Düsseldorfer Dorfdiscos außerhalb von Düsseldorf

Partytourismus in den 1990ern: Meist waren die benachbarten Großstädte das Ziel – manchmal aber auch das Remix in Ratingen oder das E-Dry in Geldern. Erinnerungen an eine Polaroid-Jugend.
Veröffentlicht am 1. Juli 2022
Remix in Ratingen
Schlange vor dem Remix am letzten Öffnungstag im Januar 2001. Foto: Stadtarchiv Ratingen/Bildarchiv WZ

Es ist Wochenende. Wir: vollbesetzter Wagen, von den Eltern geliehen. Fahrtzeit: 30 bis 60 Minuten. Route: raus aus der Stadt, über die Autobahn, über die Landstraße. Lange Alleen, Felder, einsame Häuser, einsame Ampeln, Ortseingang- und Ortsausgangschilder. Es gibt noch keine Navis, dafür den Stadtatlas Rhein-Ruhr, aber den hat keiner dabei. Wo abbiegen? Welche Kreuzung? Ach ja, da vorne, da geht´s lang. Nein, doch nicht. Wenden, nächster Versuch. Mist, wir hätten das vorher aufschreiben sollen. Immerhin: Spätestens beim dritten Mal kennen wir den Weg.
Ritual: Vorher an einer Tankstelle halten. Vorfreude: Was heute wohl passiert? Oder nicht passiert? Vorglühen: Erst mal eine Zigarette, ein Bier, ein Red Bull, ein Joint. Der Fahrer: bleibt nüchtern, sicher ist sicher. Wobei, komm, was soll´s: Eine Dose ist erlaubt, die Nacht ist jung.
Erst mal die Lage checken: Da vorne stehen noch andere, die wollen sicher auch dahin, wo wir hinwollen. Blick aufs Autokennzeichen. Ach, schau an, ganz schön lange Anfahrt. Warum sind die hier? Die haben doch gute Läden in ihrer eigenen Stadt. Wobei: Haben wir ja auch.
Am Ziel angekommen: Parkplatz suchen, am Straßenrand oder am Feldweg oder auf einem staubigen Areal mit Schlaglöchern und potenziellen Pfützen. Es regnet? Aufpassen, sich nicht das Outfit versauen. Manchmal: keine Parkplatzsuche nötig, alles asphaltiert, sogar Parkwächter mit gelben Neon-Westen und Taschenlampen vor Ort, um uns einzuweisen. Im Hintergrund: schon die Musik zu hören.
Als nächstes: anstellen, denn natürlich ist da eine Schlange vor dem Eingang. Türsteher: Gucken meistens böse – oder cool. Egal, rein kommt so gut wie jeder. In einer Jungsgruppe unterwegs? Dann doch lieber aufteilen. Und: Die Verzehrkarte auf keinen Fall verlieren, sonst wird die Nacht teuer.

So oder so ähnlich war das damals im Neunziger-Jahre-Nachtleben: wenn wir außerhalb unserer Heimatstadt unterwegs waren und Discotheken ansteuerten, die nicht in den Innenstädten von Köln, Essen oder Bochum lagen, sondern auf dem Land oder zumindest am Rande der Stadt. Ob diese Trips sinnvoll waren oder nicht – darüber gingen die Meinungen bei der Wochenendplanung auseinander. Beliebte Frage: „Warum sollen wir als Düsseldorfer in Dorfdiscos ausgehen?!“ Die Antworten darauf lauteten zum Beispiel: „Ach, in den Düsseldorfer In-Läden hast du doch noch nie was gerissen.“ Oder: „Scheiß auf das Szene-Gehabe, in den Dorfdiscos sind die Mädels wenigstens nicht so arrogant.“

Dorfdisco. Für uns war der Begriff damals weder klar definiert noch notwendigerweise negativ belegt, und für manch einen schienen die nächtlichen Ausflüge gar mit einem skurrilen Hauch von „Exotik“ verbunden zu sein: Schließlich waren die Ausgehpfade zwischen Flingern, Hauptbahnhof und Altstadt bereits abgesteckt und boten weniger Raum für Überraschungen als die ländlichen Expeditionen zwischen Ruhr und Niederrhein. In unserer Welt passten die oben beschriebenen Rituale am besten auf zwei Läden. Da ist zum einen das Remix am Krummenweg in Ratingen, in unmittelbarer Nähe zum Kreuz Breitscheid, wo die A3 auf die A52 trifft. Sich dort zu verfahren war mehr oder weniger ausgeschlossen: Ausfahrt Breitscheid, dann rechts halten, Richtung BP-Tankstelle, und dort „wild“ und je nach Wetter „staubig“ oder „matschig“ (siehe oben) parken.

Remix in Ratingen
Im Remix in Breitscheid (hier 2001) feierten nicht nur Ratinger, sondern auch Düsseldorfer, Essener und Mülheimer. Foto: Stadtarchiv Ratingen/Bildarchiv WZ

„Tanzpalast Remix“ – so stand es offiziell auf dem von Tuborg- und Frankenheim-Logo flankierten Neon-Buchstaben-Schild über dem Eingang.  Mehrere langgestreckte, miteinander verbundene Gebäude vom Typ „Landhaus an der Landstraße“. Was wir nicht wussten: Die als Diskothek genutzten Räume waren zuvor Teil des Hotel Krummenweg gewesen, ein im Umland bekanntes altehrwürdiges Haus mit angeschlossenem Ausflugsrestaurant, eingerichtet im Chic der Adenauer-Zeit: Kuppelsaal, bodentiefe Fenster, plüschige Sessel. Noch dazu gab es bis in die Siebziger Jahre ein benachbartes Freibad. Das Remix-Stammpublikum aus Ratingen-City, Hösel oder Lintorf kannte diese Vorgeschichte vermutlich, wusste gar von prominenten Hotel-Gästen aus der Filmbranche wie Maria Schell oder Gustav Knuth, hatte vor Ort womöglich Familien-Geburtstage oder Konfirmationen gefeiert. Und sicher stammten die Uralt-Tapeten und Holzvertäfelungen im Remix, die – absichtlich oder nicht – eine Art Corporate Identity der Disco bildeten, aus eben dieser Zeit. Eine große Tanzfläche mit Discokugeln, mehrere Bars, Sitzecken. Auf einem Schild stand: “Bitte Thekeneingänge für die Abräumer freihalten.“ Alles sehr schlicht und abgerockt, mit hoher Luftfeuchtigkeit und oft klebrig-schmatzendem Boden. Kein Wunder, dass man das zigaretten- und disconebelgeschwängerte Remix-Aroma erst nach dem zweiten oder dritten Waschgang wieder raus bekam aus den Klamotten – da half auch das zwischenzeitliche Luftschnappen im Remix-Biergarten nicht.

Der Sound im Remix – manche sprachen es auch falsch aus und sagten „Rämmix“ – hatte wenig bis gar nichts mit dem Disco-Namen zu tun. Wobei: eigentlich doch, aber nicht im Sinne der seit Ende der 1980er in den Clubs aufgekommenen Neu-Abmischungen einzelner Songs. Wie es sich für eine „Dorfdisco“ gehörte, wurden gleich alle gängigen Genres „gemischt“ – stundenlang, in Blöcken, die ganze Nacht: Rock, Reggae, Techno, Partyclassics, Eurodance. Als hätten sich die Düsseldorfer DJs der Bhaggy Disco und des Zakk-Donnerstags zu einer gemeinsamen Party verabredet – aber nicht, um Geheimtipps aufzulegen. Und so folgte auf „Paradise City“ von Guns´n´Roses „Sunday Bloody Sunday“ von U2 und auf „Friday I´m in Love“ von The Cure “Zombie” von den Cranberries, und danach lief gerne mal „Sing Halleluja“ von Dr. Alban oder „Mr. Vain“ von Culture Beat, wiederum konterkariert durch „Won´t forget these Days“ von Fury in the Slaughterhouse, „Losing my Religion“ von R.E.M oder „Mr. Jones“ von Counting Crows. Ab zwei oder drei Uhr morgens wurde die Musik langsam elektronischer, bis um fünf zu Frank Sinatras „New York, New York“ das Licht anging. Aber zu der Zeit waren wir meist schon wieder in der Düsseldorfer Altstadt und aßen eine Pizza auf die Hand.  

Rückblickend gab es in den 1990ern am Übergang vom Rheinland ins Ruhrgebiet, flankiert von den Ausläufern des Bergischen Lands wohl keine andere Disco mit einer Stammgastmischung wie im Remix: Die Leute, die dort tanzten – meist im Alter zwischen 18 und 25 – kamen eben nicht nur aus Ratingen und dem Kreis Mettmann, sondern auch aus Düsseldorf, Mühlheim an der Ruhr und den südlichen Essener Stadteilen, mittendrin ein paar Duisburger oder Neusser. Ein Mikrokosmos, der zu Verbindungen führte, die sonst nicht entstanden wären. So verliebte sich einer von uns in ein Mädchen aus Essen-Kettwig, das wir „KiBa-Girl“ nannten, weil sie meistens Kirschbananensaft bestellte und selten Alkohol, schließlich wartete am Kreisel in Breitscheid gern mal die Polizei und lud vor dem Rückweg zur Kontrolle. Warum gegen Mitte der Neunziger Jahre unsere Remix-Zeit zu Ende ging? Weiß heute keiner mehr so genau. Manche behaupten, es sei zu „assig“ geworden, andere vermuten, dass wir einfach aus dem Remix-Alter herausgewachsen waren. Die Karawane zog weiter, die Disco blieb auf – bis das Remix 2001 endgültig dichtmachte. 

Ein weiteres Ziel unserer „Landpartien“ lag noch deutlich weiter von Düsseldorf entfernt als das Remix. Das E-Dry – oder, wie die Einheimischen sagten: die E-Dry – in Geldern am Niederrhein, nahe der niederländischen Grenze, hatte einen Ruf, der bis in die Landeshauptstadt reichte, und um dorthin zu gelangen, brauchten wir mindestens 50 Minuten. Das E-Dry fasste bis zu 3000 Gäste, war also nicht nur eine Dorfdisco, sondern auch eine Großraumdisco – und existierte schon seit 1979. Doch das wussten wir als Hin-und-wieder-Gäste nicht, und es interessierte uns auch nicht. Was uns interessierte – also nicht nur, aber auch – waren die Holländerinnen, die dort verkehrten und angeblich per Discobus aus Venlo anreisten. Wir fuhren meistens sonntags ins E-Dry, alle paar Monate. Das war, so hatten uns Freunde aus Krefeld verraten, der beste Tag, und an diesen Gelderner Sonntagen ging die Nacht bereits am frühen Abend los (ab 17 Uhr geöffnet). Wahrscheinlich passte das E-Dry auf dem platten Land noch weit besser auf das „Anforderungsprofil“ einer Dorfdisco als das Remix: diverse Bar- und Gastrobereiche, Lasershow, Nebel, ein Biergarten, mehrere Dancefloors mit unterschiedlichen Musikfarben – animierende DJ-Ansagen nicht ausgeschlossen. Freitags und samstags liefen in der „Schwarzen“ HipHop und Soul und in der „Weißen“ Schlager, und in der 1995 eröffneten Haupthalle liefen Trance und Techno, wobei an den Sonntagen nicht alle Bereiche öffneten und die elektronische Musik in der „Schwarzen“ gespielt wurde. Aber liefen in der „Schwarzen“ nicht manchmal auch Wave und Gothic, mit dem dazugehörigen Drei-Schritte-vor-drei-Schritte-zurück-Tanzritual? Die Erinnerungen sind verschwommen.

E-Dry Luftbild Luftbildfoto Discothek
Luftaufnahme von 2016: Das E-Dry in Geldern nahe der niederländischen Grenze. Foto: Archiv Stadt Geldern /Seybert

Im Laufe der Jahre machten viele bekannte Acts im E-Dry Station – von Modern Talking über die Weather Girls bin hin zur von Daisy Dee präsentierten VIVA Club Rotation mit Scooter und Co. Einer von uns, der vorgab, sich für Clubkultur zu interessieren und lieber in den Ratinger Hof oder in den Kölner Space Club ging, musste schlucken, als er zum ersten Mal das E-Dry betrat. Nicht nur, dass wir ihn in eine „Schlager-Disse“ gelockt hätten, nein, noch schlimmer: Da war eine Pommes-Bude mitten im Laden – „Alter, eine Disco mit Pommes-Bude!“ Die Chance, eine Holländerin kennenzulernen, versöhnte ihn, wobei er sich schließlich als so versiert erwies, bei Annäherungsversuchen an seinen Vornamen ein „o“ anzuhängen und sich als Spanier, Italiener oder Portugiese zu verkaufen, was in seinem Fall – nennen wir ihn Marco, Roberto oder Paulo – durch die Herkunft der Mutter optisch durchaus hinkam und die Flirt-Chancen erhöhte. Tatsächlich schienen die feierfreudigen Holländerinnen im E-Dry in den 1990ern nämlich eines ganz sicher nicht zu suchen: einen deutschen Mann. Andersherum schien es eher zu funktionieren: Die holländischen Typen hatten offensichtlich nichts gegen deutsche Mädels einzuwenden.

Auch wenn die Großraumdiscodichte seit den Neunzigern extrem abgenommen hat: Das E-Dry hält immer noch die Stellung, allerdings nur samstags. Auch die deutsch-niederländische Freundschaft scheint immer noch dann und wann zelebriert zu werden: Es gibt Veranstaltungen wie die Dutch Music Night, bei denen ein Discobus das E-Dry mit Venlo verbindet.
Und wir? Haben uns letztens in Düsseldorf alte Polaroids angeschaut – diese Partyfotos, die man im Nachtleben von den mit Sofortbildkameras bewaffneten Promo-Teams in die Hand gedrückt bekam und die eingerahmt in grüne Heineken- oder rote Marlboro-Werbung Momente des Ausgehabends für die Ewigkeit festhielten:
„Das war im Remix“, sagt einer und zeigt dabei auf ein Foto mit unklarem Hintergrund.
„Nein, da fehlt die Tapete, das muss im E-Dry gewesen sein“, entgegnet ein anderer.
„Quatsch, das war im Atlantico oder im Poco Loco, bei uns in der Altstadt“, sagt ein dritter.
„Boah ej, sehen wir da noch jung aus“, sagt ein weiterer. „Und so gut gelaunt.“
Und dann lachen alle. Ein holpriges, irgendwie unentschlossenes und trotzdem ehrliches Lachen. Wie ein Motor, der nicht sofort anspringt, dann aber schnurrend ins Laufen kommt. Und schließlich, im Angesicht der Polaroid-Jugend, wird einer melancholisch: „Schön, dass wir so was erleben durften!“ Er sagt das mit leicht ironischem Unterton, um sich gegen Kitsch-Vorwürfe abzusichern – aber er meint es ernst.

Weiterführende Informationen und Links

Das Remix am Krummenweg nahe des Autobahnkreuz Ratingen-Breitscheid (Mülheimer Str. 120) residierte von 1986 bis 2001 in ehemaligen Gebäudeteilen des Hotel Krummenweg (auf der Facebookseite des Heimatvereins Ratingen finden sich historische Postkarten). In den Nuller Jahren wurde das Gebäudeensemble abgerissen. Seit 2012 wird das Areal wieder gastronomisch genutzt – vom gegenüberliegenden Landhotel Krummenweg, das an gleicher Stelle ein Tagungs- und Kongresszentrum errichtete. Passenderweise wurden dort auch schon „Remix-Revival-Partys“ veranstaltet.

Das E-Dry in Geldern (Venloer Str. 10) besteht seit 1979 in einem früheren Bauernhof am Rande des Nierskanals, anfangs noch unter dem Namen „Disco Tip Nr. 1“. Im Laufe der Jahre wurde die Großraumdisco an der Bundesstraße Richtung Straelen und Venlo immer wieder erweitert und avancierte zu einer der größten ihrer Art in Deutschland. Früher war das E-Dry auch sonntags (bis 2003) und freitags (bis 2014) geöffnet, heute wird nur noch samstags getanzt.


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