Warum dieser Mann alle 372 Stolpersteine in Düsseldorf geputzt hat

Martin Kreitzberg ist zu allen Messingplatten in der Stadt gelaufen, die an Opfer der Nazis erinnern. Weil er selbst ins Stolpern kam, brauchte er ein Jahr länger. Zum letzten Stein habe ich ihn begleitet.
Von Sebastian Dalkowski (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 15. November 2023
Martin Kreitzberg reinigt Stolpersteine
Martin Kreitzberg reinigt den Stolperstein, der an der Merowingerstraße 107 an Abraham Neuberger erinnert.

Ein Mann aus Itter, er heißt Martin Kreitzberg, lief für sein Leben gern. Als er seinen Wehrdienst leistete, lief er seinen ersten Marathon, denn für einen Marathon erhielt er einen freien Tag. Mit 50 kam er in New York bei seinem 50. Marathon in 5:06:27 Stunden auf Platz 38.276 ins Ziel. Er sah im Laufen keinen tieferen Sinn, es war für ihn einfach Sport.

Dann kam ihm, wie uns allen, Corona dazwischen. Nach Feierabend war wenig zu tun, Marathons fielen auch aus. Kreitzberg brauchte neue Ziele. Er war nicht der Läufer, der jedes Mal die immerselbe Strecke lief. Schon einige Wochen vor Ausbruch der Pandemie hatte er begonnen, alle Gotteshäuser der Stadt abzulaufen, rund 150, um Düsseldorf noch einmal anders kennenzulernen. Zurück nahm er Bus und Bahn, denn manchmal waren es mehr als 30 Kilometer vom Süden der Stadt bis zum Ziel.

Als er alle Kirchen, Synagogen und Moscheen gesehen hatte, suchte er nach etwas anderem, das es ein paar Hundert mal in der ganzen Stadt gab. Er kam auf Büdchen, weil zwar viele Geschäfte wegen Corona ihre Öffnungszeiten reduziert hatten, aber Büdchen, so war sein Eindruck, nie geschlossen hatten. Kathedralen der Nahversorgung, nannte er sie. Er dachte, es wären 200, am Ende lief er 2021 zu mehr als 350. Am letzten Büdchen des Tages trank er ein Bier. Wie schon bei den Gotteshäusern zog er auch dieses Projekt ziemlich problemlos durch. Wohin jetzt?, fragte er sich. Der Versicherungskaufmann ging auf die 60 zu.

In Himmelgeist kam ihm eine Idee. Dort stieß er auf einen Stolperstein, den er noch nie bemerkt hatte. Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Weltweit existieren mehr als 100.000 von ihnen, quadratische Messingplatten auf einem Betonwürfel, die für die Opfer des Nationalsozialismus stehen, Juden, Sinti und Roma, Linke, Homosexuelle, die ermordet, in den Selbstmord getrieben oder aus dem Land gejagt worden waren. Auf jedem Stein stehen Name und Lebensdaten der Person, er wird meist vor seinem letzten frei gewählten Wohnhaus verlegt. Hier wohnte NAME GEBURTSJAHR deportiert / verhaftet / verurteilt / eingewiesen JAHR ermordet in ORT.

In Düsseldorf gibt es 372 Stolpersteine. Weil sie draußen liegen und Wetter, Dreck und Schuhsohlen ausgesetzt sind, wird aus dem glänzenden Messing schnell schmutziges Metall. Kreitzberg beschloss, zu allen 372 zu laufen und sie zu reinigen. Nicht, weil er glaubte, eine Mission zu haben. Kreitzberg war kein Typ für Überhöhungen. Er machte es einfach, weil er es sinnvoll fand. Am 2. Januar 2022 unternahm er seine erste Tour. Er begann im Norden der Stadt und arbeitete sich immer weiter zu seinem Haus in Itter vor, fast jeden Samstag war er unterwegs. Menschen sprachen ihn an, während er vor dem Stein kniete und ihn reinigte. Viele wussten nicht, was das überhaupt war, so ein Stolperstein. Kreitzberg erklärte es ihnen.

In Eller fragte ihn jemand, welchen Bezug er zu der Person hatte, deren Name auf der Messingplatte stand. War er mit ihm verwandt? In Benrath sprach ihn jemand an, weil er die Person kannte, deren Stein er reinigte. Einmal kam eine Frau mit Kind und sagte, den Stein hatten sie auch reinigen wollen, aber irgendwie hätten sie wohl das falsche Putzmittel verwendet und deshalb habe es nicht geklappt. Also putzten sie noch mal zusammen.

Kreitzberg machte von jedem Stolperstein zwei Fotos, eines vor dem Reinigen und eines danach, sich selbst fotografierte er nie. Zu Hause recherchierte er das Leben des Menschen und veröffentlichte alles auf Instagram. Während der Schule war der Holocaust nie groß Thema für ihn gewesen, auch danach nicht. Mit jedem Lauf, mit jeder Biografie aber wurde ihm das Ausmaß der Vernichtung, die Systematik der Vernichtung deutlicher. Sechs Millionen getötete Juden, das war für ihn vorher eine abstrakte Zahl gewesen, nun bekamen die Opfer des Nationalsozialismus ein Bild. Das war etwas anderes, als zu Gotteshäusern oder Büdchen zu laufen.

Kreitzberg wollte das Projekt zehn Monate später am 9. November 2022 abschließen. An jenem Tag, der an die Pogrome der Nazis gegen jüdische Mitbürger:innen 1938 erinnerte, für die sich noch immer völlig verharmlosend der Begriff „Reichskristallnacht“ gehalten hat. Zwar gingen auch Fenster von Synagogen und jüdischen Geschäften zu Bruch, aber die Nazis töteten auch Jüdinnen und Juden, hunderte, vielleicht auch mehr, Zehntausende kamen in Konzentrationslager.

Doch dann begannen die Dinge für Kreitzberg schiefzulaufen.

Im Juni 2022 bekam er Corona, aber gut, wer bekam das nicht? Er legte eine Laufpause ein. Doch als er Corona wieder los war, merkte er, dass sich sein linker Arm von Tag zu Tag gelähmter anfühlte. Es zog bereits Richtung Hals. Der Hausarzt schickte ihnins Krankenhaus, Verdacht auf Schlaganfall. Doch der war es nicht. Man schickte ihn nach Hause. Besser wurde es nicht. Fürs nächste Krankenhaus musste er lange telefonieren, weil die Uni-Klinik in Düsseldorf streikte. Er landete in Köln. Erst dort wurde Neuroborreliose diagnostiziert. Eine Zecke hatte ihn unbemerkt gebissen und dabei Bakterien übertragen, die sein Nervensystem befallen hatten.

Als auch das überstanden war, entfernte man ihm die Platten aus dem linken Knöchel, den er sich nach einem Sturz mit dem Fahrrad 2021 gebrochen hatte. Weil das Immunsystem nach der Borreliose noch geschwächt war, wuchs die Wunde nicht richtig zu. Er musste ein zweites Mal operiert werden. Es dauerte bis zum Januar 2023, bevor er seine Läufe zu den Stolpersteinen der Stadt fortsetzten konnte. Ein halbes Jahr hatte er verloren.

Im Juni 2023, er hatte es schon fast geschafft, stürzte er erneut mit dem Rad und brach sich zwei Knochen in der rechten Hand. Noch mal drei Monate Pause. Vorher hatte er sich nie etwas gebrochen, nun kam alles auf einmal. Sein Vater und seine Schwester starben. Es war, als würde eine geheime Kraft auf die Probe stellen, wie ernst er es mit den Stolpersteinen wirklich meinte. „Es fügte sich leider vieles nicht so, wie ich es wollte“, sagte er später. „Man nennt es, glaube ich, Leben.“ Es war die einzige Zeit, in der die Instagram-Fotos nicht ausschließlich Stolpersteine zeigten, sondern auch mal ihn. Ein Bild, wie er mit seiner eingegipsten Hand aus dem Krankenhausbett in die Kamera winkt, ein Röntgenbild seiner gebrochenen Hand.

Am 9. November 2023, mit genau einem Jahr Verspätung, machte sich Martin Kreitzberg gegen 18 Uhr auf den Weg zum letzten, zum 372. Stein. Ich begleitete ihn. Ziel war die Merowingerstraße 107 in Bilk, knapp fünfeinhalb Kilometer von seinem Haus entfernt. Kreitzberg, ein Mann mit sehr freundlichen und weichen Gesichtszügen und stoppeligem Bart, war gerade erst von der Arbeit gekommen, hatte sich umgezogen, dann lief er los. Es war bereits dunkel. Kreitzberg trug Turnschuhe, eine Fortuna-Mütze mit breiten Streifen in grau und rot, den Rucksack mit den Putzmitteln. Zwischendurch ging er immer wieder einige Meter. Nach den ganzen Verletzungen war er nicht mehr im Training, er war fast 60, lief eigentlich nur noch, wenn er zu den Stolpersteinen aufbrach. Nach knapp 45 Minuten erreichte er den Stein von Abraham Neuberger, der in den Gehweg eingelassen war.

Neuberger, am 18. August 1868 in Velbert geboren, war das älteste von sechs Kindern einer Metzgerfamilie. 1898 zog er mit seiner Ehefrau und seinem Sohn nach Düsseldorf. Max starb 1914 als Soldat im Ersten Weltkrieg, Neubergers Frau 1938. 1942 wurde Neuberger vom Güterbahnhof Derendorf in das Ghetto Theresienstadt im heutigen Tschechien deportiert. Wenige Monate später kam er ins Vernichtungslager Treblinka in Polen. Dort ermordeten ihn die Nazis.

Als erstes machte Kreitzberg mit seinem Smartphone ein Vorher-Foto vom verschmutzten Messing, dann holte er seine Materialien aus dem Rucksack. Er kniete sich auf eine Schaumstoffmatte, die eigentlich für die Gartenarbeit gedacht war, verteilte mit einer Bürste Metallpolitur auf der Platte und ließ sie einweichen. Während er wartete, entzündete er ein Teelicht, wie er es immer machte, damit die Leute sahen, dass hier etwas passiert war. Danach scheuerte er die Platte mit einem Schwamm. Aus dem schmutzigen Metall wurde wieder blankes Messing, das er mit einem alten T-Shirt polierte. Dann schoss er das Nachher-Foto. Er hatte es doch noch geschafft, nach fast zwei Jahren.

Wobei er genaugenommen noch einen weiteren Stein reinigen musste. Er war schon dort gewesen, hatte ihn aber nicht gefunden. Er sagte mir: „Ich bin froh, dass ich es durchgezogen habe. Ich bin froh, dass es jetzt etwas Schöneres gibt, was ich machen kann.“ Es gab Tage, da reinigte er mehrere Steine, die gleich nebeneinander lagen, eine ganze Familie, ermordet.

Später fragte ich ihn noch, ob er die Stolpersteine seit dem 7. Oktober, seit dem Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten, mit einem anderen Bewusstsein putze. Kreitzberg sagte, er poste die Fotos auf Instagram nun mit #standwithisrael. Aber er sei weder vor noch nach dem 7. Oktober dumm angemacht worden während seiner Arbeit. Nur einmal habe es Kritik gegeben, als auf einem Foto bei Instagram zu sehen war, dass er ein Putzmittel verwendete, das „Der General“ hieß. Er sagte, Antisemitismus sei vorher schon aktuell, schon immer da gewesen, er musste nicht importiert werden, er habe jetzt nur ein neues Ventil gefunden. In der Nähe des Steins von Abraham Neuberger stand ein Straßenmast, auf den jemand mit einem weißen Stift „Fuck AfD“ geschrieben hatte. Kreitzberg sagte, das hätte auch er gewesen sein können. „Man muss immer wieder ganz klar sagen: Wir müssen höllisch aufpassen.“

Er hätte an diesem Tag gleich wieder von vorne anfangen können. Die ersten Steine, die er geputzt hatte, waren – er hatte es selbst gesehen – längst wieder dunkel geworden.

Weiterführende Links

Die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf hat auf ihrer Webseite alle Stolpersteine mit Biografien der Personen aufgelistet.

Martin Kreitzberg berichtet auf Instagram von seinen Läufen zu den Stolpersteinen.

Seine Büdchen-Tour hat er hier dokumentiert.

Martin Kreitzberg reinigt Stolpersteine
Neuberger, am 18. August 1868 in Velbert geboren, wurde 1942 vom Güterbahnhof Derendorf in das Ghetto Theresienstadt im heutigen Tschechien deportiert. Wenige Monate später kam er ins Vernichtungslager Treblinka in Polen. Dort ermordeten ihn die Nazis.

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