Hier darf gelacht und gestorben werden

Wer wie ich über 60 ist, dem sind der Tod und das Sterben nicht fremd. Freunde gehen für immer und nahe Angehörige. Dabei zu sein, diesen Augenblick zu erleben oder Abschied zu nehmen am offenen Sarg vergisst man nie. Bei meiner Arbeit als Journalist habe ich etliche Tote gesehen, und manche Bilder lassen mich bis heute nicht los. Aber das alles waren kurze Momente, ich kann jedes einzelne dieser Erlebnisse in meiner Erinnerung abrufen.
Wie jedoch ist es, wenn das Sterben oft miterlebt wird, also alltäglich, die eigentliche Aufgabe des Jobs ist? Und man nach Jahren zwar noch eine Menge von ein paar Einzelfällen weiß, aber die Frage „Wie oft waren Sie dabei?“ nicht mehr beantworten kann. Weil es zu viele Menschen waren, die man auf den letzten Metern des Lebensweges begleitet hat?
Wie im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus (EVK) in Düsseldorf. Dort arbeiten Dutzende von Frauen und Männern. Für sie ist der Tod kein seltenes Ereignis, sondern normal. Jedenfalls scheint das so. In Wahrheit allerdings ist er es nicht, weil jeder Mann, jede Frau, die/der in dieses Haus in Bilk kommt und es wahrscheinlich lebendig nicht mehr verlassen wird, auf seine eigene Weise auf diese letzte Reise geht. Dass er dies in der bestmöglichen Begleitung und Fürsorge tut, das ist die eigentliche Aufgabe des Teams um Barbara Krug, die seit vielen Jahren das Hospiz leitet.
Ich treffe Pflegedienstleiterin Barbara Brokamp und die Pflegerin Bianca Papendell. Sie haben zigfach erlebt, wie das berühmte letzte Stündlein und die Stunden davor ablaufen. Manche Patienten sind nur kurz im Haus, andere über Wochen. Einmal war einer zwölf Monate da, bevor er starb. Die durchschnittliche Verweildauer in einem der 13 Zimmer, sagt die Statistik, liegt bei drei bis vier Wochen.
Bianca Papendell war viele Jahre Krankenschwester auf der Intensivstation, hat dort Menschen leiden und sterben sehen – und irgendwann erkennen müssen: „Ich kümmere mich eigentlich mehr um die Angehörigen als um die Patienten.“ Das wollte sie ändern, und arbeitet nun im Hospiz des EVK.
Barbara Brokamp ist seit 27 Jahren dabei. Diese Frau strahlt die tiefe Ruhe und Gelassenheit eines Menschen aus, dem sehr bewusst ist, was wirklich wichtig ist in unserem Dasein. Ihre Erfahrungen und die ihrer Kollegin würden gewiss für viele Leben reichen. Man kann nur Respekt empfinden für die Art, wie die beiden umgehen mit diesen Eindrücken aus dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod.
Das klingt sehr ernst und ist es auch. Dennoch ist Platz für Humor in diesem Haus, das mit seiner hellen, freundlichen Einrichtung mit angenehmen Farben weder wie ein Krankenhaus aussieht noch so riecht und eine beruhigende Aura hat.
Lachen gibt es in dieser Umgebung, und gar nicht so selten. Es sei wichtig für den Umgang mit der Endgültigkeit des Todes, es helfe Sterbenden und den Trauernden, sagt man mir. So wie der Frau, die kurz vor ihrem Tod detailliert plante, wie ihre Trauerfeier aussehen und was die Trauerrede beinhalten sollte. Inklusive des Hinweises, der eigentlich zuständige Geistliche möge bitte abwesend sein, weil sein Gesang nicht zu ertragen sei. Nach dem Hinweis, ein schräger musikalischer Vortrag könne womöglich für Heiterkeit sorgen, überlegte die Dame es sich anders – die Aussicht, die Trauergemeinde, ihre Trauergemeinde könnte aufgrund schräger Töne zum Lachen gebracht werden, gefiel ihr. Besagter Pfarrer durfte teilnehmen. Und singen. Wie es ankam, ist nicht überliefert, aber man ahnt es.
Was diese Frauen erzählen, ist – vermutlich wegen der Aussicht auf das Ende – absolut lebensnah. Wie die Geschichte des charismatischen Ex-Managers, todkrank, der noch im Sterben wie im Leben den Raum füllt, zeitlebens alles strikt geregelt hatte und das auch tut, bevor er im Beisein der gesamten Familie den letzten Gang geht. Oder der junge Mann, schwer krank, und eindeutig kurz vor dem Ende, der für den nächsten Morgen ein Frühstück aus zwei Croissant und einer doppelten Portion Rührei bestellt. Weil er aufgrund seines Leidens unbedingt zunehmen muss. Eine zweifelsfrei diagnostizierte Veränderung seines Befindens will er nicht wahrhaben. Die Bestellung wird aufgenommen, aber es ist klar, dass er dieses Frühstück nicht mehr essen wird. Was sich bewahrheitet: Er stirbt in der Nacht.
Besonders die letzten Gespräche mit den Sterbenden prägen sich ein. Da sind die, die bis zuletzt nicht wahrhaben wollen, dass es zu Ende geht. Und sich erst ganz zum Schluss darauf einlassen, ruhig zu werden. Oder die über 90-Jährige, sehr gelassen, für die es auch Gutes hat, diese Welt mit all den Problemen durch Corona und Umweltschmutz zu verlassen: „Ich bin froh, bald unter der Erde zu liegen.“ Und immer wieder diese späte, zu späte Einsicht wie falsch es war, Dinge verschoben und nicht direkt getan zu haben. Solche Erkenntnisse, so erzählen es die beiden Pflegerinnen, beginnen oft mit „Hätte ich doch, wäre ich doch“ und enden mit „weniger gearbeitet, dahin gereist, das noch gemacht“ – vor allem: Hätte ich es doch getan und nicht verschoben auf eine Zeit, die ich nun nicht mehr habe.
Nicht selten wollen oder können Menschen nicht loslassen von ihrem irdischen Dasein, meinen Verpflichtungen zu haben, die noch zu erfüllen sind, haben ein schlechtes Gewissen, weil sie andere zurücklassen. Die Crew des Hospizes versucht, ihnen diesen Druck zu nehmen. Barbara Brokamp: „Hier darf gestorben werden.“ Ein Satz mit einiger Wucht, der gehört und begriffen werden will.
Fünf-Sterne-Betreuung ist der Normalfall. Soweit es geht, werden die Wünsche der Patienten berücksichtigt. Wer gern Bier mag oder Wein, aber nicht mehr schlucken kann, der bekommt eine Mundspülung mit dem Getränk seiner Wahl. Und immer freitags gibt es eine „Blaue Stunde“ in der Küche. Da gibt es zwar keine Cocktails, aber ab und zu werden auch mal zum Kaffee oder Tee ein paar Likörchen gekippt, sagt Chefin Barbara Krug. Klingt nach fröhlicher Runde und ist es wohl auch öfter, als man sich das als Außenstehender vorstellen kann. Es darf gelacht werden an diesem Ort.
Weil man dem Tod seinen Schrecken nehmen, möglichst viele im Umgang mit ihm schulen will, bietet das Hospiz, durchaus augenzwinkernd, „Letzte-Hilfe-Kurse“ an. Die Erfahrung zeigt nämlich, wie hilflos die meisten sind, wenn sie sich plötzlich mit einer Lage konfrontiert sehen, in der das Leben eines Menschen in ihrem Beisein endet. Kaum einer ist darauf vorbereitet. Den Krankenwagen rufen ist da nicht immer die beste Lösung – so lautet eine der Lektionen dieses Kurses.
68 ehrenamtliche Mitarbeiter hat das Hospiz, die meisten sind Frauen. Und 23 fest angestellte Mitarbeiter. Unterstützt wird man von so genannten Verbündeten. Das sind prominente Düsseldorfer Bürger wie Heinz-Richard Heinemann, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der Pantomime Nemo und zuletzt Christiane Oxenfort. Sie engagieren sich jeweils für ein Jahr und organisieren spezielle Events, um auch nach außen die Botschaft von den großen Leistungen des Teams zu transportieren.
Die Seite des Hospiz finden Sie hier.