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Warum das 9-Euro-Ticket für Obdachlose so wichtig war

Das „Fahren ohne Fahrschein“ und die Folgen beschäftigen die Obdachlosenhilfe immer wieder. In einigen Fällen droht sogar eine Gefängnisstrafe. Das 9-Euro-Ticket hat gezeigt: Die meisten kaufen gern ein Ticket - wenn es bezahlbar ist.
Veröffentlicht am 15. Dezember 2022
9Û-Ticket
Wer kein Geld hat für einen Fahrschein, fährt eben ohne. Die Obdachlosenhilfe kennt zahlreiche solcher Fälle und die daraus entstehenden Folgen. Das 9-Euro-Ticket hat dagegen geholfen - weil es sich viele noch leisten konnten. Foto: Andreas Endermann

Woran denken Sie beim 9-Euro-Ticket? An Chaos am Bahnsteig? An einen guten Anreiz, um das Auto mal stehen zu lassen? An überfüllte Regionalbahnen? An Punks auf Sylt? Oder vielleicht an eigene schöne Ausflüge ins Grüne – und Sommerurlaub in Deutschland? Woran Sie vermutlich nicht denken: An Obdachlose und armutsbetroffene Menschen, die sich Dank dieses Tickets für drei Monate mal nicht entscheiden mussten, ob ihnen ihre Mobilität eine Strafe wert ist.

Oliver Ongaro, Streetworker bei Fiftyfifty sagt, Schwarzfahren und die Konsequenzen, die das haben kann, sind ein permanentes Problem in der Arbeit der Düsseldorfer Obdachlosenorganisation. Wenn das Geld zum Leben knapp ist, sei das Ticket eine der ersten Stellen, an denen gespart wird. Denn für viele Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, ist auch das Sozialticket mit 39,80 Euro zu teuer. 

Während der Laufzeit des 9-Euro-Tickets habe sich das in der Arbeit von Fiftyfifty deutlich bemerkbar gemacht. Bei einem Verkäufer:innentreffen habe man herumgefragt: Alle hatten ein Ticket gekauft. 9 Euro kriege jede:r irgendwo her, sagt Oliver Ongaro. Mobilität sei eines der wichtigsten Themen der Menschen, die bei Fiftyfifty beraten werden. 

Dabei geht es hauptsächlich um Fahrten innerhalb des Stadtgebiets. Etwa zu einem Schlafplatz außerhalb oder einer der Notschlafstellen. Auch zu Terminen beim Amt, beim Arzt oder bei Fiftyfifty an der Höhenstraße müssen sie irgendwie kommen. Und wer kein Geld für ein Ticket auftreiben könne, der fahre eben ohne.

Was passieren kann, wenn man zu häufig ohne Fahrschein in der Bahn erwischt wird, kann man aktuell am Fall von Gisa M. sehen. Insgesamt elf Mal wurde sie seit 2019 ohne Ticket erwischt. Ihr Ziel war meist die Methadonambulanz. Schon nach den ersten zwei Malen wurde sie zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Auch danach ist sie noch mehrmals ohne Ticket gefahren, bekam eine weitere Bewährungsstrafe von einem Jahr. Nachdem sie im Frühjahr noch einmal ertappt wurde, hat die Staatsanwaltschaft jetzt die Bewährung widerrufen – Gisa M. musste am 4. November ins Gefängnis. 

Dass Menschen wegen Fahrens ohne Fahrschein in Haft müssen, kann aus zwei Gründen passieren. Nach Paragraf 265a im Strafgesetzbuch kann das so genannte Erschleichen von Leistungen mit Geld- oder Gefängnisstrafe bestraft werden. Manche müssen also direkt in Haft, andere kommen mit einer Geldstrafe davon. Wer diese aber nicht bezahlen kann, dem droht eine Ersatzhaft. Betroffene sitzen dann ihre Geldstrafe ab.

Vor Gericht landen die Fälle, wenn die Rheinbahn Anzeige erstattet. Laut Rheinbahn-Pressesprecherin Heike Schuster passiert das nur in bestimmten Fällen: Wenn ein Fahrgast innerhalb von zwei Jahren drei Mal auffällt oder wenn das Ticket manipuliert wurde. Das soll sich nun ändern. In der Ratssitzung am 17. November hat der Stadtrat beschlossen, dass sich die Aufsichtsratsmitglieder der Rheinbahn dafür einsetzen, dass das Unternehmen bei Fahren ohne Fahrschein keine Strafanzeige mehr stellt. Grund für den Beschluss war, dass der Bund plant, dieses nicht mehr als Straftat, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit zu ahnden. 

Obwohl die Rheinbahn auch in der Zeit des 9-Euro-Tickets genauso häufig kontrolliert hat wie sonst, ist die Zahl der beanstandeten Tickets um etwa die Hälfte gesunken, sagt Heike Schuster. Schon Mitte Juli hat der WDR bei den verschiedenen Verkehrsbetrieben im Regionalverkehr nachgefragt und berichtet, dass die Zahl der ungültigen Fahrkarten im ersten Monat bei allen deutlich – bei manchen um die Hälfte oder sogar um zwei Drittel – zurückgegangen ist.

Oliver Ongaro sagt, der Zeitraum, in dem es das 9-Euro-Ticket gab, zeige: Obdachlose Menschen fahren nicht ohne Fahrschein, weil sie keine Lust haben, ein Ticket zu kaufen, weil es ihnen egal ist, ob sie sich dadurch unsolidarisch verhalten oder weil sie sogar eine besondere kriminelle Energie haben. Sondern: Für die meisten von ihnen sind die Tickets zu teuer. Das ändert sich auch mit dem Nachfolger-Ticket für 49 Euro nicht. Immerhin kostet das sogar zehn Euro mehr als das Sozialticket. Für Bedürftige liege die Schmerzgrenze bei 15 oder 20 Euro, vermutet Ongaro.

Für Gisa M. ist die Haftstrafe fatal. Nach vielen Jahren auf der Straße hatte sie eine Wohnung gefunden, ist im Methadonprogramm und hat sich im Projekt Straßenleben von Fiftyfifty und Zakk eingebracht. Die Stabilität, die sie sich so in den vergangenen Monaten und Jahren erarbeitet hat, steht nun auf dem Spiel. In einem offenen Brief an NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) fordern Menschen aus der Öffentlichkeit, Kunst und Wissenschaft ihre Freilassung. Zu den Unterzeichnenden gehören etwa Breiti von den Toten Hosen oder Wagenbauer Jacques Tilly. Auch in den sozialen Medien wird der Fall momentan diskutiert. Natürlich habe es in der Zeit des 9-Euro-Tickets auch schöne Geschichten gegeben, sagt Oliver Ongaro. Von der einen, die zum ersten Mal seit Langem das Grab ihrer Eltern besucht habe. Oder von den beiden, die einmal im Leben an den Bodensee fahren wollten. 

Weiterführende Links

Der Offene Brief an den Justizminister

Eine Reportage über das Obdachlosen-Projekt „Housing first“

Christian Herrendorfs Text „Dinge, die wir über Obdachlose nicht wissen, aber wissen sollten“


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