Der junge Mann und der Strom

Wie man in den 1950er-Jahren den Rhein überquert: Als Teenager unternahm der Onkel unseres Autors eine Mutprobe mit starkem „Tiefgang“. Nun hat Sebastian Brück die Geschichte aufgeschrieben.
Veröffentlicht am 24. Dezember 2021
1957 Stadtarchiv Fotograf unbekannt
Blick auf das Mannesmannufer im Jahr 1957. Am linken Bildrand ist das Haus Nr. 4 zu sehen, wo die Familie unseres Autors wohnte. Foto: Stadtarchiv

Es ist Sommer, und es ist 1957 oder 1958, und mein Onkel Klaus ist 16 oder 17. So ganz genau weiß man das nicht mehr. Er steht an der Oberkasseler Rheinseite auf einer Sandbank am Ufer – dort, wo heute die Kniebrücke den Fluss überquert. Gleich wird er etwas Gefährliches wagen. Etwas, das heute 99 Prozent aller Eltern verbieten würden und das umgehend die Wasserschutzpolizei auf den Plan riefe. Damals ist das anders, damals, nicht viel mehr als zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, haben die Menschen einen anderen Sinn für Gefährlichkeit. Sie kennen Bombennächte, sie kennen Armut, und sie kennen Trümmer. Fahrradhelme tragen nur Radrennfahrer, wenn überhaupt. Die Kinder baden im Rhein, und in der Innenstadt machen sie sich ein Vergnügen daraus, an den bereits fahrenden und damals noch hinten offenen Straßenbahnen auf- und wieder abzuspringen, und meistens lassen die Kontrolleure sie gewähren.

Als Klaus an diesem Nachmittag über den Rhein hinweg aufs andere Ufer blickt, sieht er die Silhouette des Düsseldorfer Hafens, wo vom Wirtschaftswunder getrieben längst wieder die Frachtschiffe ein- und ausfahren. Er sieht auf Schienen fahrende Kräne, die am Ufer Waren und Rohstoffe ein- und ausladen. Er sieht den Rohbau des Mannesmann-Hochhauses. Und als er nach links schweift, sieht er die Gründerzeitfassaden des Mannesmannufers. Er richtet also den Blick auf das Haus Nr. 4 – und winkt. Dort, im zweiten Stock, steht seine Mutter, meine Großmutter, am Wohnzimmerfenster. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 47 oder 48 Jahre alt, und neben ihr steht sein Bruder Franz – mein Vater.

Klaus hat die anderen vorbereitet: „Haltet die Sandbank im Auge, in einer Stunde!“ Und so schauen Mutter und Bruder zum vereinbarten Zeitpunkt Richtung Oberkassel, und nach einigem hin und her – „Ist er das? … „Nein, das ist er nicht! … „Doch doch, da vorne, das ist er!“ –  steht die familiäre Sichtverbindung über den Strom hinweg, und es wird zurück gewunken. Dann gibt Klaus ein Zeichen. Gleich geht sie los: Die Mutprobe, die zugleich eine Spaßaktion sein soll.

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Circa 1958: Klaus Brück, der Onkel unseres Autors, als Teenager auf dem Rhein, ausnahmsweise ohne Segelboot. Foto: privat

Ob sich die Mutter Sorgen um Klaus macht? Vielleicht ja, vielleicht nur ein bisschen, vielleicht aber auch gar nicht. Gut möglich, dass ihr die Erfahrungen mit dem zwei Jahre älteren Franz eine Art Immunität antrainiert haben: Der ist nämlich in den Sommern zuvor durch halb Europa getrampt – beim ersten Mal bis Sizilien, beim zweiten Mal bis zum Nordkap. Die Mutter – der heimliche Chef der Familie – hat einsehen müssen, dass pubertierende Söhne schwer aufzuhalten sind, und die Reisen erlaubt. Kurios: In der nordfinnischen Stadt Rovaniemi, in Lappland, nahe dem Polarkreis ist Franz zufällig seinem Schulkameraden Harald aus Düsseldorf über den Weg gelaufen, der wiederum auf dem Weg vom Nordkap zurück Richtung Süden gewesen ist – frühmorgens beim Brötchenkaufen in einer Bäckerei. Sie haben sich fünf Minuten unterhalten, Tramper-Tipps ausgetauscht, und dann ist jeder seines Weges gegangen. So außergewöhnlich scheinen derlei jugendliche Abenteuer also in der zweiten Hälfte der 1950er gar nicht gewesen zu sein.

Zu Beginn des Jahrzehnts, sieben oder acht Jahre vor dem Mutprobentag, ist die Familie zurück nach Düsseldorf gezogen, nachdem es sie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs ins Emsland verschlagen hat. Durch einen Ringtausch zwischen Düsseldorf, Osnabrück und einem kleinen Ort in der Nähe von Meppen hat sie die Mietwohnung am Mannesmannufer Nr. 4 erhalten, mit Blick auf den Rhein und nach Oberkassel und so viel Platz, dass zwei Zimmer an eine junge Frau untervermietet werden können, was bereits einen guten Teil der eigenen Miete einspielt. Anfangs kommt noch alle drei Tage der Eismann vorbei, liefert gegen Gebühr einige dicke Eisblöcke für den Eisschrank, erst später reicht das Geld für einen elektrisch betriebenen Kühlschrank. Die Söhne Franz und Klaus besuchen zunächst die Maxschule in der Altstadt und wechseln dann aufs Max-Planck-Gymnasium, das in den Räumen des Görres-Gymnasiums an der Königsallee untergebracht ist. Die beiden Schulen teilen sich das Gebäude in Wechselschichten – bis das im Krieg zerstörte „Max Planck“ 1956 in den Neubau im Düsseldorfer Norden umzieht. Da der Rhein bereits in den fünfziger Jahren der am meisten befahrene europäische Strom ist, zieht Klaus stets die Gardinen zu, um sich bei den Hausaufgaben konzentrieren zu können. Selbstdisziplin eines Schiffsbegeisterten.

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Blick auf die Rheinfront im Jahr 1965, das Mannesmannufer Nr. 4 ist mit Pfeil markiert. Foto: Stadtarchiv/Inge Goertz-Bauer

Es dauert nicht lange, da haben Franz und Klaus keine Lust mehr, an der Kö für ein paar Pennys Rad zu schlagen oder an der Berger Allee mit Murmeln zu spielen. Auch die Messdiener-Karriere in der Maxkirche findet ein jähes Ende, als sich die Brüder während des Gottesdiensts laut streiten, wer das Weihrauchfass schwenken darf, und nach dem darauffolgenden Ärger gemeinsam „kündigen“. Praktisch veranlagt, wie sie ist, meldet die Mutter ihre Söhne im Yachtclub an, zu Füßen der 1957 fertiggestellten Theodor-Heuss-Brücke, die anfangs noch Nordbrücke heißt. Und so kommt es, dass die beiden lernen, wie man segelt – mit dem Yachthafen als Basis. Die „Schulschiffe“ im Yachtclub sind die sogenannten „Piraten“:  fünf Meter lange Jollen mit zehn Quadratmeter Segelfläche – damals die meistgebauten Vollholzsegelboote Deutschlands. Die Brüder üben, wie man die Strömungen, den Wind, die Geschwindigkeiten und die Entfernungen einschätzt und wie man beim Kreuzen die nötigen Lücken zwischen den Frachtschiffen findet. Ein anspruchsvolles Revier.

Sicher hat die „Pirat“-Ausbildung bei Klaus dafür gesorgt, dass er zwar Respekt vor dem Wasser und seinen Gefahren hat, aber keine Angst. Der Strom ist stark – aber nicht stark genug, um die Sturm-und-Drang-Ambitionen eines 16- oder 17-Jährigen aufzuhalten. Klaus steht also an der Sandbank am Oberkasseler Ufer, inzwischen hat er ein Paddel in der Hand. Er winkt noch einmal zum Mannesmannufer hinüber, und dann legt er ab. Nicht etwa mit einem richtigen Kanu, nein, mit einem selbstgebauten Ein-Mann-Bötchen. Das eher filigrane, aus einem Bausatz hervorgegangene Paddelboot hat er zuvor über die Oberkasseler Brücke auf die andere Rheinseite transportiert. Klar, er hätte das Boot vorher auf ruhigem Wasser testen können, zum Beispiel am Spee´schen Graben direkt hinter der elterlichen Wohnung. Aber wenn schon, denn schon: Der Rhein ist aufregender, der Auftritt spektakulärer, die Symbolik nicht zu schlagen.
Der junge Mann und der Strom.

Auf den ersten fünfzig Metern geht alles gut. Klaus kommt voran, hält Kurs, ist erstaunlich schnell. Dann fährt rheinabwärts ein großer Frachter vorbei. Die Bugwelle trifft auf das Bötchen, es schaukelt, doch Klaus lässt sich nicht aus dem Takt bringen. Die Mutter schaut am Mannesmannufer 4 aus dem Wohnzimmerfenster und schmunzelt: Insgeheim hat sie mit der Aktion gerechnet, schließlich ist es ihr nicht entgangen, dass sich ihr jüngerer Sohn von dem Geld, das er sich mit den damals üblichen Nebenjobs verdient hat – etwa Coca-Cola-Kisten- oder Kakaosäcke-Schleppen im Hafen – den Bootbausatz zugelegt hat. Und nun freut sie sich, dass die Rheinquerung offenbar funktioniert.
Ein weiterer Frachter schnellt vorbei. Erneut schlägt die Bugwelle zu, schwappt über. Das Boot tanzt. Immerhin hat Klaus zu diesem Zeitpunkt die Flussmitte bereits hinter sich. Mutter und Bruder winken, Klaus grüßt mit dem Paddel zurück. Was vom Wohnzimmerfenster aus nicht zu sehen ist: Es steht bereits Wasser im Boot, sei es durch die übergeschwappten Wellen oder durch undichte Stellen, vielleicht aber auch aus beiden Gründen. Jedenfalls hat es empfindlich an Tiefgang zugelegt, und Klaus muss kräftiger paddeln, um vorwärts zu kommen. Immer mehr Wasser dringt ein, das Boot wird langsamer, doch das Ufer kommt näher.

Noch zwanzig Meter: Klaus paddelt wie verrückt, nimmt all seine Kräfte zusammen.

Noch zehn Meter: Durch den starken Tiefgang schwappen jetzt auch leichte Wellen über. Lange geht das nicht mehr gut. Das Bötchen ist fast bis zur Kante mit Rheinwasser vollgelaufen. Mit allerletzter Kraft rettet sich Klaus ans Ufer. Er springt an Land, klitschnass, setzt sich erschöpft hin. Sein Boot muss er aufgeben. Es treibt noch ein paar Dutzend Meter flussabwärts, an der Mündung der südlichen Düssel verschluckt es der Rhein.

Die Überfahrt hat nicht mal zehn Minuten gedauert: Klaus steigt sichtlich mitgenommen, aber mit Siegerlächeln eine der schmalen Treppen am Ufer empor. Die Mutter schimpft nicht. Ist ja noch mal gut gegangen. Und außerdem: Was ist das schon im Vergleich zu dem, was sie seit Jahren regelmäßig direkt vor der Haustür erlebt. Dort tuckern die Kohledampfer vorbei: Einer von ihnen zieht vier bis zehn Lastkähne hinter sich her, was zusammen mehrere hundert Meter ergibt. Im Vergleich zu den Frachtschiffen, die immer mehr werden, sind die Kohledampfer, die immer seltener werden, eher langsam, was wiederum die Halbstarken auf den Plan ruft. Mit einem hälftig geteilten LKW-Reifen kraulen sie auf die Lastschiff-Konvois zu. Einer springt auf und schüttet die (schwer begehrte) Kohle in den Reifen, den der andere im Wasser schwimmend entsprechend positioniert. Anschließend geht es mit der Beute zurück ans Mannesmann-Ufer. Man soll sie alle lassen, denkt die Mutter in solchen Momenten, aber dass ihre Söhne da mitmachen – das wäre ihr nun wirklich zu gefährlich gewesen.

Als Franz und Klaus längst aus dem Haus sind, verlassen die Eltern das Mannesmannufer, ziehen um nach Pempelfort. Der schöne Altbau mit den günstigen Mietwohnungen an der Nr. 4 wird später abgerissen. Vor dem Examen, ab Mitte der 1960er, jobbt Klaus regelmäßig in einem kleinen Ferienort an der Costa Brava als Segellehrer, beauftragt vom Asta, der die Segelreisen in den Semesterferien anbietet. Ich meine mich erinnern zu können, dass er mich als Grundschüler einmal zum Segeln mitgenommen hat, Ende der 1970er, aber ob das auf dem Rhein war oder anderswo – das weiß ich nicht mehr. Gegen Ende des Jahrzehnts siedelt Klaus aus beruflichen Gründen mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Hamburg um. Im Norden kommt er kaum noch zum Segeln. Zu viel Arbeit, allenfalls Windsurfen ist drin. Dann, als Rentner, erfüllt er sich einen Traum und kauft ein gar nicht so kleines Segelboot, das in einem dänischen Hafen vor Anker liegt. An den Wochenenden segelt er durch die Ostsee. Meine Familie und ich – wir sind eingeladen, vorbeizukommen und mitzusegeln, und Klaus besorgt dafür eigens eine Spezialschwimmweste für unseren Hund. Leider hat dieser Segelbesuch nie geklappt.

Die Geschichte der Rheinquerung habe ich im Laufe der Jahre ein halbes Dutzend Mal gehört, von meiner Großmutter, meinem Vater und meinem Onkel. Aufschreiben will ich sie schon lange, und eigentlich wollte ich vorher noch einmal mit dem ehemaligen Mutproben-Teenager sprechen, um weitere Details zu erfahren. Zu spät. Vor Kurzem ist Klaus Brück in Hamburg mit 79 Jahren verstorben. In seinem Testament hat er sich eine Seebestattung gewünscht.

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Blick auf das Mannesmannufer heute, mit dem neuen, 2014 errichteten Haus Nr. 4. Foto: Sebastian Brück

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