Die gewollten Migranten – warum immer mehr indische Fachkräfte nach Düsseldorf ziehen

Rund 7000 Düsseldorfer stammen aus Indien, die Tendenz ist stark steigend. Über eine fragile Erfolgsgeschichte in Zeiten von Abschiebe-Debatten.
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 21. Januar 2025
Reshma Sahadevan aus Düsseldorf
Reshma Sahadevan im Büro des Löricker Autoauktionshauses Copart. Sie ist eine von rund 7000 Düsseldorferinnen und Düsseldorfern aus Indien.

Hubertus Heil trägt ein blaues Trikot über seinem weißen Hemd und steht auf einer Wiese. Mal schwingt er dort einen großen Holzschläger, mal wirft er einen kleinen Lederball. Die Bilder sind im Oktober bei einem Termin mit dem indischen Botschafter auf einem Cricket-Feld in Berlin entstanden. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Gerade hat die Bundesregierung eine neue Fachkräftestrategie für Indien entwickelt. Es geht um eine bessere Vermittlung in Jobs, um einfachere Migrationsverfahren und um etwas, das der Arbeitsminister mit der Ausübung des dort so populären Sports symbolisieren soll: Ihr seid willkommen.

Anuj Sethi trägt sein weißes Hemd ohne blaues Trikot. Mit 27 Jahren kam er zum Masterstudium nach Berlin, mit fast 30 sitzt der Kundenbetreuer des indischen Rekrutierungsservice Leo & Sagittarius vor zwei aufgeklappten Laptops im Gemeinschaftsraum eines Coworking-Space in Lierenfeld. Noch wirkt alles ein wenig improvisiert, bald soll er in ein Büro nahe der Königsallee ziehen. Sethi tut das, was Heil freut. Er versucht, indische Fachkräfte nach Deutschland zu holen. „Fachkräftezuwanderung ist immer noch ein sehr unorganisierter Bereich. Ich kreiere einen Markt und baue dafür das richtige Netzwerk auf.“

Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen. Mehr als eine halbe Million Fachkräfte fehlen aktuell – ohne Arbeitsmigration aus Indien wäre die Lücke laut aktuellen Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln rund 20 Prozent größer. Das Land war bei der Nettozuwanderung zuletzt die Nummer eins der Nicht-Asylländer, noch vor Polen und Rumänien. Inder stellen die größte Gruppe der ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten.

Düsseldorf spielt dabei eine große Rolle. Rund 7000 Einwohner der Stadt stammen aus Indien, so viele wie nirgendwo sonst in Nordrhein-Westfalen. „Deutschland galt schon immer als eines der Top-Ziele aus indischer Sicht. Aber da war immer das Problem mit der Sprache“, sagt Anuj Sethi. „Jetzt werden zunehmend die Vorteile erkannt, die das Land bietet, wenn diese Barriere überwunden ist.“

Seit April 2024 haben Leo & Sagittarius ihren Deutschlandsitz in Düsseldorf. Von hier aus versucht Sethi, deutsche Unternehmen und indische Bewerber zusammenzubringen. Bis Ende des Jahres gelang ihm das nach eigenen Angaben in rund 250 Fällen, häufig für Ausbildungsplätze. Aktuell betreut er allein für den Ausbildungsmarkt rund 100 Bewerber und wartet gleichzeitig darauf, dass mehr indische Job-Interessenten ihre Sprachkurse erfolgreich abschließen. Deutsche Unternehmen, sagt Sethi, suchten derzeit vor allem Bus- und Lkw-Fahrer, Bäckereiangestellte, Handwerker – eine Branche sei aber unerreicht. „Die größte Nachfrage gibt es im Gesundheitssektor. Eine Krankenschwester, die Deutsch spricht, kann ich sehr leicht vermitteln.“

Mit seiner Entscheidung für Düsseldorf steht das Unternehmen nicht allein da. Auch die Deutsch-Indische Handelskammer hat ihr einziges Deutschlandbüro in der Stadt. Im Rathaus versuchen sie, dieses Potenzial zu nutzen – mit einer Stärkung der Infrastruktur für Expats, mit Wirtschaftsprogrammen und direkten Kontakten nach Indien. Die Verwaltung führte Gespräche im Rahmen einer Delegationsreise nach Mumbai, startete eine Kooperation mit dem Bundesstaat Karnataka und beteiligte sich als Pilotkommune am Projekt „Hand in Hand for International Talents“. Das ist ein 2020 begonnenes Programm, das Unternehmen in Deutschland mit Fachkräften aus Brasilien, Vietnam und Indien zusammenbringen sollte und durch das Menschen wie Reshma Sahadevan ihr neues Leben in Düsseldorf beginnen konnten.

Sahadevan ist 33 Jahre alt und wuchs im wirtschaftsstarken Bundesstaat Kerala im Süden Indiens auf, bevor es sie jobbedingt weiter in den Norden nach Mumbai verschlug. An einem nasskalten Januarmorgen sitzt sie im Besprechungsraum des Autoauktionshauses Copart, das seinen Sitz in einem modernen Bürogebäude in Lörick hat. Seit zwei Jahren arbeitet sie dort als Software-Entwicklerin. „Mein Leben in Indien war schön, aber es gab Gründe, warum ich hierhergekommen bin.“ Der schlechte öffentliche Nahverkehr, die fehlende Work-Life-Balance. „Ich hatte nicht viel Freizeit, keine wirklichen Hobbys. Hier kann ich nach meinen acht Arbeitsstunden tun, was ich möchte.“ Heute schreibt sie dann unter anderem Kurzgeschichten.

Dass Sahadevan in Düsseldorf lebt, liegt auch an der Corona-Pandemie. Eigentlich war alles schon für die Auswanderung nach Kanada vorbereitet, bis das Verfahren im globalen Lockdown stockte. „Ich bin nach Deutschland gegangen, weil es schneller funktioniert hat.“ Als Reisen wieder denkbar schienen, bekam Sahadevan erst ein Video-Vorstellungsgespräch und dann eine Zusage aus Deutschland. Sie hatte einen Platz im „Hand in Hand for International Talents“-Programm erhalten.

In monatlich wechselnden Kursen lernte Sahadevan die deutsche Kultur, die Arbeitsweise, den Alltag kennen. Sie schloss ihren B1-Sprachkurs ab und erhielt ein Jobangebot bei Copart, für das sie ohne das Programm wohl erst gar nicht als Kandidatin angesehen worden wäre. „Meine persönliche Erfahrung war sehr positiv. Für andere kann das anders sein.“

Wenn Anuj Sethi über die Attraktivität Deutschlands für indische Einwanderer spricht, fallen Punkte wie das Gesundheitssystem und die guten Aufstiegsmöglichkeiten. Doch wie bei Sahadevan sei es auch bei seinen Klienten: Die Work-Life-Balance ist das entscheidende Pro-Argument. „In Indien gibt es keine Grenzen zwischen dem professionellen und dem persönlichen Bereich. Dass das in Deutschland wenig durchmischt wird, ist international nicht so üblich.“

Ein Problem bleibt die Sprache. Sie ist der Hauptgrund, warum indische Arbeitnehmer klassischerweise bei der Auswanderung eher nach Großbritannien, Australien, in die USA oder nach Kanada blickten. Auf Platz zwei der Hindernisse, auch da sind sich Sethi und Sahadevan einig, steht die deutsche Bürokratie.

Dass auch die scheidende Bundesregierung um dieses Problem weiß, wird in einem Papier des Auswärtigen Amts aus dem Oktober 2024 deutlich. Dort heißt es, dass die Wartezeiten bereits deutlich verkürzt worden seien. „Mit dem Ziel der Beschleunigung und Vereinfachung schaffen wir außerdem ein immer moderneres Visumverfahren.“ Stephan Jäger von der IHK Düsseldorf erkennt diese Fortschritte. „Von den Möglichkeiten hat sich viel verbessert. Das geht in die richtige Richtung.“ Er sagt aber auch: „Wir haben ein Umsetzungsproblem.“ Gerade die fehlende Digitalisierung erschwere aus seiner Sicht den Prozess.

Anuj Sethi und Reshma Sahadevan arbeiten beide an ihren Deutschkenntnissen. Im Alltag und auch für unser Gespräch nutzen sie jedoch deutlich lieber Englisch. Die Sprache ist zweifelsohne die größte Herausforderung für indische Fachkräfte auf dem Weg nach Deutschland. Dort angekommen ist der größte Kulturschock das Papier. Dass in Deutschland alles in ausgedruckter Form bei irgendwelchen Behörden eingereicht werden muss, hatten sie anfangs nicht für möglich gehalten. „In Indien werden Apps genutzt, alles ist online regelbar“, sagt Sahadevan.

Ein weiteres Problem sind noch immer die Wartezeiten. Sahadevan hatte die Unterstützung über das „Hand in Hand for International Talents“-Programm, auf ihre Aufenthaltsgenehmigung musste sie dennoch sehr lange warten. Für Anuj Sethi sind sie der Grund, dass gerade mittelständische Unternehmen kaum ausländische Bewerber für ihre freien Stellen berücksichtigen. „Es ist keine sofortige Lösung, einen Arbeitnehmer aus dem Ausland einzustellen. Das dauert immer mindestens acht Monate.“ Mögliche Schwierigkeiten mit Dokumenten oder Deutschtests nicht miteingerechnet.

Stephan Jäger von der IHK wünscht sich manchmal zudem eine entspanntere Erwartungshaltung. „Viele Unternehmen haben noch zu hohe Hürden und fordern etwa Deutsch-Sprachniveau C1 oder noch höher bei Jobbeginn. Sprache ist fundamental, aber da brauchen wir aus meiner Sicht öfter eine pragmatischere Herangehensweise.“

Dass es so viele indische Fachkräfte gerade nach Düsseldorf zieht, hat neben den Bemühungen der Behörden wohl vor allem mit der Stadt selbst zu tun. „Die Landeshauptstadt Düsseldorf ist mit Abstand die internationalste Stadt in NRW, mit der höchsten Zahl an internationalen Unternehmen und den bedeutendsten internationalen Business Communities“, teilt ein Stadtsprecher mit. Dass Leo & Sagittarius sich für Düsseldorf als Deutschlandsitz entschieden haben, liegt vor allem an den guten Kontakten in die Region.

 Anuj Sethi glaubt aber auch zu wissen, warum die Stadt so viele andere Inder anspricht. „Ich habe eine Zeit lang in Berlin gelebt und habe aus Gesprächen gehört, wie es ist, in anderen Teilen Deutschlands zu leben. Düsseldorf ist ein sehr guter Kompromiss. Es ist nicht ruhig und nicht überfüllt.“ Sahadevan lobt vor allem die lebendige Kultur, den Nahverkehr und die Altstadt. „Es gibt hier alles, was man braucht, um eine gute Zeit zu haben.“

Wer mit Reshma Sahadevan über ihre erste Zeit in Deutschland spricht, hört von ihr immer wieder, wie willkommen sie sich gefühlt habe. „Ich hatte die Vorstellung, dass die Deutschen nicht so freundlich und hilfsbereit sind. Als ich hierhinkam, hat sich das ganz anders angefühlt.“ Doch bleibt das so? Im Bundestagswahlkampf übertreffen sich die Parteien in Migrationskritik, mit der AfD steht eine rechtsextreme Partei in den Umfragen stabil bei rund 20 Prozent. „Es wäre ein fatales Zeichen für die internationale Fachkräftegewinnung, wenn eine Politik gewinnt, die von Remigration spricht und ausländerfeindlich agiert“, sagt Stephan Jäger. Etwas, dass dazu führen könnte, dass sich hochqualifizierte Inder lieber wieder in anderen Ländern umsehen.

Bislang sei das bei seinen Klienten noch kein Thema, sagt Anuj Sethi. Ihm habe zuletzt eher die wirtschaftliche Situation Sorgen bereitet. „Uns ist ein gewisser Abschwung aufgefallen. Es gibt mehr Unternehmen, die Angst haben, Geld zu verlieren.“ Um diese noch mehr von indischen Fachkräften zu überzeugen, will er im neuen Jahr seine Kontakte vor allem bei technischen Berufen ausbauen – dort gebe es besonders viele indische Interessenten. Er will den Unternehmen immer wieder erklären, wie indische Arbeitnehmer ihre Probleme lösen könnten. „Je häufiger wir Menschen die Idee vorstellen, umso eher ändert sich auch die Sicht darauf.“

Am Cricket sollte die indische Zuwanderung am Ende schonmal nicht scheitern. Die Düsseldorf Blackcaps gelten als der größte und erfolgreichste Verein in Nordrhein-Westfalen.

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