
Als die Graf-Adolf-Straße Düsseldorfs Kinomeile war
Wir sitzen in der letzten Reihe. Der Blick: optimal. Das Filmtheater: vollbesetzt. Der Werbeblock: so gut wie beendet. Um 23.15 Uhr erklingt ein Refrain, den jeder kennt, der schon einmal im Kino gewesen ist: „Like Ice in the Sunshine, I´m melting away, on this sunny day.” Dann folgt der Abbinder-Spruch: „Lust auf Langnese? Gibt’s auch hier im Kino!“ Sonnig ist es nicht gewesen an diesem Tag im Oktober 1994, und als im nächsten Moment das Licht angeht und der Eisverkäufer mit seinem Bauchladen auf den Plan tritt, winken ihn nur wenige der rund 400 Gäste zu ihrer Sitzreihe. Die meisten wollen weder Eis-Konfekt noch Cornetto Erdbeer, und gar nicht so wenige wollen im Anschluss einen ganz bestimmten Film sehen. Warum das so ist? Wir befinden uns in der Sneak Preview – einer regelmäßigen Dienstagabendüberraschung im Hauptsaal des in die Jahre gekommenen Europa-Kinos. Am Bahnhofsende der Graf-Adolf-Straße, am Rande des Rotlicht-Viertels. Der Eintritt kostet nur fünf D-Mark, und wer auf Nummer sicher gehen will, kauft sich sein Ticket schon im Laufe des Tages, denn die „Sneak“ – wie viele sie nennen – ist fast jedes Mal ausverkauft.
Es gibt keine nummerierten Platzkarten. Was bedeutet: Wer zuerst kommt, sichert sich die beste Aussicht. Auch heute haben wir vor und auf der Treppe am Einlass eine halbe Stunde für das Kino-Ereignis der Woche angestanden. Dabei ist ein Gerücht durchgereicht worden, und so hat sich positiv-gespannte Gleichgültigkeit in fröhliche Erwartung gesteigert – zumindest bei denen, die in der Presse bereits die Lobeshymnen über den erhofften Film gelesen haben.


Die Sneak Preview im Europa-Filmtheater – das ist kein normaler Kinobesuch. Eher ein cineastischer Ausgehabend, bei dem man sich wie bei Diskotheken oder Konzerten zum Einlass in die Schlange stellt und sich vorher in dem mit der Bhaggy-Disco assoziierten Kiosk gegenüber ein oder zwei Wartezeitbiere besorgt (und diese zumindest im Winter unter der Jacke mit in den Saal schmuggelt). Seit rund zwei Jahren gehört dieses Ritual zu unserem festen Wochenablauf. Wir – das sind drei oder vier Freunde und Freundinnen, von denen jeder und jede wiederum drei oder vier andere Freundinnen und Freunde unter den Gästen kennt, die wiederum … und so weiter.
Im Publikum: alles dabei – vom Mainstreamkinogänger über den Arthaus-Fan in Cordhose bis hin zu Szene-Leuten, die sich zum Teil sogar für die „Sneak“ in Schale werfen. Gemeinsamkeit: Kaum einer ist älter als 25. Die Jüngeren laufen auf das Abitur zu, andere stecken in der Ausbildung oder im Zivildienst, wieder andere studieren oder sind Berufsanfänger.
Kurz bevor der Film losgeht – in den vier bis fünf Eiskonfekt-Minuten – lassen wir den Blick durch den hell erleuchteten Saal schweifen, denn ein bisschen geht es bei der Sneak Preview auch ums Sehen-und-gesehen-werden: Ach, schau mal, der eine, der immer mittwochs, also morgen, in der Uel oder im Einhorn auf der Ratinger Straße einen auf supercool macht und einem ruhig einen kleinen Teil dieser Coolheit abtreten könnte – der ist auch wieder da. Und die andere, die heute Mittag zwei Tische weiter in der Uni-Mensa so kreativ über das Stammessen geschimpft hat, dass man sie am liebsten kennenlernen würde – die sitzt nur eine Reihe vor uns.
Natürlich wird in der Sneak-Preview-Gemeinde spekuliert, welche Filme man wohl zu sehen bekommen könnte, zwei oder drei Wochen vor der offiziellen deutschen Kino-Premiere – oder sogar noch früher, wenn, was gar nicht so selten passiert, eine englischsprachige Originalversion (ohne Untertitel!) gezeigt wird. Manchmal werden Wünsche wahr, manchmal erleben wir aber auch Filme, von denen wir noch nie gehört haben und die wir uns normalerweise nie angeschaut hätten, und natürlich macht neben dem günstigen Ticketpreis gerade diese Ungewissheit den Reiz aus. Trotzdem kann es passieren, dass sich der Saal schon vor dem Filmende leert, schließlich sind wir je nach Wohnort und Filmlänge nach der Sneak selten vor viertel nach eins im Bett – und müssen am nächsten Tag früh raus. So was muss sich schon lohnen.
Haben wir jedoch das Glück, einen potenziellen Blockbuster mit Nicole Kidman oder Michael Keaton oder irgendeinem anderen Hollywood-Star vor „allen anderen“ zu sehen oder gar einen besonderen „kleinen“ Film zu entdecken, von dem die große Masse nie erfahren wird, so fühlen wir uns privilegiert, als Teil einer verschworenen Gemeinschaft.


Im Grunde genommen ist die Sneak Preview im Europa-Kino für uns die konsequente Fortsetzung einer Kino-Kindheit und Kino-Jugend rund um die Graf-Adolf-Straße. Nur einer von uns hat noch bewusst die letzten Zuckungen des 1986 geschlossenen Asta Nielsen erlebt (Haus Nr. 37), aber das Residenz (Nr. 20) und das Savoy (Nr. 47) kennen wir alle, ebenso wie das Universum und das Berolina an der Berliner Allee sowie die Lichtburg an der Königsallee und das Rex an der Friedrich-Ebert-Straße. In den Achtzigern haben wir in diesen Kinos Cap und Capper, E.T., Ghostbusters, Police Academy, Indiana Jones, Beverly Hills Cop, Zurück in die Zukunft, der Wüstenplanet oder die Otto-Filme gesehen – und in den Neunzigern Forest Gump, Schindlers Liste, Der mit dem Wolf tanzt oder Men in Black. Wobei: Als der letztgenannte Film 1997 herauskam, war es eigentlich schon fast vorbei mit der Kino-Herrlichkeit an der Graf-Adolf-Straße, denn mehr oder weniger zeitgleich eröffnete der UFA-Palast neben dem Hauptbahnhof als erstes Multiplex-Center der Stadt.


Zurück zur Sneak-Preview. Um 23.20 Uhr verlässt der Eisverkäufer den Saal, das Licht geht aus, und auf der Leinwand erscheint vor schwarzem Hintergrund ein Eintrag in Wörterbuch-Typografie. „PULP“ steht dort in Großbuchstaben, daneben auf Englisch die beiden möglichen Bedeutungen:
1. Eine weiche, feuchte, formlose Materiemasse.
2. Ein Magazin oder ein Buch mit reißerischen Themen, gedruckt auf rauem, unbehandeltem Papier.
Jubel brandet auf bei den Bescheidwissern im Publikum, und das sind der Lautstärke nach zu urteilen mindestens 50. In jedem Fall dürfte es in einem Düsseldorfer Kinosaal an einem Dienstagabend nach 23 Uhr nie wieder eine so lautstarke Reaktion gegeben haben wie in diesem Moment. „Pulp Fiction“ also – der Film, der in den USA bereits Kultstatus genießt und von dem „alle“ sprechen, ohne ihn gesehen zu haben. Der titelgebende Begriff steht wie gesagt für Schund- und Groschenromane, und was der Regisseur Quentin Tarantino uns nun präsentiert, ist eine so durchgeknallte wie geniale Leinwandversion des Genres. Erzählt werden die Erlebnisse einiger Gangster aus Los Angeles, rückblickend-episodenhaft und nicht-chronologisch. Obwohl Stars wie John Travolta, Samuel L. Jackson, Uma Thurman, Bruce Willis und Harvey Keitel auf den Plan treten, springt der Funke nicht bei allen über. Bis Mitternacht verlässt mehr als ein Dutzend Zuschauer den Saal. Zu radikal weicht „Pulp Fiction“ von damals gängigen Sehgewohnheiten und dramaturgischen Konventionen ab, zu abschreckend mögen auf den einen oder die andere die makaber überzeichneten Gewaltszenen gewirkt haben, zu grotesk und exzentrisch die Handlung.
Für viele von uns jedoch war die „Pulp Fiction“-Premiere ein Höhepunkt der Sneak-Preview-Zeit. Und besondere Sneak-Momente gab es im Europa-Kino so einige: Viele liebten den 1993er Film „Gilbert Grape – irgendwo in Iowa“, in dem Leonardo di Caprio als geistig behinderter Sohn des von Johnny Depp gespielten Titelhelden seine Karriere als Superstar begann. Andere feiern bis heute die dänische Produktion „Nachtwache“ (1994), in der ein Student einen Job als Nachtwächter in der Kopenhagener Gerichtsmedizin übernimmt, als spannendsten Film, den sie je gesehen haben. Nicht zu vergessen: die Filmfehler-Heiterkeit, als bei mindestens zwei Sneak-Abenden gut sichtbar die Mikrofone am oberen Bildrand über den Köpfen der Schauspieler in die Szene hinein baumelten.
Im Winter 1994, in den Monaten nach „Pulp Fiction“ passiert etwas, das für unsere Clique den Anfang vom Ende der Sneak-Preview-Leidenschaft bedeutet: Einer von uns lernt jemanden kennen, der im Büro der verantwortlichen Kino-Betreiber arbeitet. Durch dieses Leck wissen wir spätestens dienstagnachmittags, welcher Film am Abend laufen wird. Anfangs fühlt sich das cool an, weil eine Reihe von Filmen gezeigt wird, auf die sich alle einigen können. Doch dann springen immer öfter ein oder zwei von uns ab – nach dem Motto: Der Film interessiert mich nicht, da bleibe ich lieber zu Hause. Gleichzeitig scheint die Sneak Preview auch generell schlechter besucht zu sein als zu ihren Hochzeiten. Ob unser „Sneak Leaks“ dafür verantwortlich ist? Haben sich wirklich alle aus der Gruppe daran gehalten, das Film-Geheimnis der Woche nur im engeren Kreis zu enthüllen? Oder versorgt der Kontakt aus dem Büro noch andere mit der begehrten Information? Eines ist klar: Seit die Ungewissheit verschwunden ist, fehlt auch der Reiz. Und dann wechseln wir auch noch den Studienort oder gehen für ein Jahr ins Ausland oder haben eine neue Partnerin ohne Kino-Leidenschaft – und plötzlich ist die Sneak aus unserem Alltag verschwunden.


Heute erinnert lediglich das Atelier im Savoy an die Kino-Geschichte der Graf-Adolf-Straße, der große Hauptsaal dient seit der Jahrtausendwende als Kleinkunstbühne. Das Residenz-Filmtheater wiederum hat sich in den Club Nachtresidenz verwandelt, und im Universum werden iPads und Smart Watches verkauft. Das Berolina: ein Club plus Café. Die Lichtburg: ein Chanel-Store. Und das Europa-Filmtheater: eine griechische Disco. Sneak Previews sind längst etabliert, laufen überall in Deutschland, auch in den Multiplex-Großkinos. Allerdings können wir uns nur schwer vorstellen, dass es jemals eine bessere Sneak-Preview-Zeit gegeben hat als in der ersten Hälfte der Neunziger, im Europa-Kino an der Graf-Adolf-Straße 108 in Düsseldorf.
P.S. Letztens hat einer von uns seine Eltern nach ihren Kino-Erfahrungen gefragt: Dabei kam heraus, dass an der Graf-Adolf-Straße 87, gegenüber unseres Sneak-Treffpunkts im Europa ebenfalls mal ein Kino untergebracht war: „Die Kamera“. Von 1950 bis 1983. In dem Jahr, als wir uns noch gar nicht kannten und gerade von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen wechselten oder gewechselt waren oder bald wechseln würden, wurde das Gebäude neu vermietet – woraufhin die Bild-Zeitung schlagzeilte: „Bhagwan-Jünger machen Kino zur Diskothek“. Alarmiert durch den Zeitungsbericht kam dann das Bauaufsichtsamt zur Kontrolle. Und am 23. November 1983 vermerkte ein Mitarbeiter nach einem Termin vor Ort: „Das vormalige Kino ist zu einem Riesensaal entkernt. Installations- und Umbauarbeiten waren in vollem Gange.“ Im Sommer 1984 eröffnet an gleicher Stelle ein Lokal, das anfangs unter den Namen „Zorba the Buddha“, später als Bhaggy-Disco firmierte und bis Ende der Neunziger Jahre zu einer Legende des Düsseldorfer Nachtlebens avancieren sollte. Einige von uns waren dabei, haben also dort getanzt, getrunken, geflirtet wo einst die Eltern im Kino saßen und heute Hotelgäste einchecken. Aber das ist eine andere Geschichte …


Weitere Infos zu den Kinos und ihrer Geschichte
Buchtipp: Einen ausführlichen Überblick zum Thema bietet das leider nur noch antiquarisch erhältliche Buch „Vom Tanzsaal zum Filmtheater – eine Kino-Geschichte Düsseldorfs“ (2009, Droste-Verlag) von Sabine Lenk, der ehemaligen Leiterin des Filmmuseums. Dort sind auch viele längst vergessene Stadtteil-Kinos in Wort und Bild dokumentiert.
Kinos an und um die Graf-Adolf-Straße im Überblick:
- Residenz-Theater (UFA-Residenz), Graf-Adolf-Str. 20, 1913 bis 1943 sowie 1949 bis 1999
- Asta-Nielsen-Theater, Graf-Adolf-Str. 37, 1911 bis 1986
- Europa-Palast-Theater, Graf-Adolf-Str. 44, 1898 bis 1964
- Savoy-Filmtheater, Graf-Adolf-Str. 47, 1958 bis 2000
- Graf-Adolf-Theater (1907 bis 1913) / Film-Casino (1973 bis 1980) / Starlight (1980 bis 1998), Graf-Adolf-Str. 69
- Die Kamera, Graf-Adolf-Str. 87, 1950 bis 1983
- City-Film-Theater, Graf-Adolf-Str. 92, 1957 bis 1983
- Lux am Bahnhof, Graf-Adolf-Str. 96, 1968 bis 1992
- Europa-Fimtheater, Graf-Adolf-str. 108, 1971 bis 1998
- UFA-Berolina, Berliner Alle 46, 1957 bis 1999
- UFA-Universum, Berliner Allee 59-61, 1955 bis 1999
- Lichtburg, Königsallee 40, 1910 bis 1943 sowie 1946 bis 2004
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