Merle Fuhrmann und Eva-Maria Burchard
Merle Fuhrmann und Eva-Maria Burchard zeigen Garath in ihrem Fotomagazin frei von Klischees und Vorurteilen. Foto: Andreas Endermann

Himmlisches Garath

Garath hat mehr zu bieten als einen schlechten Ruf. In ihrem Fotokunst-Magazin zeigen die Fotografinnen Merle Forchmann und Eva-Maria Burchard den Stadtteil im tiefen Düsseldorfer Süden von einer anderen Seite.
Veröffentlicht am 30. November 2021

Auf der Bank vor dem Netto liegen Reste eines Döners. In Streifen geschnittenes Fleisch in Alufolie. Drinnen im Discounter tätigen Menschen ihre Feierabend-Einkäufe. Ein Mann mit Daunenjacke und Mütze hustet so intensiv, dass man Reißaus nehmen möchte. Vor den ineinander geschobenen Einkaufswagen verabschieden sich zwei Frauen voneinander: „Irgendwann werden wir wieder zur Normalität zurückkehren“, sagt die eine zur anderen. Es klingt eher wie eine Hoffnung. Ob sie wahr wird oder wann – weiß niemand.

Im Mykonos Imbiss auf der Ricarda-Huch-Straße in Garath dreht sich der Gyros-Batzen langsam um die eigene Achse. Auf dem Grillspieß: ein einsames Hähnchen. Von dem halben Dutzend Tische ist gerade mal einer besetzt. Die Person, auf den ersten Blick weder als Mann noch als Frau auszumachen, hat das erste Glas Weißwein fast geleert – und vorsichtshalber schon mal ein zweites bestellt. Neben ihr auf der Sitzbank steht eine Familienration Toilettenpapier. Über der Fritteuse, die gerade Pause hat – die Siebe sind ausgehängt – sind auf einer Kreidetafel die Angebote des Hauses notiert: Der Taxi-Teller entpuppt sich als länderübergreifende Kombination aus Gyros, Currywurst und Pommes. Preis: 8,90 Euro. Merle Forchmann und Eva-Maria Burchard grüßen beim Eintreten freundlich. Petros Kotsis, der hinter der Theke steht, ist für sie kein Unbekannter. Sie haben ihn auf ihren fotografischen Streifzügen durch Garath, die sie seit einigen Jahren unternehmen, kennengelernt – und abgelichtet. Ein Foto des Griechen, der den Imbiss vor 13 Jahren von seinem Vater übernommen hat, findet sich in ihrem Magazin wider. „Wie lange gibt es das Mykonos?“, fragt Forchmann. „26 Jahre“, sagt Kotsis.

Merle Forchmann und Eva-Maria Burchard möchten Garath jenseits von Klischees und Vorurteilen zeigen. Das war schon bei der ersten Ausgabe des Magazins ihr Ansatz, die Anfang 2020 erschien. Und das gilt auch für die zweite, die gerade herausgekommen ist. In letzterer finden sich auf 80 Seiten Fotos von Menschen in der Garather Fußgängerzone, vom Heizkraftwerk, vom Umbau der Freizeitstätte Garath oder von Schülern der Gesamtschule Stettiner Straße. 3000 Exemplare des hochwertig anmutenden Hefts sind an Verteilstellen in ganz Düsseldorf kostenlos mitzunehmen. „Natürlich hätten wir auch zehn Euro drauf schreiben können“, sagt Forchmann. Es sei ihnen aber wichtig, dass niemand aufgrund des Preises ausgeschlossen werde. Auf den Titel der zweiten Ausgabe hat es eine 16-jährige Judo-Kämpferin aus Garath geschafft: Katharina Löb. Löb ist 2020 in Frankfurt an der Oder deutsche Meisterin in der Gewichtsklasse bis 44 Kilogramm geworden. Wenn man sie nach ihrem Erfolgsgeheimnis fragt, antwortet sie: „Du musst an dich glauben.“

Das Leben in Garath, auf den Fotos von Merle Forchmann und Eva-Maria Burchard wirkt es angenehm alltäglich und unspektakulär. Forchmann kennt den Stadtteil aus ihrer Kindheit und Jugend. Sie ist in Benrath aufgewachsen. Garath habe sie damals keinesfalls als sozialen Brennpunkt empfunden, erinnert sie sich: „Da haben halt Freunde von mir gelebt, folgerichtig haben wir uns da auch aufgehalten. Genauso wie in Urdenbach oder Benrath.“ Burchard und Forchmann haben sich bei ihrem Projekt bewusst entschieden, das, was sonst im Zusammenhang mit Garath medial auf den Tisch kommt, außen vor zu lassen. „Es ist nicht unser Ansatz, den Finger in die Wunde zu legen“, so Burchard. „Aber wir verschweigen auch nichts.“ Problematisches thematisiere man nicht unbedingt in Texten, sondern subtiler, über die Fotos. In erster Linie möchten die Fotografinnen aber Aspekte jenseits der Stigmata zeigen. Solche, die die Leser überraschen, weil sie niemand mit Garath in Verbindung bringen würde. Eine Imkerei zum Beispiel. Oder den Garather Forst mit seinen Wildschweinen. Die Aufnahmen im Wald seien lustig gewesen, erzählt Forchmann: „Wir mussten in einem Häuschen sitzen, ganz klassisch, wie Tierfotografinnen, und sehr lange warten und still sein. Die Wildschweine durften ja nicht auf uns aufmerksam werden.“

Während bei den Tierfotografien in erster Linie Geduld gefragt war, brauchte es bei den Menschen Fingerspitzengefühl und Unvoreingenommenheit. Es sei wichtig, offen zu sein für andere Lebensformen, so Forchmanns Erfahrung. Was das angeht, sind die beiden Frauen ein gutes Team. „Wir schaffen es, die Leute zu öffnen. Auch wenn sie uns zunächst eher ablehnend oder skeptisch gegenübertreten.“ Eine Begegnung an Isis Büdchen ist den beiden dabei besonders in Erinnerung geblieben. An dem Kiosk trifft sich allabendlich eine Gruppe von Männern in den mittleren Jahren. Einer von ihnen wirkte auf die Ortsfremden zunächst bedrohlich, mit der Glatze und den großflächigen Tätowierungen, stellte sich aber bei näherem Hinsehen als herzensgut heraus. „Er pflegt seit Jahren seine kranke Mutter, sieben Tage die Woche, quasi rund um die Uhr“, erinnert sich Burchard. „Sein einziges Vergnügen ist es, abends zu Isis Büdchen zu gehen.“

Ebenfalls im Gedächtnis geblieben ist den Fotografinnen das Shooting mit der erst zehnjährigen Asinat. Die zeigte im Vergleich zu vielen anderen Garather Schülern, die Forchmann und Burchard vor der Kamera hatten, überdurchschnittlich viel Interesse an dem Projekt. Und ein wunderbares Zitat hat Asinat auch gleich noch mitgeliefert: „Garath ist so schön wie der Himmel.“ Überhaupt sei die Innenansicht eine gänzlich andere als der Blick von außen oder gar von den Medien, so Forchmann: „Die Menschen, die hier leben, sprechen fast ausschließlich positiv über Garath.“ Isi zum Beispiel, der aus der Türkei kommt und zusammen mit seiner Frau das bereits erwähnte Büdchen betreibt. Das Paar erfüllt in Garath eine wichtige Aufgabe. Die beiden sind viel mehr als nur Kioskbetreiber: Freunde. Vertraute. Sozialarbeiter. Auch ihr eigenes Tun verstehen die beiden Fotografinnen zu einem gewissen Teil als Sozialarbeit. „Wir gehen dorthin, wo andere nicht gerne hingehen“, sagt Burchard. Und Forchmann erzählt, dass sie ein Studium der Sozialarbeit aufgenommen habe. Damit tritt sie in die Fußstapfen ihrer Mutter, die früher als Sozialarbeiterin in Garath gearbeitet hat.

Die vor anderthalb Stunden georderten Pommes sind über all die Anekdoten längst aufgefuttert. Das einsame Hähnchen hat einen Käufer gefunden, der Grillspieß ist nunmehr leer. Ein drittes Garath-Magazin ist vorerst nicht geplant. Stattdessen möchte sich das Duo einem anderen Düsseldorfer Viertel widmen. Welchem, verraten sie noch nicht. Nur so viel: Es gehe dabei eher um Milieuerhalt als um Imageaufwertung. Und was Garath angeht, da ist ihr Plan aufgegangen, findet Eva-Maria Burchard: „Letztendlich hatte das Magazin genau den Effekt, den wir uns gewünscht haben. Beim Lesen hat sich die Wahrnehmung von Garath verändert.“


Lust auf weitere Geschichten?