Bami-Nudeln, Chlor und Sonnencreme: eine Düsseldorfer Freibadjugend

Letztens ist mein bester Freund P. bei Instagram oder Facebook über ein Achtziger-Jahre-Foto des alten Freibads am Rheinstadion gestolpert, und seitdem liegt er mir wieder mal mit einem Themenvorschlag in den Ohren: Ich soll aufschreiben, wie das gewesen ist – damals, als wir dort Stammgäste waren.
„Jetzt, zu Beginn der Freibad-Saison, passt es wie das Chlor aufs Auge“, sagt er ironisch.
„Ich hab‘ aber gerade keine Lust auf Nostalgie-Themen“, sage ich. „Nostalgie kann auch nerven!“
„Ach komm, irgendwann muss das doch irgendwer aufschreiben.“
„Damit alle wissen, wie du eitler Vogel dich damals in Szene gesetzt hast auf den Treppen.“
„Du nicht?“
„Nicht so wie du.“
Ob ich will oder nicht: Sofort bin ich in Gedanken vor Ort, unternehme eine Zeitreise. Es ist Sommer. 1990 oder 1991. Nach dem Abi, vor dem Studium. Zivildienst, Bundeswehrzeit, Findungsphase. So in der Art. Mein bester Freund P. und ich verbringen die Samstag- und Sonntagnachmittage auf den Treppen. Jene fast schon berühmten „Liegetreppen“, die zu dem fast schon berühmten Metallzaun führen, der das Freibad vom Rheinstadion trennt. Panoramablick auf Sprung- und Hauptschwimmbecken. Viereinhalb Meter ist es tief. Das muss es auch sein, denn es gibt nicht nur einen Dreier, einen Fünfer und einen Siebeneinhalber, sondern auch einen Zehner. Wer sich traut, dem sind Zuschauerinnen und Zuschauer garantiert. Wobei: Die meisten schauen gar nicht oder nur mit halbem Auge hin, oder sie tun zumindest so. Manche nennen diesen terrassenförmigen Teil des Freibads „Affenberg“ oder „Affenfelsen“. Mission: sich auffällig-unauffällig präsentieren, sehen und gesehen werden. Die Treppen, die breit genug sind, um auf ihnen ein Handtuch auszubreiten, sind eine Tribüne, eine „Außenstelle“ des Nachtlebens, mit einer überdachten Bademeisterkabine in der Mitte. Wann die Coolness-Olympiade begonnen hat und wie es dazu gekommen ist? Wissen wir nicht, interessiert uns auch nicht. Also: eine Runde schwimmen, danach mit Lichtschutzfaktor 2 bis 10 (mehr nutzte man damals nicht) eincremen, sonnenbebrillt das Wetter genießen, im Prinz oder im Überblick blättern und braun werden.

Viele der Treppengäste sind Freitag- oder Samstagnacht unterwegs gewesen, haben in der Bhaggy Disco, im Checker’s oder in den Lokalen und Clubs der Altstadt gefeiert. Und nun, am Tag danach: ausgeschlafen, schnelles Frühstück eingenommen und dann ab Richtung Rheinstadion – mit dem von den Eltern geliehenen Auto, mit dem Fahrrad oder mit der U78. Auf den Liegetreppen und davor steigt die inoffizielle „After Hour“ beziehungsweise „Pre-Party“ – ohne DJ, dafür mit dem typischen Freibadsound: Jugendliche, die kreischend von den Startblöcken ins Wasser springen, Gesprächsfetzen, Wasser- und Planschgeräusche, Bademeisteransagen. Denn natürlich sind die Leute aus dem Nachtleben hier nicht allein. Sie haben lediglich einen Teil des Areals für sich „okkupiert“ – umgeben von bunt gemischtem Publikum. Alles dabei von „Familie mit Kleinkindern“ bis „fittes Seniorenschwimmerpaar“, verteilt auf dem riesigen Gelände zwischen Stadion und Messehallen.
Ein Fest für die Sinne? Nicht nur, denn je näher man den Umkleidekabinen, Schließfächern, Duschen und Toiletten kommt, desto mehr steigt das typische Freibadaroma in die Nase: eine Melange aus Chlor, Schweiß, Desinfektionsmittel, nasser Badekleidung und Urin. Dann lieber schnell zum Freibad-Kiosk und ein Eis am Stiel, eine Bockwurst mit Kartoffelsalat oder eine Portion Bami-Nudeln bestellen. Die Bami-Nudeln sind quasi der „Premium-Snack“ des Freibads am Rheinstadion, und noch heute gibt es viele, die von ihnen schwärmen, sich zumindest gut an sie erinnern – ebenso wie an die Samstagnachmittage, wenn nebenan die Fortuna spielte: Die Ansagen von Stadionsprecher Dieter Bierbaum flogen bis ins Freibad hinüber, und die Kids klebten reihenweise am Zaun, um einen durch Zuschauer und Winkel eingeschränkten Blick aufs Spielfeld zu werfen. Zwar war der Eintritt ins Freibad deutlich günstiger als die Stehplatzkarte fürs Stadion. Wer sich wirklich für Fußball interessierte, wechselte aber früher oder später in die schräg gegenüberliegenden Blöcke 36 oder 37.

Zurück zu meinem kommunikationsfreudigen Freund P.: Gut zwanzig Jahre vor dem ersten Social-Media-Boom und knapp zehn Jahre, bevor Mobiltelefone Mainstream werden, wandert er in meiner Erinnerung auf den Liegetreppen von Grüppchen zu Grüppchen, verteilt durch gänzlich undigitale Worte und Gesten „Likes“, reagiert auf andere mit „Zwinker-“ oder „Sonnenbrille-Emojis“, und hier und da schickt er charmant lächelnd eine „Freundschaftsanfrage“ raus. Am längsten redet er mit seiner Ex-Freundin, die an den Wochenenden im Nachtleben jobbt und sich oben ohne sonnt, was hier zwar nicht die Regel, aber auch nicht unüblich ist. Die üblichen Gespräche: Wo wart ihr gestern? Wo ist heute was los? Welches Lokal hat neu eröffnet? Welcher DJ legt wo auf? Wer hat mit wem geflirtet oder Schluss gemacht?
Die oberflächlichen Szenen, die in der Erinnerungszeitreise aufpoppen, sind im „Newsfeed“ meines Lebens so weit nach unten gewandert, dass ich mir ihrer Existenz gar nicht mehr bewusst war. Und sicher sind sie nach so langer Zeit verklärt und ungenau. Vielleicht war das alles gar nicht so cool und besonders, wie es einem im Rückblick vorkommt, vielleicht war das einfach die Zeit, in der man das Leben am intensivsten wahrnimmt. Die Leichtigkeit des Seins, bevor der Alltag in Ausbildung, Studium und Beruf „ernster“ wird und „geplant“ werden muss.
P. holt mich in die Gegenwart zurück: „Am besten erwähnst du auch noch die anderen Düsseldorfer Freibäder, damit die Story komplett ist.“
„Lörick“, sage ich. „Dorthin sind wir doch vom Rheinstadion gewechselt, als wir nur noch zwei bis drei Mal pro Saison ins Freibad gingen.“
„Rheinstadion und Lörick“, konstatiert P., „das waren in den Neunzigern auf jeden Fall die `In´-Freibäder.“
„Im Freibad in Flingern war ich nur einmal“, sage ich. „Als Dreizehnjähriger, mit einem Klassenkameraden, da habe ich kaum Erinnerungen dran – nur, dass es etwas rauer zuging.“
„Warst du auch am Unterbacher See? Nord- oder Südstrand?“
„Selten. Wobei der Südstrand von Bilk aus näher war, aber warte mal …“
Plötzlich habe ich ein weiteres Freibadbild vor Augen. Im Grunde genommen ist es die erste Freibaderinnerung meines Lebens, von der ich P. nun berichte: Als ich Ende der Siebziger Jahre zur Grundschule gehe, besucht meine Mutter mit mir häufig das Freibad in Benrath. Als Sechs- oder Siebenjähriger stehe ich dort jedes Mal aufs Neue staunend vor einem Automaten. Man wirft eine Münze ein, und nach mir ewig erscheinenden Minuten spuckt er eine erstaunlich gut schmeckende Portion Pommes Frites aus – im Pappbecher. Ob sich ein Mensch in seinem Inneren versteckt und die Fritten vorbereitet oder ob der Automat wirklich selbständig arbeitet? Ich bin mir nicht sicher.
„Pommes aus dem Automaten?“, fragt P. „Hast du sicher falsch behalten, warst ja noch klein.“
Das möchte ich nicht auf mir sitzen lassen: Ich googele „Frittenautomat“ und stoße prompt auf einen Blogbeitrag, der die Erinnerung bestätigt. Bei dem Benrather Pommes-Frites-Automaten scheint es sich um das Fabrikat „Fritomatik“ zu handeln, das in den Sechziger Jahren in Sluis nahe der belgisch-niederländischen Grenze erfunden wurde und danach auch in Deutschland verbreitet war.
„Wann war eigentlich Schluss am Rheinstadion?“, wechselt P. das Thema. „Also mit dem Baden, nicht mit dem Fußball.“
Das Netz verrät uns: Das Freibad wurde 1998 abgerissen, vier Jahre bevor das benachbarte Stadion dran glauben musste. An seiner Stelle entstand eine Mehrzweckhalle. Wir stoßen auf einen Bildband des Düsseldorfer Fotografen Volker Marschall, der 1998 einen Haufen Fotos des Freibads am Rheinstadion machte, vor dem Start der Badesaison. Das leere Schwimmbad, die verwaisten Liegetreppen, das glatte Wasser, die klaren Linien. Als wir einige der Motive im Netz betrachten, denke ich zum ersten Mal etwas, das ich vorher noch nie gedacht habe: Das Freibad am Rheinstadion war schön – auf eine eigene, ganz und gar unprätentiöse Art.
Weil wir das Abrissjahr größtenteils in anderen Städten verbrachten, haben P. und ich mindestens zwei Veranstaltungen verpasst, die Marschall organisierte: An einem lauen Sommerabend kurz vor der Schließung legte der Wiener Richard Dorfmeister auf den Liegewiesen des Rheinstadionfreibads Musik auf, und die Besucher konnten parallel unter Flutlicht baden. Und an einem anderen Abend spielte Volker Bertelmann, bekannt unter dem Namen Hauschka und inzwischen frischgekürter Oscar-Gewinner, mit seiner damaligen Band ein Konzert auf dem Freibadgelände. Genau 25 Jahre ist das her.
„Und?“, fragt P. grinsend „Wie schlimm war der Nostalgietrip für dich? Lust auf Bami-Nudeln?“
Ich denke: Früher, mit Anfang zwanzig, war nicht alles besser – aber alles war aufregend. Jede Generation hat ihre „Liegetreppen“, wir hatten unsere.
Und dann sage ich: „Gut, dass wir dabei waren!“
Weitere Informationen
Foto-Buch: Die erwähnten Bilder aus der letzten Saison des Freibads am Rheinstadion hat der Fotograf Volker Marschall in einem Bildband verewigt (34 Euro). Er kann über die Website seiner Galerie „noir blanche“ bestellt oder direkt vor Ort käuflich erworben werden: Hermannstraße 31 in Flingern Nord (mittwochs bis freitags 14 bis 19, samstags 11 bis 17 Uhr). Die Fotos sind auch als Fine Art Print erhältlich.
Ausstellung: 25 Jahre nach der letzten Saison im Freibad am Rheinstadion zeigt die Galerie „noir blanche“ eine Auswahl von Motiven aus der bekannten Foto-Serie. Termin: 24. Juni bis 12. August 2023.