersten Reihen zu sein. Denn je weiter hinten ein Fahrer sich aufhält, desto wahrscheinlicher ist es, dass vor ihm jemand stürzt, was auf dem Kopfsteinpflaster regelmäßig passiert. Entweder stürzt er auch, zumindest aber wird er aufgehalten und verliert den Anschluss. „Es wird darauf hinauslaufen, dass die absoluten Spezialisten fürs Kopfsteinpflaster in die Attacke gehen und ein, zwei Käpt‘ns, die einen guten Tag erwischt haben, noch dabei sind“, sagt er. Noch liegt die Ausreißergruppe vorn. Meist wird sie kurz vorm Ziel wieder eingeholt.
Ich stelle Marks so viele Fragen, dass wir das halbe Rennen verpassen. Beim Fußballspiel könnte man locker nebenbei quatschen. Bei einem Radrennen passiert manchmal so viel, dass man sich besser nur darauf konzentriert. Kurz darauf geschieht, was Marks vorhergesagt hat: Ein Spezialist greift an, der Favorit auf den Gesamtsieg, Tadej Pogacar, bleibt dran. Gemeinsam versuchen sie, die Ausreißer einzuholen. Der Rest verliert den Anschluss. „Wie kann man da hinten einfach nicht aufpassen?“, flucht Marks. Auch der Kapitän des deutschen Teams Bora-hansgrohe fällt zurück.
An diesem Nachmittag kommt die Ausreißergruppe ausnahmsweise durch. Als ich mich von Marks verabschiede, kehrt seine Freundin vom Radsport-Training zurück. Bevor sie sich kennenlernten, hatte sie noch nie auf einem Rennrad gesessen.
Weiterführende Links
Hier veröffentlicht Bastian Marks jede Woche eine neue Folge seines Radsport-Podcasts.
Die Tour de France läuft noch bis zum 24. Juli. Die ARD überträgt die letzten Stunden jeder Etappe im Fernsehen, davor im Livestream. Am 24. Juli beginnt die Tour de France der Frauen.
Vor 25 Jahren gewann Jan Ullrich als erster Deutscher die Tour de France. Die ARD zeigt seinen Aufstieg und Fall in einer fünfteiligen Dokumentation.