Jeden Monat 1000 Euro – einfach so

Karin Engstler sitzt in ihrem Auto im Wald und es regnet, als sie die vielleicht schönste E-Mail ihres Lebens liest. Da steht es: Sie hat bei der Verlosung des Vereins „Mein Grundeinkommen“ gewonnen. Sie wird bald ein Jahr lang jeden Monat 1000 Euro bekommen. Einfach so. Die E-Mail erscheint unwirklich und löst bei der Ratingerin vor allem eine Frage aus. Was machst Du dann? Die Antwort folgt wenige Monate später, im Februar 2019, denn da kommt die erste Überweisung.
Der Verein „Mein Grundeinkommen“ verlost inzwischen etwa 20 Grundeinkommen pro Monat. Er sammelt per Crowdfunding Geld. Sobald 12.000 Euro zusammen sind, wird das nächste Grundeinkommen für ein Jahr verlost. Wer Geld gibt, ist automatisch in der Verlosung. Aber auch jede und jeder andere kann, ohne sich finanziell zu engagieren, daran teilnehmen.
Nach Angaben des Vereins gibt es rund 2,9 Millionen registrierte Nutzer*innen (darunter 370.000 Kinder), davon melden sich durchschnittlich 1,1 Millionen für eine Verlosung an. Kinder unter 14 Jahren können über das Profil ihrer Eltern teilnehmen, Kinder ab 14 Jahren können sich mit Zustimmung einer sorgeberechtigten Person ein eigenes Profil zulegen. Bei den Verlosungen gewinnen immer auch Kinder, im Mai etwa waren es sechs.
Das erste von inzwischen mehr als 800 Grundeinkommen für ein Jahr hat der Vereinsgründer Michael Bohmeyer 2014 initiiert. Mit Hilfe eines einfachen Videos sammelte er per Crowdfunding die erste Summe und gründete anschließend den Verein. Inzwischen sind 33 Aktivist*innen für „Mein Grundeinkommen“ im Einsatz. Über seine Erfahrungen der ersten Jahre hat Michael Bohmeyer gemeinsam mit Claudia Cornelsen das Buch „Was würdest Du tun?“ geschrieben.
Wahnsinn ist das erste, das Karin Engstler denkt, als sie die ersten 1000 Euro auf dem Konto sieht. Erst einmal rührt sie das Geld nicht an, es liegt einfach da. Dann nimmt sie es, dafür ist es ja schließlich gedacht. Karin Engstler kauft keine anderen Sachen als vorher. Sie gibt ihrer Tochter, die damals noch studiert, jeden Monat etwas. Und sie trifft neue Entscheidungen rund um ihren Beruf.
Karin Engstler arbeitet als Hundetrainerin. Sie bietet Verhaltenstherapie und -training an, außerdem bildet sie Blindenhunde aus. Wenn sie nun, mit mehr Geld auf dem Konto, eine Weiterbildung sieht, die sie interessiert, überlegt sie nicht lange, sondern bucht den Kurs. Sie wollte immer schon Ernährungsberatung für Hunde anbieten, weil das eine gute Hilfe sein kann, die Tiere glücklicher zu machen. Aber das ist ein breites Feld, mit dem man sich intensiv beschäftigen muss, bevor am Hundebesitzer*innen berät. Jetzt ist das möglich.
Auch bei der Ausbildung von Blindenhunden ändert Karin Engstler etwas. Eine solche Ausbildung setzt voraus, dass die Trainerin zunächst selbst investiert. Sie kauft den Hund, sie sorgt für Futter und Spielzeug, sie lehrt ihn die Dinge, die er können muss, um einem blinden Menschen zu helfen. Dann verkauft sie den Hund. Das bedeutet ein Risiko für die Trainerin, denn es kann sein, dass der Hund am Ende seine Prüfung nicht besteht und sie nicht den Preis für einen ausgebildeten Blindenhund erhält, sondern viel weniger. Deshalb konnte Karin Engstler immer nur einen Hund nach dem anderen ausbilden, um nicht zu viel zu riskieren.
In dem Jahr, in dem sie das Grundeinkommen erhielt, war das anders: Sie nahm drei Hunde an und bildete sie aus. Das wiederum hat sie durch die Corona-Zeit gebracht, in der kaum Training oder Verhaltenstherapien möglich und die Einkünfte aus diesen Tätigkeiten entsprechend gering waren.
Der Verein „Mein Grundeinkommen“ beschreibt sein Ziel so: Alle Menschen eines Landes sollen „von der Geburt bis zum Tod jeden Monat vom Staat so viel Geld erhalten, wie sie zum Leben benötigen. Ohne dass sie etwas dafür tun müssen. Ohne dass ihnen etwas gestrichen werden kann“. In der dazugehörigen Debatte haben die Aktivist*innen eine Reihe von Gegenargumenten gehört und dazu Position bezogen. Die wichtigsten Punkte im Überblick:
- Die Befürchtung: Mit Grundeinkommen geht niemand mehr arbeiten.
Das Gegenargument: „Mein Grundeinkommen“ zitiert eine Umfrage, nach der 90 Prozent der Befragten mit Ja antworten, wenn es darum geht, ob sie mit einem Grundeinkommen weiterarbeiten würden. Zudem wehrt sich der Verein dagegen, Arbeitslose als Schmarotzer darzustellen. Etwa eine Million Hartz-IV-Bezieher*innen gingen arbeiten, erhielten aber nicht genug Lohn, um ohne Grundsicherung auszukommen, so der Verein. - Zweite Befürchtung: Mit Grundeinkommen bleiben die Jobs unbesetzt, die ohnehin keiner machen will.
Das Gegenargument: Das stimmt vermutlich. Aber: „Wenn das Grundeinkommen die Freiheit der oder des Einzelnen stärkt, schlecht entlohnte Arbeit abzulehnen, dann müsste diese Arbeit zweifellos durch eine angemessene Entlohnung attraktiver werden, damit sie weiterhin erledigt wird. Wäre das nicht eigentlich ein Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt?“ - Dritte Befürchtung: Grundeinkommen für alle ist nicht finanzierbar.
Das Gegenargument: Im Wesentlichen ist das Konzept des Grundeinkommens eine Steuerreform. Bei Besserverdienenden ersetzt sie den Steuerfreibetrag, also die Summe, die nicht versteuert werden muss, durch eine Zahlung am Monatsanfang. Bei Menschen, die auf Leistungen des Staates angewiesen sind, verändert sich vor allem die Haltung des Staates. Das Grundeinkommen ist bedingungslos, niemand muss sich rechtfertigen, ungewollte Tätigkeiten annehmen oder unter Existenzängsten leiden. Danach hätten Menschen mit geringen Einkommen mehr Geld zur Verfügung, die so genannte Mittelschicht etwa gleich viel und die Reichsten etwas weniger als vorher.
Weitere Erfahrungen möchte der Verein gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ab 1. Juni durch ein Pilotprojekt sammeln, das auch Wissenschaftler*innen vom Max-Planck-Institut und der Uni Köln begleiten. Im Projekt erhalten 122 Menschen drei Jahren lang 1200 Euro monatlich. Teil der Studie sind zudem 1380 Menschen, die kein Grundeinkommen erhalten und genauso regelmäßig Fragebögen erhalten wie die 122. Das Geld für die Grundeinkommen stammt aus den Spenden an den Verein, die inzwischen rund 181.000 Menschen leisten.
Am Anfang der zwölf Monate empfindet Karin Engstler ein angenehmes Gefühl: finanzielle Sicherheit, das Leben erscheint leichter. Es fühlt sich an wie ein Geschenk. Mit der Zeit wird das Gefühl normaler, aber nicht weniger angenehm. Sie spürt, dass das Grundeinkommen wirklich bedingungslos ist. Es erscheint ungewohnt, weil man in unserer Gesellschaft immer etwas nachweisen, sich rechtfertigen, etwas tun muss. Dass das hier nicht der Fall ist, macht einen ein gutes Stück unabhängig.
Karin Engstlers Bilanz des Jahres mit einem bedingungslosen Grundeinkommen fällt gut, aber verhalten optimistisch aus. „Ich finde, das ist eine unheimlich positive Sache. Nicht nur für denjenigen, der es bekommt, sondern für die Gesellschaft. Die Menschen werden dadurch zufriedener und wenn man zufriedener ist, dann tut man vielleicht auch mehr Gutes.“ Zugleich sieht die Hundetrainerin die Chancen als gering an, dass ein Staat ein solches Grundeinkommen in einer solchen Höhe einführt. Dafür müssten Politiker*innen mit vielen Gewohnheiten brechen und etwas gänzlich Neues wirklich wollen.
Karin Engstler verfolgt die Debatte um das Grundeinkommen noch intensiver als zuvor und hat einen veränderten Standpunkt. Bisher waren ihre Argumente mit etwas Abstraktem verbunden, nun ist da ein konkretes Gefühl. Karin Engstler hat sich deshalb wieder für eine Verlosung angemeldet.
Quellen und weiterführende Links
Die Beschreibungen der Erlebnisse von Karin Engstler stammen aus einem Interview, das wir im Mai 2021 mit ihr geführt haben.
Mehr zum Verein „Mein Grundeinkommen“ gibt es hier.
Mehr zum Pilotprojekt Grundeinkommen steht hier.
Das Buch über den Verein und die ersten Gewinner ist hier zu finden.