Schrecklich amüsant und in Zukunft weiter ohne mich

Ich habe keine Bratwurst in mich hineingestopft, nicht mit meinen Fingern nach fettigen Pommes gegriffen, keinen Backfisch und keine Zuckerwatte auseinandergezupft. Ich habe auch keine Churros, kein Popcorn, keine gebrannten Mandeln verschlungen. Ich habe kein Altbier getrunken, kein Pils, keinen Jägermeister, keinen Asbach, keinen Malteser, keinen Korn, keinen Killepitsch. Ich habe mich nicht in den Autoscooter Diamond gesetzt. Ich habe mich auch nicht in den anderen Autoscooter gesetzt. Ich habe mich nicht in dem Loopingkarussell „Gladiator“ durchrütteln lassen, nicht in der Wildwasserbahn „Rio Rapidos“, nicht in der Indoor-Achterbahn Höllenblitz. Ich habe mir keine Brille aufgesetzt im Virtual-Reality-Fahrgeschäft „Dr. Archibald“. Ich habe mich nicht in der Boxbude vermöbeln lassen. Ich habe nicht vom Kettenkarussell „Bayern Tower“ aus 90 Metern Höhe auf Düsseldorf geblickt. Ich war nicht auf der Riesenschaukel Konga oder der Riesenschaukel Nessy oder der Überschlagschaukel „Looping The Loop“. Ich bin nicht mit der Alpina-Bahn oder der Wilden Maus XXL um die Kurven gerast. Ich habe mich auf keiner einzigen Geisterbahn erschrecken lassen. Ich habe nicht im Schützenfestzelt gefeiert und auch nicht im Zelt einer Altbierbrauerei.
Dafür habe ich gesehen, wie Lebkuchenherzen aus Kartons gezogen wurden. Ich habe Männer mit schlaffen Bäuchen Sachpreise einsortieren sehen. Ich habe gehört, wie das mechanische Krokodil der Wildwasserbahn in die Stille hinein testweise großen Spaß versprach und wieder verstummte. Ich habe mich angesichts ihres Gesichtsausdrucks gefragt, welche Drogen die Pappmaché-Bärin auf dem Balkon des Achterbahn-Kassenhäuschens nimmt. Ich habe einen jungen Mann in T-Shirt und kurzer Hose gesehen, eine Zigarette im Mund, der mit einem Schlauch minutenlang ein eingetopftes Bäumchen vor einem Karussell goss. Ich war auf der Rheinkirmes, am Mittwoch, zwei Tage vor der Eröffnung.
Am heutigen Freitag nimmt zum ersten Mal seit drei Jahren das angeblich viertgrößte Volksfest Deutschlands wieder seinen Betrieb auf. 2020 und 2021 hatte das Virus etwas dagegen. Eigentlich bedeutet die Rheinkirmes zehn Tage Ausnahmezustand, in diesem Jahr bedeutet sie Rückkehr in die Normalität. Ich bin von Natur aus schlechtgelaunt und frage: In welche Normalität, auf welche Rheinkirmes wollen wir zurückkehren?
Um diese Frage zu beantworten, bin ich je nach Überzeugung richtig gut oder besonders schlecht geeignet. Je nachdem, ob man glaubt, der Kirmes mit dem Herz oder doch dem Verstand gerecht zu werden. Ich komme nicht aus Düsseldorf, ich wohne nicht in Düsseldorf, ich war nur ein einziges Mal für wenige Stunden auf der Rheinkirmes. Keine Nostalgie beeinflusst meinen Blick. Ich mag Menschenmengen nicht, die über 22 Spieler auf einem Fußballplatz hinausgehen. Ich wählte für meinen Besuch nicht nur einen Tag vor der Eröffnung, ich ging auch morgens um 10, es war taghell. Fast alles stand schon, aber es lief noch nichts, auch keine Musik, keine Popcornmaschine, kein Zapfhahn. Die einzigen Menschen auf den Rheinwiesen waren neben einigen Joggern und Spaziergängern Mitarbeiter der Fahrgeschäfte und Buden und es waren fast ausschließlich Männer. Ich sah keine Frau irgendwas aufbauen. Sie trugen Sicherheitsschuhe und Tattoos und Bäuche und manchmal trugen sie auch fast nichts. Das Tageslicht leuchtete alles aus. Der Morgen danach, bloß zwei Tage davor. Bevor ich losging, setzte ich mich kurz auf einen Abhang neben dem Eingangsbogen. Von hier aus sah der Turm eines Kettenkarussells so hoch aus wie der Rheinturm.
Die Rheinkirmes ist wie jedes Volksfest der Versuch, die Leute aus ihrer eigentlichen Wirklichkeit zu holen. Die Wirklichkeit mit Corona, Ukraine-Krieg, Heizkosten, Stress im Job, Streit mit dem Partner, Ärger mit dem Vermieter. Und sie dann in eine andere, unmittelbare und viel bessere Wirklichkeit zu setzen. Damit das gelingt, müssen alle Sinne im Einsatz sein. Wir sollen bunte Lichter sehen, lustige Lieder hören, Popcorn riechen, Zucker essen, das Ende der Schwerkraft fühlen. Alles verstärkt sich gegenseitig, und Alkohol multipliziert es mit zehn. Am Mittwochvormittag sah ich bloß, aber es leuchtete nirgends. Bei Lichte betrachtet ist eine Kirmes ein Haufen Stahl und Fett und Bier. Und ich habe sie bei Lichte betrachtet.
Auf der Rheinkirmes ruft alles „Hier! Hier! Hier“, selbst dann, wenn sie noch nicht eröffnet ist. 78 Nummern sind auf dem offiziellen Kirmesplan eingezeichnet, und da fehlen die Fressbuden noch. Wer seinen Blick abwendet von der Geisterbahn, soll nicht in ein schwarzes Loch schauen, sondern auf den Breakdancer. Niemand soll stehenbleiben, höchstens, um einen Fahrchip oder ein Glas Bier zu kaufen. Wir sollen das Gefühl haben, bei jeder Bude, jeder Attraktion einem Superlativ beizuwohnen oder zumindest etwas außerordentlich Gutem oder Neuem. USP heißt das im Marketingsprech, unique selling point, das, was das Angebot von der Konkurrenz unterscheidet. Da gibt es dann „Düsseldorfs älteste Mandelbrennerei“ (seit 1927) und das „höchste transportabele Looping Fahrgeschäft der Welt“ (62 Meter). Die Geisterstadt erklärt auf einem Schild, sie sei „nichts für schwache Nerven! Denn wir arbeiten im Innern mit Schocker-Figuren aus den USA, dichtem Nebel, lauten Soundeffekten, grellen Stroboskopen, mehrfarbigen Laserstrahlen, Wasserspritzern“. Ein Fahrgeschäft verspricht, dass die Fliehkraft die Schwerkraft ablöst. „Ein einmaliger Spaß für jeden Besucher. Auch wenn man nur zuschaut – einmalig!“ Eine Geisterbahn treibt es auf die Spitze: „Neue Geister eingetroffen“. Ich mag den Ironie-Anteil nicht einschätzen. Eine Fischbude informiert: „Für unseren Backfisch verwenden wir ausschließlich hochwertiges Seelachsfilet! Kein Pangasius oder Ähnliches!“ Es gibt allerdings gar keinen Fisch, der Seelachs heißt. Seelachs ist der Name, unter dem der Kohlfisch rötlich eingefärbt als Lachsersatz in den Handel kommt. Er hat rein gar nichts mit Lachs zu tun, sondern gehört zur Familie der Dorsche. Von einem Trick Abstand nehmen, um mit einem anderen durchzukommen.
Die Wirklichkeit der Rheinkirmes ist ein Best Of aus Vergangenheit und Fiktion. Eine Fantasiewelt, für die wir keine Fantasie brauchen. Es fehlen fast sämtliche Hinweise auf die Gegenwart. Es gibt sogar eine Pizzeria, an der man noch mit DM bezahlen kann (Unique Selling Point!). Realistische Darstellungen von Menschen aus dem Jahr 2022 auf den Metallfassaden fehlen völlig. Menschen kommen entweder aus einer lange zurückliegenden Zeit oder treten als Comicfiguren auf (lebenslustige Bauern, dralle Dirndl-Trägerinnen). Kartoffeln bekommen Gesichter, Tiere werden zu Menschen. Die einzigen realen Personen in den Airbrush-Kunstwerken leben nicht mehr oder spielen in der Gegenwart keine Rolle, Marilyn Monroe, James Dean, Michael Schumacher, Mika Häkkinen. Auf einer Darstellung sitzen an einem Tisch Boris Becker, Roberto Blanco, Iris Berben (vermutlich), Thomas Gottschalk, Hansi Hinterseer. Kurz: die 90er. Setzt man sich in eine Geisterbahn oder was für einen Indoor-Spaß auch immer, verschwindet man innerhalb einer Fantasiewelt in einer weiteren Fantasie. Ein Traum in einem Traum. Wacht man daraus auf, glaubt man kurz, wieder in der Wirklichkeit zu sein. Vielleicht lässt sich der ein oder andere von einem Slogan irritieren, den „Der Ausschank 2.0“ angebracht hat, eventuell in Verkennung seiner Bedeutung. „Protect me from what I want“ steht dort. Gib mir also besser nicht, was ich will, könnte man darin lesen. Nicht das Fett. Nicht den Alkohol. Nicht die Party. Weil es ins Verderben führt. Der Spruch stammt von der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer, die ihn in den 80ern auf elektronischen Anzeigentafeln am Times Square in New York aufleuchten ließ.
Die Zugeständnisse an Gegenwart und Realität sind minimal und kommen meist in Form von unvermeidbaren Verbotsschildern an den Kassenhäuschen daher, darunter der Hinweis, dass Selfie-Stangen auf dem Fahrgeschäft nicht zugelassen sind. Mit Veränderungen, die über eine neue Attraktion oder ein neues Super-Fett-Food hinausgehen, tut sich die Rheinkirmes noch schwerer als andere Orte. Erst 2015 stellte jemand die erste Bude mit vegetarischen Imbissen auf. Auch 2022 wird nur schüchtern mit den Worten veggie oder vegan geworben. Denn das verbinden die meisten noch immer mit Verzicht. Und Verzicht passt nicht hierhin. Auf einer Kirmes verteidigen einige Menschen, sagen wir ruhig Männer, noch immer das Recht, so sein zu dürfen wie früher. Wenigstens hier noch. Dabei dürfen sie es auch anderswo noch ziemlich, nur nicht mehr ganz so ungestört. Wer immer tun und lassen durfte, was er wollte, fühlt sich dann bereits seiner Menschenrechte beraubt.
Eine Debatte um den gesellschaftspolitischen Fortschritt hat bereits vor der Eröffnung der Rheinkirmes eingesetzt, ausgelöst durch einen sexistischen Song der beiden Ballermann gestählten Talente DJ Robin und Schürze, bürgerlich Michael Müller. Den Titel möchte ich nicht nennen. Er steht auf Platz 1 der deutschen Charts. Am Mittwochmorgen hieß es, die Veranstalter der Rheinkirmes, die Schützen von Sankt Sebastianus, hätten allen untersagt, den Song zu spielen. Das machte gleich deutschlandweit die Runde. Anstatt darüber zu diskutieren, wie viel frauenfeindliche Scheiße wir wirklich ertragen wollen oder warum so ein Titel auch im Jahr 2022 noch Erfolg hat, verteidigen sogar Politiker mit 20 Kanonen die Kunstfreiheit, die nicht mal zur Debatte steht. Denn später stellte sich heraus, dass die Schützen kein Verbot ausgesprochen hatte, sondern lediglich die Empfehlung, das Lied nicht zu spielen. Bloß im eigenen Schützenzelt wird es definitiv nicht laufen. Ich ahne, wie das Thema in der lokalen Berichterstattung in Düsseldorf durchgespielt werden wird. Was sagen Sie dazu, Herr Drews? Was sagen die Kirmes-DJs? Dann noch eine schnelle Umfrage unter Kirmesbesucher:innen: Finden Sie es richtig, dass…? Am Ende bleibt bei vielen Menschen hängen: Nichts darf man mehr.
Doch auch wenn der Song nicht laufen sollte, was immerhin schon mal ein Anfang wäre, dürften fortschrittlich gesinnte Düsseldorfer:innen ab und zu zusammenzucken beim Spaziergang über die Rheinkirmes. Da gibt es Airbrush-Motive, die eine nackte Frau mit Insektenflügeln zeigen, die vor einem Drachen kniet. Eine barbusige Meerjungfrau mit lila geschminkten Lippen. Die klischeehafte Darstellung einer Hawaiianerin im Bastrock. Mit ihr wird Schokolade beworben. Die Kakaobohne wird in Südamerika und Afrika angebaut. Einfach mal Fünfe grade sein lassen, könnte man sagen. Kann aber nur sagen, wer davon nicht betroffen ist.
Fast am Ende meiner Rheinkirmes-Erkundung sah ich eine Darstellung, die mich stutzen ließ. Auf der Fassade der Pizzabude Daniele war ein Pizzabäcker vor seinem Steinofen zu sehen. Er war nicht comic-haft überzeichnet. Er trug ein weißes T-Shirt und eine weiße Mütze, in der Hand hielt er einen Pizzaschieber. Fast schon nachdenklich sah er auf den Steinofen, in dem es rot glühte. Ein kurzer Moment der inneren Einkehr. Eine Pizza war nirgends zu sehen. Dann sah ich noch mal hin und erkannte, wie tief das Ofenloch war. Ich wollte es erst nicht glauben, aber es musste einfach so sein: Dieser Ofen führte geradewegs in die Hölle.