Der Sommer ihres Lebens

Beim ersten Telefonat stellt sich der 42-Jährige als „Chefhausmeister“ vor. Erst peu à peu kommt heraus, was er und seine Mitstreiter – „das Kollektiv ist mir sehr wichtig“ – im vergangenen Dreivierteljahr auf die Beine gestellt haben. In den Räumen des ehemaligen Fiat Motorvillage ist ein Universum entstanden, in dem – frei nach Jonathan Meese – nur einer Chef ist: die Kunst. Zum Vor-Ort-Termin erscheint Marco Fuligni im studentischen Look: Jeans, Turnschuhe, Haare zum Zopf gebunden. Erst mal einen Kaffee? Er selbst könne einen gebrauchen. Am Vorabend ist es mal wieder spät geworden. Seit es das ES365 gibt, ist das häufiger der Fall.
Wir sitzen im sogenannten „Café Europa“, einem Teil der ehemaligen Auto-Ausstellungsräume, der mit Teppichen und Kissen ausgelegt ist. Dazwischen: ein Tisch und mehrere Sessel. Auf dem Boden weist ein selbstgemaltes Transparent auf den Kinoabend hin, der an jedem Montag hier stattfindet. Fuligni nimmt am Tisch Platz. Vor ihm liegen ein USB-Stick und mehrere Reclam-Heftchen. Büchners „Leonce und Lena“. Schillers „Maria Stuart“. Und „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth. Aus einem anderen Teil der Halle schallt laute elektronische Musik herüber, die Teil einer installativen Arbeit ist.
Fuligni spricht mit leiser Stimme. Der Dialekt verweist auf seine süddeutsche Heimat, obwohl er Heilbronn schon vor 20 Jahren verlassen hat, um Ökonomie in Wuppertal zu studieren, später Zukunftsforschung in Manchester. „Beides abgeschlossen“, erklärt er auf Nachfrage. Wie ist er von Ökonomie und Zukunftsforschung zum Autohaus gekommen? „Muss ich in Ruhe erzählen.“ Vier Stunden später spricht er immer noch. Aber es ist ja auch viel passiert, seit das ES365 Ende März, mitten in der Pandemie, eröffnete.
Die Idee für die Zwischennutzung wurde aus der Not heraus geboren, aus der Raumnot. Als Fuligni vor einigen Jahren für sein IT-Startup ein kleines Büro suchte, empfand er die Suche als frustrierend: „Die Räume, die zur Verfügung standen, waren für ein Startup viel zu teuer. Oder nur langfristig zu vermieten. Gleichzeitig standen riesige Flächen leer.“ Fuligni war klar, dass das Problem nur zu lösen war, indem man sich zusammentat und Räume teilte. Wie die der ehemaligen Werkstatt an der Börnestraße, die er 2018 zu Ateliers umfunktionierte. Ein Gruppenatelier, mehrere Einzelateliers, dazu ein Ausstellungsraum und eine Gemeinschaftsküche stehen seitdem dort zur Verfügung.
Der Plan ging auf. Später kamen weitere Räume auf der Münsterstraße dazu, darunter der einer ehemaligen Sparkassen-Filiale. Ein Name für das Projekt war da längst gefunden: RfK, Raum für Kreativität. Einfach und selbsterklärend. Das Glück in der ehemaligen Sparkasse war zu Fulignis Bedauern nur von kurzer Dauer. Anfang 2021 musste die kreative Gemeinschaft dem Lieferservice Gorillas weichen. Auf der Suche nach räumlichen Alternativen stießen sie auf das Autohaus, der Tipp kam von der Wirtschaftsförderung der Stadt. Riad Nassar, einer der Künstler, die von der Münsterstraße mit an die Erkrather Straße gezogen sind, erinnert sich an jenen Tag, als Fuligni ihm erstmals das leere Autohaus zeigte. Nassars Reaktion: „Alter, du bist wahnsinnig, lass die Finger davon.“ Der Wahnsinnige gab sich beratungsresistent. Ende März bekam er einen riesigen Schlüsselbund mit unzähligen Schlüsseln. Nach knapp drei Wochen Vorbereitung hatte das Abenteuer ES365 begonnen.
Heute sind 60 bis 70 der ehemaligen Büros zu Künstlerateliers umfunktioniert, in denen 120 Künstler arbeiten. „Die meisten davon sind Absolventen der hiesigen Akademie.“ Wenn die Studienzeit vorbei sei und man die Klassenräume an der Eiskellerstraße nicht mehr zum Arbeiten nutzen könne, würde die Raumfrage für viele drängend. „Als wir hier angefangen haben, habe ich von morgens bis abends Leute durchgeführt, die Interesse an einem Raum hatten. Es musste ja alles ganz schnell gehen.“ Bei Zwischennutzungen muss immer alles ganz schnell gehen. Die Zeit ist schließlich von vorneherein begrenzt.
An der Erkrather Straße 365 waren sämtliche Ateliers innerhalb von vier Wochen vermietet. Heute stehen 20 Interessenten auf der Warteliste. Das mag zum einen mit dem rauen Charme des Ortes zu tun haben. Aber bestimmt auch mit den günstigen Mieten: Die kleinsten Ateliers messen etwa 15 Quadratmeter und schlagen monatlich mit gerade einmal 150 Euro zu Buche, Strom und Heizung inklusive. Dazu kommt die Möglichkeit, die großen Hallen für Ausstellungen und Aktionen zu nutzen. Kostenlos. Die Künstler wissen das zu schätzen. Ein Absolvent der Essener Folkwang-Schule, der im ES365 untergekommen ist, verlor sich in Superlativen: „Robert meinte, der vergangene Sommer war der beste seines Lebens“, erzählt Fuligni. „Weil er hier unter seinesgleichen arbeiten kann. Weil er hier seine Freiheit findet.“
Als der „Chefhausmeister“ die Räume zeigt, wird schnell klar, dass das keinesfalls übertrieben ist. Der Komplex bietet schier unbegrenzte Möglichkeiten. Da sind zum einen die – zur Erkrather Straße hin gelegenen – ehemaligen Ausstellungsräume des Autohauses. Auf der Rückseite Lager und Werkstätten, im ersten Obergeschoss Kantine, Waschräume und Büros. Hinter dem Gebäude liegen zusätzlich riesige, zum Teil überdachte Außenflächen. „Und ein unterirdisches Parkhaus gibt es auch noch“, ergänzt Fuligni. 17.000 Quadratmeter stehen insgesamt zur Verfügung.
Derart große Flächen wecken natürlich auch bei anderen Begehrlichkeiten. Mit der Frage „Können wir hier eine Party machen?“ sieht sich Fuligni regelmäßig konfrontiert. An Feierei im großen Stil hat er allerdings kein Interesse. „Wir wollen keine Riesen-Veranstaltungen machen, sondern solche, die wir überblicken können.“ Für Kunst hingegen können auch Externe die Flächen nutzen. „Wenn sie Geld für Miete zur Verfügung haben, weil sie zum Beispiel gefördert werden, nehmen wir das natürlich gerne. Aber wenn das nicht der Fall ist, geht es auch ohne“, so Fuligni. Er behält sich allerdings vor, Konzepte, die ihm unpassend für die Räume erscheinen, abzulehnen. „Im Mittelpunkt steht bei uns – und das ist mir sehr, sehr wichtig – das Machen von Kunst. Nicht in erster Linie das Ausstellen. Oder der Lifestyle um die Kunst herum. Sondern das Machen.“
Bis Ende 2022 darf an der Erkrather Straße noch gemacht werden. Wenn alles gut läuft jedenfalls. Im schlechtesten Fall könnte es passieren, dass die Interimsnutzer die Gebäude innerhalb von vier Wochen räumen müssen. Für die kommenden zwölf Monate gibt es trotz dieser Ungewissheit unzählige Pläne. 2022 soll das Kurzfilm-Kunstfestival „365s“, das 2021 aus der Taufe gehoben wurde, eine Neuauflage erfahren. „Und dann planen wir noch „Art + Tech“, eine Art Convent, der weit über die Kunst hinaus geht. In dem Rahmen wird es um Zukunftsfragen gehen, um virtuelle Realität, Augmented Reality – und dabei insbesondere um digitale Rechte. Das ist ein großes, strategisches Thema“, sagt Fuligni.
Während er und seine Mitstreiter all das planen, kreisen seine Gedanken parallel schon um die Zukunft des ES365. Die Frage, wo das, was an der Erkrather Straße begann, irgendwann fortgeführt werden soll, treibt ihn nämlich schon jetzt um. Denn dass es weitergehen soll, ist klar. Es soll schließlich nicht der letzte Sommer ihres Lebens bleiben. Jetzt gilt es aber erst mal, den Winter zu überstehen. Und der könnte für die Mieter der Gruppenarbeitsräume im Erdgeschoss ziemlich hart werden: Im Gegensatz zu den Ateliers in dem ehemaligen Bürotrakt sind die nämlich nicht zu beheizen.