Wie Düsseldorf zur Weltmacht im Schach wurde

Zwei Sekunden nachdem Ding Liren seinen Turm von f4 auf f2 verschiebt, ist im indischen Livestream ein langgezogenes „oooh, whaaat?“ zu hören. Menschen springen auf, jubeln. Im eingeklinkten Video aus Singapur ist zu sehen, wie Dommaraju Gukesh erst erstarrt, sich dann aufrichtet und schließlich die Hände vor dem Mund zusammenfaltet. In Indien ruft der Kommentator „Schaut euch Gukesh an. Gukesh weiß es. Oh mein Gott. Er wird Weltmeister.“
Auch beim Düsseldorfer Schachklub (DSK) erinnern sie sich noch Wochen später genau an diesen Moment. „Wir haben alle geguckt“, sagt der zweite Vorsitzende Axel Berndt. „Es war ja eine interne Vereinsmeisterschaft.“ Sowohl Gukesh, der mit 18 Jahren bisher jüngster Schach-Weltmeister wurde, als auch sein Vorgänger Liren sind DSK-Mitglieder.
Bis vor rund zwei Jahren war völlig undenkbar, dass ein solches WM-Finale etwas mit Düsseldorf zu tun haben könnte. Der DSK, der größte Verein der Stadt mit rund 200 Mitgliedern, war mit seiner ersten Mannschaft Mittelmaß in der zweiten Bundesliga. Dann las Vereinschef Jan Werner von einem Düsseldorfer Unternehmer, der eine Schnellschach-WM in der Stadt austragen wollte und witterte die große Chance. 15 Minuten später hatte er diesen nicht nur als Wadim Rosenstein identifiziert, sondern auch über ein soziales Netzwerk kontaktiert und drei Tage später als Sponsor engagiert. Die Folge: Heute spielen fünf der elf weltbesten Spieler für Düsseldorf und könnten dafür sorgen, dass der DSK erstmals seit 65 Jahren wieder Deutscher Meister wird – ein Titel, der gleichbedeutend mit dem der besten Mannschaft der Welt sein dürfte.

Knapp zwei Monate nach dem WM-Finale hängt am Eingang zum Pempelforter Humboldt-Gymnasium ein DinA4-Zettel, auf dem „Schach-Bundesliga“ und „Eintritt frei“ steht. Oben in der Aula sind aus diesem Anlass 16 Holztische aufgebaut. Jeweils acht für jedes der beiden Spiele, die dort an diesem Nachmittag stattfinden sollen. Links trifft Solingen auf Deizisau, rechts Düsseldorf auf Baden-Baden.
Auf den Tischen befinden sich immer ein Schachbrett, eine rote Stoppuhr und zwei Schilder – auf ihnen stehen Name, Verein, Herkunftsland und Elo-Zahl der Spieler. Ein Wert, mit dem die Leistung im Schach gemessen wird. Über 2700 gilt als absolute Weltklasse. Nur 137 Menschen haben diese Zahl jemals erreicht, darunter 13 der 16 Spieler, die an diesem Tag für Düsseldorf und Baden-Baden antreten. Sie sind aus aller Welt angereist, um sich in einer Schul-Aula zu messen.

Nach dem ersten Kennenlerngespräch zwischen Werner und Rosenstein geht alles ganz schnell. Der Vereinschef und der Logistikunternehmer entwickeln eine gemeinsame Idee. Sie wollen versuchen, Deutscher Meister werden. Und Rosenstein liefert. Im Frühjahr 2023 engagiert er mehrere Weltklassespieler, darunter auch den späteren Weltmeister Gukesh. „Dann haben wir mit diesen Spielern zweite Liga gespielt. Die Leute haben gar nicht geglaubt, dass wir die wirklich antreten lassen. Und doch, die sind gekommen“, sagt Werner. Die Folge: Düsseldorf steigt im Sommer 2024 souverän in die erste Bundesliga auf. Die beiden werden zur eingespielten Traumfabrik. Rosenstein bezahlt, Werner setzt um. Die erste Mannschaft des DSK wird zum Verein im Verein.
„Wir haben auch überlegt: Macht das Sinn mit so einer Profimannschaft zu spielen, wenn wir sonst ein reiner Amateurverein sind?“, sagt Axel Berndt. Der zweite Vorsitzende des DSK müsste eigentlich gerade selbst am Brett sitzen und nutzt seine Bedenkzeit zwischen zwei Zügen für ein kurzes Gespräch vor der Tür. Drinnen im Pfarrsaal der Kirchengemeinde St. Adolphus beginnen an einem Freitagabend im Januar gerade aus Anlass des 100-jährigen Vereinsbestehens die DSK-Open. 74 Teilnehmer sind gemeldet. Die jüngsten haben erst kürzlich die Grundschule beendet, die ältesten ihr Arbeitsleben, bevor das Internet eine ganz große Sache wurde. „Das ist das Schöne am Schach. Man kann es von klein auf spielen bis ins hohe Alter.“ Was allerdings auffällt: Es sind fast ausschließlich Männer, die ihre Figuren verschieben. Nur zwei Frauen haben für das Turnier gemeldet.
Neben der Bundesliga-Mannschaft sind sie im Verein vor allem auf ihre Jugendarbeit stolz. 70 Kinder und Jugendliche spielen beim DSK Schach, die ambitionierten von ihnen werden von internationalen Meistern und Großmeistern trainiert. Das Interesse ist so groß, dass sie zeitweise einen Aufnahmestopp verhängen mussten. Corona und die Netflix-Serie „Damengambit“ haben zu dem Boom beigetragen, glaubt Berndt.
Und auch wenn die absoluten Weltklassespieler des Vereins mit dem Alltag dort nichts zu tun haben, Gesprächsthema Nummer eins sind sie auch an diesem Abend im Pfarrsaal. Jan Werner ist parallel mit der Bundesliga-Mannschaft in Hamburg zu Gast. Dort treffen die Düsseldorfer auf den FC St. Pauli und den Norweger Magnus Carlsen, den bekanntesten und besten Schachspieler der Welt. 99 Euro kostete das Tagesticket. Sogar die „New York Times“ berichtete über den knappen Auswärtssieg.
Auch in Düsseldorf hätten sie dieses Mal Tickets verkaufen können, die Anfragen waren da. Dennoch haben sie sich am ersten Februar-Wochenende für kostenlosen Eintritt entschieden. An diesem Samstag und Sonntag finden die einzigen beiden Düsseldorfer Heimspiele in dieser Saison statt. Die Bundesliga reist in einer Art Turniermodus durch das ganze Land.

Samstags um Punkt 14 Uhr begrüßt Werner die rund 100 Zuschauer im Saal. „Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, die absolute Weltspitze hierhinzubringen“, sagt er. Danach stellt sich der Hauptschiedsrichter vor. Zehn Minuten lang dürften noch Handyfotos geschossen werden, sagt er, dann sind alle elektronischen Geräte im Saal verboten. Eine Regel, die Betrug vorbeugen soll. Seine Worte zeigen Wirkung. Sofort bildet sich eine Menschentraube an dem Tisch mit der Nummer zwei. Dort hat Baden-Baden den absoluten Star des Nachmittags aufgestellt: Der Inder Viswanathan Anand war insgesamt acht Jahre lang Weltmeister – bis Magnus Carlsen ihn 2013 bezwang.

Bei Jan Werner mischen sich an diesem Tag Freude und Sorge. Er ist seit dem frühen Morgen unterwegs, hat sich um den Aufbau und den Einkauf für den kleinen Verkaufsstand gekümmert, zwischendurch noch Spieler abgeholt. Nun steht er mit einer halb gegessenen Salamibrötchen-Hälfte in der Hand im Flur des Gymnasiums und richtet den Blick aufs Sportliche. Es sei „natürlich Wahnsinn“, dass Baden-Baden mit der absoluten Topmannschaft inklusive Anand angereist sei, sagt er. „Bei uns hingegen ist die Planung leider nicht ideal gelaufen.“
In den Niederlanden findet parallel ein Spitzenturnier statt, an dem gleich sechs DSK-Spieler teilnehmen, auch Weltmeister Gukesh. Dessen Finalgegner Ding Liren ist dieses Jahr aus Zeitgründen ohnehin nicht gemeldet. „Wir sind heute in etwa auf Augenhöhe mit Baden-Baden, eher etwas schlechter. Wir hätten die Chance gehabt, deutlich stärker zu sein.“ Düsseldorf tritt im Spiel gegen das Team, dass 16 der letzten 18 Deutschen Meisterschaften gewonnen hat, nur mit einer B-Mannschaft an, angeführt von der Nummer neun und der Nummer elf der Welt.
Wer in der Bundesliga vorne mitspielen möchte, braucht einen finanzstarken Mäzen, der damit leben kann, dass er ein sicheres Verlustgeschäft eingeht. Es sind Menschen wie Wadim Rosenstein und der Hamburger Tech-Millionär Jan Henric Buettner, der dort gleich zwei Bundesliga-Clubs finanziert. Über die genauen Kosten redet in der Szene niemand gerne, auch Werner nicht. Rosenstein selbst reagiert erst gar nicht auf Anfragen für diesen Text.
Die „Deutsche Welle“ nannte die Liga auch wegen ihrer kaum vorhandenen Vermarktungsmöglichkeiten zuletzt einen „Spielplatz für Millionäre“ und schätzte die Kosten der Spitzenteams für eine Saison auf einige hunderttausend Euro. Dabei dürfte es dem ambitionierten Hobbyspieler Rosenstein auch um sein eigenes Ego gehen. Er, der sogar kurzzeitig Präsident des Deutschen Schachbunds werden wollte, ist selbst Teil des DSK-Kaders. In der Bundesliga blieb er noch ohne Einsatz, bei der selbstorganisierten Schnellschach-WM in Düsseldorf wurde er 2023 mit einem um sich selbst herum gebauten Weltklasseteam hingegen Mannschafts-Weltmeister. Ein Jahr später wiederholte er dieses Model im noch dynamischeren Blitzschach.
Beide Spieler haben in der Bundesliga für die ersten 40 Züge jeweils 100 Minuten Zeit, danach noch einmal weitere 50 – für jeden Zug erhalten sie zudem einen Bonus von 30 Sekunden. Die Duelle ziehen sich über mehrere Stunden und sind für den Laien kaum nachvollziehbar.


So wird es nach den ersten Minuten und dem Ende der Handyerlaubnis in der Aula des Humboldt-Gymnasiums langsam leerer. Dafür ist nun in der Klasse 5B jeder Stuhl besetzt. Einige Zuschauer lehnen sogar in der letzten Reihe an der Wand. Vorne sitzt Christian Braun vor einem aufgeklappten Laptop, dessen Bild auf einen riesigen Bildschirm projiziert wird und sagt Sätze wie „Weiß scheint hier ein wenig besser zu stehen.“ Braun ist Schachautor, Schachtrainer und spielt selbst in der zweiten Mannschaft des DSK. Er ist hier, damit die Zuschauer überhaupt verstehen, was ein paar Räume weiter gerade geschieht.

In der Schach-Bundesliga sind solche Live-Übertragungen obligatorisch. Die Spiele finden auf elektronischen Brettern statt, die Züge werden mit 15 Minuten Verzögerung ins Internet gestellt. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, damit niemand aus der Ferne illegale Hilfe leisten kann. Live-Kommentatoren wie Braun holen sich den verzögerten Stream aus dem Internet und kommentieren ihn. Es ist ein Service für ein Publikum, das fast ausschließlich selbst große Ahnung vom Schach hat, Bundesliga-Spiele aber dennoch relativ ratlos verfolgt. „Ich bin ein guter Schachspieler, aber wenn ich danebenstehe, weiß ich auch nicht, was da passiert“, sagt Jan Werner.

Braun weiß das hingegen sehr genau. Mit einer Elo-Zahl von 2393 gehört er selbst zu den 2000 besten Schachspielern der Welt. Und, was viel wichtiger ist, zu beinahe jedem der Spieler und Verläufe, die er gerade kommentiert, hat er eine Anekdote parat. Braun ist ein wandelndes Schachlexikon. Mal sagt er: „Den habe ich ein paar Mal im Blitzen besiegt. Da war er noch zwölf oder 13. Da konnte man ihn noch besiegen.“ Dann steigt er in theoretische Untiefen hinab, spricht über Stellungen und darüber, was in genau dieser Situation der allerbeste Zug wäre und wer in welchem Jahr in einem vergleichbaren Verlauf mal gewonnen oder verloren hat. Immer wieder klickt sich Braun durch die Partien des Tages und beurteilt die letzten Aktionen. „Das mit der Analyse ist ziemlich cool“, sagt ein Mann zu seinem Banknachbarn. Gemeinsam hatten sie gerade noch zwei Plätze in der letzten Reihe ergattert.

Die erste Stunde vergeht. Im Schach ist das noch die Zeit des Aufbaus. Beide Spieler entwickeln ihre Strategien, versuchen ihre Idee durchzubringen. Wer gewinnen könnte, ist jetzt noch an keinem der Bretter zu beurteilen. Auch Jan Werner weiß noch nicht, in welche Richtung sich dieser Tag für seine bislang noch ungeschlagene Mannschaft entwickeln könnte. „Dieser Kampf hier ist schon sehr entscheidend. Wenn wir den nicht verlieren, dann haben wir weiterhin Vorsprung vor unseren größten Kontrahenten.“ Ob sie dieses Jahr wirklich Meister werden? „Die Chancen stehen mindestens 50 zu 50. Wadim würde wahrscheinlich sagen: 100 Prozent.“ Werner lacht.

Dann, in der zweiten Stunde, deutet sich etwas an. Im Saal ist davon nichts zu merken. Die Spieler sitzen einander ruhig gegenüber, manchmal geht einer von ihnen bedächtig durch den Raum. Außer Schritten ist dort nichts zu hören. Doch als Braun beim Durchklicken im Klassenzimmer an Brett zwei angekommen ist, hält er kurz inne. Der für Düsseldorf spielende US-Amerikaner Wesley So hat dort gegen Ex-Weltmeister Viswanathan Anand einen Traumstart hingelegt und ihn schnell unter Druck gesetzt. Braun ist die positive Überraschung anzumerken, er schiebt aber gleich die Warnung hinterher, den Inder niemals abschreiben zu dürfen. „Bei Anand-Partien passt in der Regel einfach alles.“

In der dritten Stunde enden die ersten Duelle. An Brett sechs, sieben, drei, eins und fünf einigen sich die Spieler nacheinander auf ein Unentschieden. Der Ablauf ist immer gleich. Beide schütteln sich erst die Hände und beginnen dann ein Gespräch darüber, ob es nicht doch noch für einen der beiden Siegchancen gegeben hätte. Gegenseitig verschieben sie sich die Figuren auf dem Brett, um ihre Thesen zu überprüfen. Dann verlassen sie gemeinsam den Saal und werden auf dem Weg zur Tür von einem einsamen Autogrammjäger erwartet, der zuvor die jeweils passenden Fotos aus einem Ordner voller Klarsichtfolien gekramt hatte. Parallel wird die Menschentraube an Brett zwei wieder größer. „Anand verliert“, flüstert ein junger Mann mit hörbarer Aufregung in der Stimme.

Die Planungen beim DSK laufen derzeit bis zum Sommer. Wird Jan Werner auf die kommende Saison angesprochen, antwortet er nur: „Das haben wir noch nicht geplant. Das muss ich noch mit Wadim Rosenstein besprechen.“ Die beiden halten in der Regel über WhatsApp Kontakt, bilden vor den Spieltagswochenenden eigene Gruppen mit den eingekauften Schach-Stars, in denen sie über Stellungen flachsen. „Das ist schon speziell“, sagt Werner. Auch, weil noch keiner weiß, wie es weitergeht, wäre der Titel für Düsseldorf so wichtig. Wer weiß, ob es jemals eine bessere Chance geben wird.

Dann geschieht es. Innerhalb weniger Sekunden reichen sich Anand und So, dann auch der für Düsseldorf spielende Usbeke Javokhir Sindarov und der Franzose Maxime Vachier-Lagrave an Brett vier die Hände. Diesmal sind es keine Unentschieden. Anand und Vachier-Lagrave haben aufgegeben, Düsseldorf gewinnt. Mit Anand verlassen die allermeisten Zuschauer den Saal, drängen sich hinter ihm durch die schmale Tür nach draußen. Der Ex-Weltmeister posiert für Fotos, gibt Autogramme. Männer, Frauen, Kinder – sie alle wollen einen kurzen Moment mit ihm haben. Ein Helfer im DSK-Hemd läuft in den Raum, schaut ungläubig auf das verwaiste Schachbrett und unterdrückt einen kurzen Jubelschrei.

15 Minuten später verkündet Christian Braun den Zuschauern im Klassenraum der 5B die Siege an Brett zwei und vier. „Also Düsseldorf hat gewonnen gegen Baden-Baden.“ Applaus brandet auf. Dann geht es sofort in die Analyse. War es eine Überraschung? Nicht unbedingt, sagt Braun, und erklärt die Form der einzelnen Spieler. Jan Werner sitzt da schon im Dauerlicht vor einer Videokamera und interviewt auf Englisch Wesley So, den Helden des Tages.
Der Stolz ist dem Vorsitzenden der wohl besten Schachmannschaft der Welt anzusehen.
