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Herr Reimann und der Stern-Verlag

Mehr als 25 Jahre hat er als Hausmeister in der größten Buchhandlung Düsseldorfs gearbeitet – und mittendrin gewohnt. Wir haben Walter Reimann in seiner ehemaligen Küche getroffen und mit ihm über den Stern-Verlag und dessen Ende vor fünf Jahren gesprochen.

Veröffentlicht am 2. August 2021
Walter Reimann im ehemaligen Stern-Verlag: Die Regale sind immer noch da, die Bücher schon lange nicht mehr. Foto: Marcel Kusch
Walter Reimann im ehemaligen Stern-Verlag: Die Regale sind immer noch da, die Bücher schon lange nicht mehr. Foto: Marcel Kusch

Im Stern-Verlag sieht es aus wie nach einer friedlichen Zombie-Apokalypse. Es gibt keine Menschen mehr, und die Zombies haben die Bücher gefressen. Alles andere ist noch da. Die Regale stehen ringsherum, an ihren oberen Enden sind die Klebebuchstaben zu sehen, die einst auf Romane oder Reisebücher hinwiesen, manchmal auch nur noch deren Umrisse. Die grün-weißen Markisen im Stöbermarkt hängen noch, im Innenhof wachsen Büsche und Unkraut ihrer Wege. Fünf Jahre ist es inzwischen her, dass die größte Buchhandlung Düsseldorfs für immer geschlossen hat. Walter Reimann hat damals als letzter das Licht ausgemacht.

Der Hausmeister und seine Frau haben mitten im Stern-Verlag gewohnt, hinter dem Antiquariat, neben den Büros. Ganz ruhig, mit einer kleinen Terrasse im Innenhof. Wie auf dem Dorf, sagt Walter Reimann. Die Wohnung wirkt heute ähnlich wie das Geschäft, als sei sie gerade erst verlassen worden. Ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle sind zurückgeblieben, in der holzvertäfelten Küche hängen noch weiße Gardinen. Der frühere Bewohner zieht sie zur Seite, dreht den Knauf und öffnet die Fenster. Wir setzen uns und reden über den Stern-Verlag.

Walter Reimann ist durch Zufall an die Arbeit gekommen, von der er sagt, dass er sie so gerne gemacht hat. Es ist ein „so“ mit mehreren o. Der Elektromeister ist damals, 1990, auf vielen Baustellen im Einsatz, seine Frau wünscht sich, dass er weniger unterwegs und mehr zuhause ist. Die beiden besuchen eine ihrer Cousinen in Neuss, auf der Treppe liegt eine Zeitung. Frau Reimann schlägt sie auf und sieht eine Anzeige: Der Stern-Verlag sucht einen Hausmeister. „Das wär‘ doch was für Dich“, sagt sie.

Die Buchhandlung ist damals schon 90 Jahre alt, ziemlich groß und ziemlich bedeutend. Es gibt kaum gebürtige Düsseldorfer*innen, die nicht erzählen, wie sie dort ihre Schulbücher gekauft oder auf dem Weg in die Innenstadt gehalten haben, um nach neuer Lektüre zu schauen. Das Besondere am Stern-Verlag: Die Bücher waren da, Bestellen war die Ausnahme. Wenn man von einem Buch gehört hatte, konnte man sicher sein, es dort zu bekommen. Wenn man für eine Reise oder ein Hobby den passenden Ratgeber suchte, gab es ihn sicher. Und wenn man noch keine Ahnung hatte, was man als nächstes lesen wollte, fand man die passende Anregung – im Regal oder bei den Buchhändler*innen.

Die Arbeitstage des neuen Hausmeisters beginnen um kurz nach sieben. Durch das Treppenhaus, das an die Wohnung grenzt, macht er sich auf den Weg ins Erdgeschoss, schließt für die Mitarbeiter*innen auf, schaltet nach und nach das Licht an (alle Lampen auf einmal wären zu viel für die Sicherungen gewesen), schaut, ob es schon etwas zu reparieren gibt. Er leert die Kassenautomaten an den beiden Parkhallen, dann geht er in seine Werkstatt im Keller. Dort lagern alle erdenklichen Ersatzteile, stehen die Server für die Computer und Kassen, werden Heizung und Klimaanlage gesteuert.

Der Hausmeister ist in all den Jahren immer einsatzbereit. Auf dem Küchenstuhl liegt Kleidung, falls abends oder nachts die Brandmeldeanlage Alarm schlägt. Auch sonntags dreht er eine Runde durch den Verlag, manchmal findet er ein Buch auf dem Boden. Sie fallen offenbar, ohne dass jemand etwas dazu tut, aus dem Regal.

Der schon ziemlich große Stern-Verlag wächst noch weiter. Es entsteht ein Anbau, das Geschäft kriegt noch mehr Ebenen und Ecken und reicht nun durch den ganzen Häuserblock, von der Friedrich- bis zur Talstraße. Auf 7000 Quadratmetern gibt es Bücher, laut Buchreport liegt der Jahresumsatz im Jahr 2001 bei 70 Millionen Euro.

Mit jedem weiteren Jahr wird aber auch spürbarer, dass sich etwas verändert. Es sind zwar immer noch viele Kunden im Geschäft, aber nicht mehr so viele. Und es werden immer mehr, die sich im Stern-Verlag beraten lassen und das Buch anschließend im Internet bestellen. Auch die Konkurrenz vor Ort wird stärker. In der Innenstadt eröffnet die Mayersche ein großes Geschäft nahe der Kö, in den Bilker Arkaden macht Thalia eine Filiale auf. Mit jedem weiteren Jahr taucht häufiger das Gerücht auf, dass das nicht mehr lange so weitergehen kann.

Die traurige Bestätigung des Gerüchts hören Walter Reimann und die Mitarbeiter*innen bei einer Betriebsversammlung im Dezember 2015, die Düsseldorfer erfahren es wenig später durch einen Bericht von mir in der „Rheinischen Post“. Inhaber Klaus Janssen erklärte es auf meine Anfrage damals mit wenigen Sätzen: Das Buchhaus sei nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben, die Mitarbeiter*innen würden „für den Verlust der Arbeitsplätze auf der Basis eines umfangreichen Sozialplans entschädigt“.

Die folgenden Monate sind vom Ausverkauf bestimmt, am 31. März 2016 öffnet der Stern-Verlag zum letzten Mal. Vor der Tür liegt ein zwei Meter breites, rotes Banner, das mit weißen Rosen geschmückt ist. „Danke an alle – Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Freunde… und viel Glück und Segen für den neuen Lebensabschnitt“, steht darauf.

Heute, in seiner ehemaligen Küche, beschreibt Walter Reimann diese Zeit als die schwierigste seiner 26 Jahre. Der Stern-Verlag sei immer wie eine Familie gewesen. Wenn sein Telefon geklingelt und er mit einer Mitarbeiter*in gesprochen habe, sah er beim Klang der Stimme immer das dazugehörige Gesicht vor sich, selbst wenn ihm der Name nicht sofort einfiel. Nun aber hört er, wie sich die Mitarbeiter*innen sorgen, vor allem die älteren, ob sie nochmal einen Job finden oder in eine andere Branche wechseln müssen. Ein schlechtes Wort über den Stern-Verlag hört er auch in dieser Zeit nicht.

Walter Reimann ist nur sieben Monate Rentner. Nach dem Ende des Stern-Verlags arbeitet er zunächst noch fast zwei Jahre dort. In der Weihnachtszeit 2016 schmücken der Hausmeister und seine Frau zwei Wochen lang einen Teil des Antiquariats. Sie wickeln Lichterketten um die Säulen, bauen eine lange Tafel auf und feiern mit ihrer Familie ein besonderes Fest.

Die Reimanns ziehen in einen anderen Stadtteil und gehen davon aus, dass er nun im Ruhestand ist. Im nächsten Sommer aber meldet sich der neue Eigentümer, die Hotelkette MotelOne. Er kenne das Gebäude und alles, was dazu gehört, doch so gut. Ob er nicht wieder als Hausmeister anfangen wolle, bis man die Pläne für einen Neubau dort umsetze.

Seitdem ist Walter Reimann mindestens dreimal pro Woche im Stern-Verlag. Er schaut, dass im stillgelegten Haus alles in Ordnung ist, kümmert sich um die Belange des neuen Eigentümers. Aktuell hilft er jungen Designer*innen, die in den Fenstern des Stern-Verlags die Ausstellung „Friedrich 2468“ gestaltet haben. Sie durften ihre Arbeiten mit den Materialien schaffen, die sie im Laden fanden. So beschäftigen sie sich mit den Themen Lesen, Lernen, Konsum und Brüche. Wenn sie dabei den Hausmeister treffen, grüßen sie ihn – nicht aus Pflicht oder bloßer Höflichkeit, sondern mit dieser kleinen Freude, mit der man jemanden grüßt, den man nicht besonders gut kennt, aber richtig gut leiden kann.

Im Januar wird Walter Reimann 79. Voraussichtlich im Frühjahr danach beginnt MotelOne mit dem Abriss des Gebäudes, dann wird voraussichtlich auch für den Hausmeister endgültig Schluss sein.

Er war der letzte, der das Licht ausgemacht hat. Er bleibt noch, bis der Bagger kommt.

Weiterführende Links

Bericht über die Schließung des Stern-Verlags

Reportage über den letzten Tag des Stern-Verlags

Informationen zur Ausstellung „Friedrich2468“

Der Umsatzbericht von Buchreport für das Jahr 2001


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