Wie eine Hundeattacke den Alltag einer jungen Frau zerstörte

Eine Joggerin wird von zwei Belgischen Schäferhunden angegriffen. Mit den Folgen hat sie auch zweieinhalb Jahre danach noch zu kämpfen. Vor dem Landgericht ging es nun um die Schuldfrage.
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 20. Dezember 2024
Hundeattacke
Die Stadt Düsseldorf registrierte im vergangenen Jahr 60 "Beißvorfälle".

Es ist der frühe Morgen eines Maitags 2022. Auf den Feldwegen in Düsseldorf-Angermund ist eine junge Familie gerade auf dem Weg zum Kindergarten. Da sieht der Vater, wie ihm eine blutüberströmte Frau entgegenläuft. Als Fallschirmjäger bei der Bundeswehr ist er darauf trainiert, was nun zu tun ist. Er erkennt die Kopfverletzung, versorgt die Wunden. Was genau passiert ist, versteht er nur bruchstückhaft. Immer wieder ruft die Frau etwas von Hunden und dass sie angegriffen worden sei. Sie steht merklich unter Schock.

So schildert es der Mann Ende November 2024 in Saal E.123 des Düsseldorfer Landgerichts. Hier findet der Berufungsprozess gegen eine 40-jährige Hundebesitzerin aus Ratingen statt. Ihre Hunde waren es, die damals ohne erkennbare Vorwarnung auf die heute 36-jährige Joggerin losgegangen waren. Das Amtsgericht hat die Ratingerin infolgedessen wegen fahrlässiger Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen verurteilt und den Entzug des verbleibenden ihrer beiden Belgischen Schäferhunde verfügt. Der andere ist zu diesem Zeitpunkt bereits krankheitsbedingt eingeschläfert worden. Die Angeklagte hat dagegen Revision eingelegt, wohl vor allem, um ihren Hund behalten zu dürfen.

„Es gab keine Auffälligkeiten“, sagt die 40-Jährige. Ihre beiden Hunde habe sie jeweils im Alter von acht Wochen bereits kennengelernt, hatte sie jeden Tag mit im Büro. „Jeder hat sie gemocht.“ Und doch wurde zumindest einer von beiden im Mai 2022 zur gefährlichen Waffe. Vor Gericht schildert die Hundebesitzerin es so: Den Rüden habe sie am Auto gebürstet, die Hündin sei in der Nähe herumgelaufen. Plötzlich habe sie ein Kläffen der Hündin und einen erschreckten Ausruf des späteren Opfers gehört. Der Rüde sei losgelaufen. Das nächste, was sie sah, seien eine am Boden liegende Joggerin und ihre über ihr stehenden Hunde gewesen. Die habe sie noch eingefangen, dann sei die Frau weggewesen. „Ich habe sie nicht mehr gesehen.“ Dass sie sie nicht mehr gesucht habe, sei wohl ein Fehler gewesen.

Belgische Schäferhunde besitzen nicht den Ruf, besonders gefährlich zu sein. Sie gelten als treue Begleiter des Menschen, als lebhaft, intelligent und lernfreudig. Aber sie verfügen eben auch über Temperament und Kräfte, die es zu bändigen gilt – und werden nicht ohne Grund zur Beaufsichtigung von Tierherden, der Überwachung von Grundstücken und im Polizeidienst eingesetzt. Was geschehen kann, wenn dabei etwas schiefläuft, musste im vergangenen Jahr auch eine Rentnerin in der Ruhrgebietsstadt Hattingen erfahren. Sie wollte nur einen Brief aus dem Auto holen, als sie ein Polizeihund attackierte und halb skalpierte. Der Polizeibeamte wurde später wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, der Belgische Schäferhund außer Dienst gestellt.

Auch die Folgen für die Joggerin in Angermund waren erheblich. Zwei tiefe Wunden im Kopfbereich, Hautabschürfungen und Prellungen am ganzen Körper. Die 36-Jährige wird noch im Krankenwagen bewusstlos, muss zwei Wochen im Krankenhaus bleiben und insgesamt drei Operationen über sich ergehen lassen. „War kein schöner Anblick“, sagt einer der Polizisten vor Gericht, der die Frau noch im Schockraum vernommen hatte. Noch schlimmer als die körperlichen sind jedoch bis heute die seelischen Folgen. Die Kinderpflegerin ist noch immer arbeitsunfähig, sie hat eine schwere posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Der Hundeangriff hat ihr Leben vollkommen verändert.

Die Hauptdiskussion im Prozess entwickelt sich entlang der Frage, ob der Angriff auf die Fahrlässigkeit der Besitzerin zurückzuführen oder, wie ihr Verteidiger es sagt, „ein wirklich fürchterliches Unglück“ ist. Am Ort der Beißattacke besteht keine allgemeine Leinenpflicht. Dennoch müssen Hundehalter ihre Tiere jederzeit unter Kontrolle haben. „Ein Angriff kommt nicht aus dem Nichts“, hat die Hundeforscherin Alexandra Horowitz einmal in einem Spiegel-Interview gesagt. Im besten Fall hatte die Angeklagte diese Signale nicht gut genug im Blick. Dass der Angriff aus dem Nichts kam, bestätigt auch das Opfer. Sie hat jedoch eine weniger vorteilhafte Deutung des Geschehens.

Als die 36-Jährige aussagt, ändert sich gleich die Stimmung im Gerichtssaal. Sie spricht sehr leise und vorsichtig. Jedem Wort ist anzumerken, wie sehr sie noch heute unter ihrem Erlebnis leidet. „Ich bringe noch Taschentücher mit“, sagt ihre Anwältin, bevor sie sich neben sie an den Zeugentisch setzt. „Es war so, als hätte sie den Hunden ein Zeichen gegeben. Sie hat nicht geholfen, hat einfach nur zugeguckt.“ Über die unterlassene Hilfeleistung der Angeklagten sagt sie: „Vielleicht dachte sie, ich sei tot.“ Die Frau ist sich sicher, dass die Hunde bewusst auf sie gehetzt wurden. Sie wisse nur nicht, warum. Wegen dieser Aussage und der schwarzen Hautfarbe des Opfers wurde während der Ermittlungen sogar kurzzeitig über einen fremdenfeindlichen Hintergrund nachgedacht. Das und andere mögliche Motive für eine vorsätzliche Tat wurden jedoch schnell wieder verworfen. Nichts sprach dafür, dass die Angeklagte mit Vorsatz gehandelt hat.

Der Angriff, den die 36-Jährige erlebt hat, ist in der Heftigkeit seiner Folgen außergewöhnlich. Insgesamt sind derartige Zwischenfälle in Düsseldorf allerdings gar nicht so selten. Wie die Stadt Düsseldorf auf Anfrage mitteilt, gab es im Jahr 2023 insgesamt 60 „Beißvorfälle“. Hierbei wird allerdings nicht gesondert erfasst, ob es sich nur um eine Bedrohung oder eine ausgeführte Attacke gehandelt hat – ebenso nicht, ob das Opfer ein Mensch oder ein anderes Tier war. Deutlich häufiger sind Verstöße gegen die Leinenpflicht. 403 waren es im Jahr 2023, im Jahr davor sogar 609. Die entsprechenden Regelungen des Landeshundegesetzes hätten sich bewährt, heißt es von Seiten der Stadt.

Je länger die Aussage des Opfers vor Gericht dauert, umso aufgewühlter wirkt die Frau. Während ihr immer wieder die Tränen kommen, starrt die Angeklagte sie mit regungslosem Blick an. Es geht nun um die körperlichen und seelischen Narben der Frau. Die Stelle am Kopf, an der keine Haare mehr wachsen, die Hüftschmerzen. Früher sei sie wöchentlich gejoggt, heute tue sie das kaum noch. Die dreifache alleinerziehende Mutter hat Schlafprobleme, traut sich kaum noch vor die Tür. „Ich habe Angst. In Angermund hat jeder einen Hund. Es ist schwer.“ Irgendwann richtet sie ihre Worte direkt an die Angeklagte. „Wie können Sie nur? Ich habe Ihnen nichts getan.“ Ihre Anwältin muss sie beruhigen.

Während des zweiten Verhandlungstags Mitte Dezember werden weitere Gutachten besprochen. Es geht um die genauen Verletzungen des Opfers, die Leinen- und Maulkorbpflicht, die die Stadt Ratingen mittlerweile für die Hündin der Angeklagten verhängt hat und um eine Verhaltensprüfung, die diese im Oktober 2023 ohne Auffälligkeiten bestanden hatte. Außerdem wird der Auszug der Angeklagten aus dem Bundeszentralregister vorgelesen. Denn diese ist, wenn auch nicht einschlägig, wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Diebstahls vorbestraft. Etwas, das ihr in diesem Verfahren nicht gerade weiterhilft. Oder wie der Staatsanwalt es in seinem Plädoyer zusammenfasst: „Dass die Angeklagte eine Lügnerin ist, wissen wir aus den Vorstrafen. Das steht rechtskräftig fest.“

Dennoch endet der Prozess für sie mit einem Teilerfolg. Die Unterlassene Hilfeleistung muss aus rechtstheoretischen Gründen wegfallen, weil sie in Konkurrenz zur Fahrlässigen Körperverletzung steht, wegen der die Angeklagte nun zu 120 Tagessätzen verurteilt wird. Eine Erhöhung der auch aus Sicht der Richterin „milden Strafe“ war nicht möglich, weil die Staatsanwaltschaft zuvor keine Revision eingelegt hatte. Und, das wohl aus Sicht der Angeklagten wichtigste: Sie darf ihren Hund behalten. Es sei nicht festzustellen, dass von der Hündin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe.

Ganz ausgestanden ist die Sache für die 40-Jährige damit allerdings noch nicht. Die Nebenklagevertreterin hatte Schadensersatz gefordert, dessen Höhe noch in einer weiteren Entscheidung festgelegt werden muss. Und sie hatte zum Abschluss ebenfalls emotionale Worte an die Hundebesitzerin gerichtet. Es sei „schäbig“ gewesen, sich nicht um ihre Mandantin zu kümmern und auch danach so wenig Mitgefühl zu zeigen. „Natürlich tut es mir leid, es tut mir unheimlich leid“, hatte diese geantwortet. Nur leider könne sie es nicht ungeschehen machen.


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