Warum Marie-Agnes Strack-Zimmermann trotz allem nicht nach Brüssel geht

Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist eine Meisterin des 50-Prozent-Dementis. Kollege Michael Bröcker hat bei „The Pioneer“ berichtet, die Düsseldorfer FDP-Chefin sei als Spitzenkandidatin ihrer Partei für die Europawahl 2024 im Gespräch. Fragt man sie danach, führt sie eine Reihe von Gegenargumenten auf. Die sind alle nachvollziehbar, würden die Kandidatur aber dennoch nicht ausschließen. Und ein 100-prozentiges Nein hört man von der Protagonistin auch nicht. Die Folge: Sie hat ihre aktuellen Aufgaben in Berlin nicht klein geredet, falls sie nicht Spitzenkandidatin wird, parallel behält die europäische Aufgabe ihren Wert.
Ich kann die Gedankenspiele vor dem Bundesparteitag der FDP (22. bis 24. April in Berlin) gut nachvollziehen, denn auf den ersten Blick spricht einiges für die Düsseldorferin als Spitzenkandidatin:
Freier Weg
Bis vor kurzem gab es ein partei-internes Hindernis, dass eine Kandidatur von Marie-Agnes Strack-Zimmermann unwahrscheinlich gemacht hat – und auf das sie sich bei ihren 50-Prozent-Dementis gerne bezog. Nicola Beer hatte ihre Partei bei der vorherigen Europawahl angeführt, ist heute Vize-Präsidentin des Parlaments und wäre damit zunächst auch die natürliche Spitzenkandidatin für 2024. Nun aber berichtete die F.A.Z., dass FDP-Chef Christian Lindner dem Bundeskanzler vorgeschlagen hat, Nicola Beer für den Posten der stellvertretenden Vorsitzenden der Europäischen Investitionsbank zu nominieren.
Typische Dramaturgie
Zum freien Weg an die Spitze der Wahlliste passt ein zweiter Punkt, der wie aus einem Drehbuch scheint. Wenige Tage nach der Nachricht vom wahrscheinlichen Wechsel Nicola Beers meldete sich der Bundesverband des FDP-Nachwuchses medienwirksam zu Wort. Die Jungen Liberalen wünschen sich Marie-Agnes Strack-Zimmermann als Spitzenkandidatin für die Europawahl. Sie sei wie geschaffen für die in Europa erforderliche Reformpolitik, sagte die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, weil sie eine „weltoffene, mutige und durchsetzungsstarke Politikerin“ sei.
Sichere Aufgabe
Würde die Düsseldorfer FDP-Chefin nächstes Jahr den europäischen Weg wählen, könnte sie die folgenden fünf Jahre klar planen. Das ist im Vergleich zu Berlin ein klarer Unterschied, denn dort sind 2025 gleich mehrere weniger erbauliche Szenarien möglich. Niemand weiß, ob die FDP auch an der nächsten Regierung beteiligt ist. Niemand weiß, ob die Liberalen erneut ein Posten wie den der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses erhalten. Und gemessen an Umfragewerten ist nicht einmal sicher, dass die FDP den Wiedereinzug in den Bundestag schafft.
Wenig Platz neben Christian Lindner
Marie-Agnes Strack-Zimmermann zählt inzwischen zu den drei bis fünf bekanntesten FDP-Politiker:innen der Republik. Diese Prominenz hilft im Wahlkampf – die Frage ist nur, in welchem am meisten. Der Bundestagswahlkampf wird voraussichtlich erneut auf den Vorsitzenden Christian Lindner zugeschnitten, daneben bleibt nur bedingt Raum und Bedarf für weitere bekannte Gesichter. Bei der Europawahl 2024 wäre das anders, dann würden Rang und Ruf der Düsseldorferin zur größtmöglichen Geltung kommen.
Trotz all dieser sehr guten Argumente bin ich nicht überzeugt, dass sich die Gerüchte bewahrheiten und die Wünsche erfüllen – und zwar aus folgenden Gründen:
Gerüchte sind Dauerbegleiter
Hätte Marie-Agnes Strack-Zimmermann nur einen Bruchteil der Posten bekommen, die man ihr in Gedankenspielen schon zugeschrieben hat, hätte sie einen eindrucksvollen Lebenslauf. Darin stünde dann Innen- und Verteidigungsministerin, selbst als Bundespräsidentin wurde sie schon einmal gehandelt. Deshalb sind Gerüchte über mögliche neue Jobs erst einmal ganz normal und kein zwingendes Zeichen dafür, dass sie sich diesmal bewahrheiten.
Kein Karriere-Bedarf
Jenseits des Politischen scheint es für die Düsseldorfer Liberale wenig Motivationsbedarf zu geben. Sie ist finanziell nicht auf Mandate angewiesen. Und mit inzwischen 65 Jahren gibt es auch keinen Grund, sich zwingend bis 2029 einen Posten sichern zu müssen. Es zählt deshalb vor allem der Inhalt.
Wichtige Aufgabe in Berlin
Was ist also reizvoller: Vorsitzende des Verteidigungsausschusses oder eine herausgehobene Position in Brüssel wie etwa die der Parlamentsvizepräsidentin? Diese Frage kann man nicht leicht und eigentlich auch nicht falsch beantworten.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist seit knapp eineinhalb Jahren Vorsitzende des Verteidigungsausschusses – in einer Zeit, in der die Themen des Ausschusses einen enormen Stellenwert haben. Sie hat die Vielzahl der Orte auf der Welt kennengelernt, die dabei eine Rolle spielen, und sie weiß nun um den enormen Einfluss, den sie in ihrer Aufgabe hat. Das schließt die zahlreichen Talkshows, Podcasts und Interviews mit ein, in denen sie regelmäßig zu erleben ist.
In Brüssel kann man sich in Verteidigungs- und Außenpolitik ähnlich einbringen, wird aber sehr wahrscheinlich weniger Wirkung und Wahrnehmung erleben. Selbst gefeierte Personen eines Europawahlkampfs sind etwa ab dem Dienstag nach der Wahl vergessen (nachzulesen bei der tapferen Sozialdemokratin Katarina Barley). Die Vorschläge und Meinungsäußerungen von EU-Parlamentarier:innen schaffen es seltener in Schlagzeilen, die Politiker:innen werden zudem seltener in Talkformate eingeladen. Das ist auch eine Frage für die Eitelkeit einer Politikerin, vor allem aber eine von Wirkung und Wahrnehmung.
Fazit
Marie-Agnes Strack-Zimmermann war zugleich Bundestagsabgeordnete und OB-Kandidatin ihrer Partei, sie war bis Februar dieses Jahres auch gleichermaßen Mitglied des Parlaments und des Düsseldorfer Stadtrats. Sie ist jemand, der durchzieht. Mitten in einer wichtigen Phase etwas einfach hinter sich zu lassen, ist nicht typisch für sie. Deshalb meine ich, dass sie während des Ukrainekriegs ihren Posten als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses nicht räumen und eine temporäre Lücke verursachen wird. Sie bleibt dort, um Kanzler, Kabinett und Kolleg:innen anzutreiben – auch wenn es gut sein kann, dass es am Ende eine 51-Prozent-Entscheidung war.
