Barock und Blowjobs

Der Kunstpalast stellt in einer neuen Ausstellung barocke Werke und Arbeiten aus dem 20. Jahrhundert einander gegenüber. Unsere Autorin hat dort eine Künstlerin entdeckt, die aus Boston nach Düsseldorf kam und einem den Unterschied zwischen Obszönität und Lebensfülle klarmacht.
Veröffentlicht am 27. August 2021
Ausstellung Barock Modern
Eines der Werke von Dorothy Iannone - ihre Bilder zeigen ungehemmte Erotik und Liebe in vielen Spielarten. Aber keine Obzönitäten, sondern Lebensfülle. Foto: Andreas Endermann

Hand hoch, wer beim Thema Barock auch erstmal hektisch nach Spickzetteln kramt, weil sich Erinnerungen an Sonette, an Andreas Gryphius und klägliches Kugelschreiberkratzen auf Klausurbögen melden. Woran erkennt man noch mal einen sechshebigen Jambus mit Mittelzäsur? Und dann diese Totenschädel, Sanduhren, üppig gedeckten Tische mit vergammelnden Speisen. Vanitas, Carpe dies und Carpe das – alles nichts Neues.

Entwarnung! Denn zum Glück gab es Willi Kemp, Düsseldorfer Steuerberater und Sammler, der dem Kunstpalast 2011 seine fast 3000 Werke umfassende Kollektion moderner Kunst überließ. Diese Schenkung ermöglicht einen neuen Blick auf Barock, oder eben auf das, was danach kam.

Der Kunstpalast zeigt mit BAROCK MODERN bis zum 17. Oktober die bislang wenig beleuchteten Spuren des Barocks in der Kunst nach 1950. Rund 120 charakteristische Arbeiten verschiedener Stilrichtungen werden ausgewählten Werken des Barocks aus dem Bestand der Sammlung der Kunstakademie gegenübergestellt. Obwohl die Stilepoche mehr als 300 Jahre zurückliegt, ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte und viele formale Parallelen.

Etliche Künstlerinnen und Künstler haben die Prinzipien des Barocks in ihrem Schaffen reflektiert, bewusst und unbewusst. „Die Zusammenschau von informeller und barocker Kunst scheint vielleicht erstmal nicht einleuchtend, doch dann beginnt man die Verbindungen zu sehen“, betont Felix Krämer, Generaldirektor vom Kunstpalast. Und er hat recht. Sobald der Blick erstmal für dieses Phänomen geschärft ist, werden in vielen Bildern Ähnlichkeiten erkennbar.

Hochspannend: Dorothy Iannone. 1933 in Boston geboren, findet Iannone ihr Thema, als sie 1967 den Künstler Dieter Roth kennen- und lieben lernt. Sie zieht zu ihm nach Düssel­dorf und erklärt ihn zu ihrer Muse. Roth (dessen Werke in der Ausstellung ebenfalls zu sehen sind) steht fortan im Zentrum ihres Schaffens, das sich mit ungehemmter Erotik und Liebe in allen Spielarten befasst. Sie ist die einzige Künstlerin der Werkschau, die noch lebt. Während im Barock stets mythologische Gestalten oder biblische Figuren benutzt werden, um Verlangen und sexuelle Vereinigung abzubilden (in einer Radierung von Agostino Carracci beispielsweise peitscht ein schmunzelnder Satyr eine an einen Baum gefesselte Nymphe), malt Iannone statt Gottheiten und Naturgeistern sich selbst. Trotz expliziter Darstellungen von SM-Spielchen mit Ketten, Peitschen, Marterpfahl und bunter Blowjob-Bebilderung zeichnen sich ihre Arbeiten dabei nicht durch Obszönität, sondern durch Lebensfülle aus.

So etwa in At home (ebenso lakonisch wie nahbar übersetzt mit „bei uns“). Mit Filzstift und Tinte auf Papier illustriert sie Muse Roth und sich farbenfroh und ornamental in ihrer Düsseldorfer Wohnung am Mannesmannufer. Sie sind bei alltäglichen Tätigkeiten wie Kochen, Rauchen, Telefonieren, Zeichnen oder im Bett zu beobachten, und dabei natürlich immer nackt. 

Dann steht dort noch The Singing Box (1971), eine von ihr handbemalte Holzkiste mit integriertem Kassettenrekorder, der von der Künstlerin gesungene und komponierte Lieder abspielt. Kratzig und schrill ertönt etwas, das bitte auf keinen Fall Dinnerbegleitmusik sein sollte. Auf der Box steht der Liedtext:

Don’t waste my time
Show me
Don’t wait until wrinkles and lines pop out allover my brow
Show me now

Da ist sie wieder, die Vergänglichkeit. Wenn die Ruhe der vergleichenden Betrachtung einsetzt, verschwimmen Grenzen, werden Gemeinsamkeiten klar, die man vorher nicht vermutet hätte. Epochen verschmelzen zu Kunst und die wiederum zu einer Darstellung überbordender Menschlichkeit. Sehnsüchte, Sorgen, Gelüste, Gefühle, Lebensfreude, Todesangst – eingefroren in der Unangreifbarkeit des Moments. Die Ausstellung entlässt Betrachtende mit der Frage: Ist die Unterteilung in Epochen, in Genres wirklich so wichtig? Oder geht es um das, worum es eigentlich immer geht: Anwesend sein. Werden. Gewesen sein.

Wem das zu philosophisch ist, der kann den kleinen Siebdruck von Niki de Saint Phalle suchen. Er zeigt eine ganz eigene moderne Darstellung des heiligen Sebastian. Mit Dinosauriern.

Weiterführende Infos und Links

Dauer der Ausstellung: 25. August bis 17. Oktober 2021
Ort: Kunstpalast, Ehrenhof 4-5
Kurator:innen: Gunda Luyken, Daniel Cremer, Kay Heymer für den Raum „Hommage an Willi Kemp“
Öffnungszeiten: Donnerstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Donnerstag 11 bis 21 Uhr
Preise: Regulär 9 Euro, ermäßigt 7 Euro. Zum Onlineshop für ein Zeitfensterticket geht es hier.

Mit der aktuellen Ausstellung würdigt das Haus das zehnjährige Jubiläum der Stiftung Sammlung Kemp und ehrt Willi Kemp in einem gesonderten Raum. Dort werden Schlüsselwerke seiner Kunstsammlung, liebevolle Archivalien und Fotografien gezeigt. Kemp starb 2020. Er verfolgte die Ausstellungsplanung laut Felix Krämer, Generaldirektor vom Kunstpalast, mit großem Interesse.


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