
Jacques Tilly: Der Putin-Versteher
Vorab ein Hinweis in eigener Sache: Ich kenne Jacques Tilly seit den frühen 1980er Jahren. Damals fing er an, die Wagen für Rosenmontag zu bauen. Im Laufe der Zeit haben wir viele Gespräche geführt und waren häufig (aber nicht immer) einer Meinung. Jedes Mal haben mich sein Allgemeinwissen, besonders aber seine historischen Kenntnisse beeindruckt. Mit ihm zu sprechen, macht stets großen Spaß – und immer lerne ich dazu. Seit langem sind wir daher per Du. Als ich ihm erkläre, dass ich mit ihm über sein frühes Verstehen der Person Putin sprechen will, fasst er seine Meinung vorab so zusammen: „Ich fand Putin schon immer Scheiße.“ Aber er sei ihm auch immer ein Stück unheimlich gewesen, obwohl er ihn nicht für einen Psychopathen hielt oder hält.
Jacques, wie oft hast Du Wagen mit dem Kopf oder der Figur Putins gebaut?
Tilly (denkt nach). Ich bin nicht sicher. Es können neun sein, oder vielleicht zehn.
Du erinnerst Dich nicht?
Tilly Nein, nicht wirklich. Es waren mehrere.
Was war der letzte?
Tilly Der vom vorigen Jahr. Kurz vor Karneval – übrigens am Weiberfastnachtstag – ist Putin ja in die Ukraine einmarschiert, und das CC beschloss, den Rosenmontagszug abzusagen. Wir müssen trotzdem was machen, habe ich gesagt. Aber die winkten ab. Also habe ich gesagt: „Dann mache ich was.“
Nämlich?
Tilly Diesen Wagen, der zeigte, wie Putin versucht, die riesige Ukraine zu verschlucken. Darauf steht „Erstick dran!“
Das kam ziemlich kurzfristig, oder?
Tilly Ja, wir haben den Wagen in 24 Stunden am Karnevalswochenende gebaut.
Er war ja dann auch trotzdem unterwegs.
Tilly Stimmt, wir sind damit am Rosenmontag quer durch die Stadt gefahren. War sehr schön.
Wo ist der Wagen heute?
Tilly In Frankfurt. Dort fährt er jetzt im Rosenmontagszug mit.
Was war dein erster Putin-Wagen?
Tilly Den haben wir nach dem Mord an der russischen Journalistin Anna Politowskaja gebaut. Dafür habe ich aus Putins Kopf eine Pistole geformt und darauf stand „Putins Pressefreiheit“. Schon damals war klar, dass er mit freien Medien nichts im Sinn hat und sie abschaffen will. Das hat er ja inzwischen auch geschafft. Sie wurde übrigens 2006 an Putins 54. Geburtstag erschossen.
Ich habe eine Darstellung Putins gefunden, bei der Du Dich geirrt hast.
Tilly Du meinst die Figur, wo er beide Arme anwinkelt und der eine Bizeps, auf dem Militär steht, ganz dick ist, und der andere ganz dünn. Darauf steht Wirtschaft. Ja, das habe ich damals falsch gesehen – heute würde ich ihm zwei dünne Ärmchen ankleben.
Das Gespräch wird zum intensiven Exkurs durch Russlands Historie. Wie erwartet, ist Tilly tief im Thema. Nicht zuletzt durch die Ereignisse der letzten Monate hat er sich noch weiter eingelesen. Er schlägt den großen Bogen über die Kiewer Rus, Iwan den Schrecklichen, Katharina die Große („Von wegen Aufklärerin – nach ihr ging es den russischen Leibeigenen schlimmer als vorher“). Schließlich kommt er zu den Zaren und den neuen Diktaturen unter den Bolschewiki mit Lenin an der Spitze, die 1917 eine kurze Phase möglicher demokratischer Chancen unter Alexander Kerensky vernichteten. Und darauf folgte Stalin.
Nie hätten die Russen Demokratie erlebt, Aufklärung. Modernisierung im Denken wie in westlichen Staaten fand nicht statt. Putin reihe sich in diese Liste der Autokraten, und er herrsche heute in Form einer Kleptokratie – im Grunde ein Mafia-Staat gelenkt von einem Mann im Kreml. Am ehesten ähnele er Stalin, meint Tilly und kann das auch belegen. Man merkt, wie ihn das Thema beschäftigt. Dass er natürlich über den nächsten Putin-Wagen für den kommenden Rosenmontag nachdenkt, ist sicher. Aber darüber darf er nicht sprechen – und tut es auch nicht.
Ist Putin dieses Jahr im Zug wieder dabei?
Tilly Wer weiß? Er ist eine präsente Figur zurzeit, also liegt das nahe. Aber auch Selenskyj ist sehr wichtig.
Fest steht: Es wird ganz sicher einen Wagen geben, der beide, einzeln oder gemeinsam zeigt – aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ist er noch nicht gebaut. Wie immer in solchen bewegten Zeiten warten Tilly und seine Crew bis zur letzten Minute, bevor sie loslegen, um so aktuell wie möglich zu sein.
Du hattest schon mal Putin mit einem Partner an Bord, oder?
Tilly Ja, das war Putin als Judo-Kämpfer, und sein Gegner war Alexei Nawalny. Der Wagen zeigt, wie Nawalny ihm dahin tritt, wo es Männer besonders schmerzt.
Wie ist das eigentlich, einem Massenmörder wie Putin mit Humor zu begegnen?
Tilly Das geht gut. Humor ist eine Überlebensstrategie des Menschen. Vor allem schwarzer Humor kann Konflikte durch Heiterkeit lösen.
Hast Du dafür Beispiele?
Tilly Ja, zwei. Unter den Nazis gab es den Witz „Lieber Gott, mach mich blind, dass ich Goebbels arisch find.“ Damit war alles gesagt. Und in der DDR wurde aus dem Spruch „Die Partei als Vorhut der Arbeiterklasse“ durch das Hinzufügen eines einzigen Buchstaben, nämlich des „a“, die Frechheit: „Die Partei als Vorhaut der Arbeiterklasse“. Ein solcher kleiner Satz macht ganze Propagandafeldzüge kaputt. Denn immer, wenn von der Vorhut gesprochen wurde, grinste jeder.








