Die rätselhafte Welt der Schuh- und Schlüsseldienste

Ein Schuh dient der Fortbewegung des Menschen und ermöglicht es, bequem auszuschreiten, insbesondere auf unebenem, schmutzigem Gelände. Von Marianne Ihlen, der norwegischen Muse des kanadischen Singer-Songwriters Leonard Cohen, wird erzählt, sie habe in den fünf Jahren, die das Paar auf der griechischen Insel Hydra verbrachte, an keinem einzigen Tag Schuhe getragen – ein Glück, das nur den wenigsten zuteil wird. Schuhe, erfunden von den Ägyptern um das Jahr 3500 vor Christus, gehören zur zivilisatorischen Grundausrüstung des Menschen, in unseren Breitengraden kommt man praktisch nicht drum herum, welche zu tragen. So viel zum Thema Fußbekleidung.
Kommen wir zum Schlüssel. Er gehört ebenfalls zur zivilisatorischen Grundausstattung und ist ein Werkzeug, um beispielsweise Türen auf- und zuzusperren. Eine äußerst sinnvolle Erfindung, jedenfalls für alle, die Wert auf Privatsphäre legen. Die ersten Schlüssel gab es in der Bronzezeit, sie begann um das Jahr 3100 vor Christus.
Die Frage, die sich nun stellt: Abgesehen davon, dass Schuhe und Schlüssel zur zivilisatorischen Grundausrüstung gehören und beide Wörter mit Sch anfangen, haben die Objekte null Gemeinsamkeiten, weder in optischer noch in funktionaler Hinsicht. Warum ist es dann aber so, dass Schuh- und Schlüsseldienst fast immer zusammen anzutreffen sind?
Ein Blick auf Google Maps zeigt: In Düsseldorf gibt es gut 20 solcher Dienste. Anruf im Laden an der Emil-Barth-Straße. Ein Mann geht ran und beantwortet die Frage mit einem herausgeknurrten: „Weiß ich nicht.” – „Aber Sie bieten doch beide Dienste an, richtig?” – „Ja.” – „Haben Sie sich nie gefragt, warum?” – „Nein!” Er legt auf. Anruf im Laden an der Glockenstraße, wieder ist es ein Mann, der rangeht. Seine Antwort: „Das kann ich Ihnen nicht beantworten.” Er habe das Geschäft vor Jahren übernommen, sagt er – als erkläre das, warum er die Antwort nicht kennt. – „Hat es Sie denn nie interessiert, zu wissen, warum Schuhe und Schlüssel so häufig zusammen anzutreffen sind?” – „Nein. Und jetzt hab‘ ich keine Zeit mehr.” Anruf Nummer drei. Brunnenstraße. Diesmal ist eine Frau am anderen Ende der Leitung. Sie sagt mit freundlicher Stimme: „Ich kann Ihnen die Frage gerne beantworten. Lieber aber wäre es mir, Sie würden mit meinem Vater sprechen. Der ist nur leider nicht da.”
Vor einiger Zeit schrieb ich für eine Zeitung einen Text über die Peter-Behrens-Straße in Garath. Ich lief sie eine Weile auf und ab und fragte alle, die mir begegneten, ob sie wüssten, wer Peter Behrens sei. Ergebnis: Niemand – niemand! – wusste es. (Behrens, geboren 1868 in Hamburg, gestorben 1940 in Berlin, war Architekt und Designer, in Düsseldorf war er unter anderem Leiter der Kunstgewerbeschule.) Und nicht nur das: Es interessierte auch niemanden. Die Straße hätte sonstwie heißen können, Gebrüder-Hänfling-Allee oder General-Knackwurst-Gasse, den Leuten wäre es piepegal gewesen. Straßennamen – offenbar Schall und Rauch. Darauf stellte sich mir die Frage: Was weiß man eigentlich über den Ort, an dem man lebt? Wo fängt das Interesse an, wo hört es auf? Eine ähnliche Frage ergibt sich mit Blick auf die rätselhafte Welt der Schuh- und Schlüsseldienste: Was wissen die, die die Läden betreiben, über das Zustandekommens ihres Jobprofils? Wieso Schuhe und Schlüssel? Genauso gut könnte man einen Laden aufmachen, der Makeup und Motoröl verkauft. Oder?
Nach etwa 15 Telefonaten – plus längerer Internetrecherche – kann ich mit immerhin eineinhalb Erklärungsversuchen aufwarten. Den Anstoß zum ersten verdanke ich Nuri Nuvola vom Schuh- und Schlüsseldienst an der Henkelstraße. Am Telefon erzählt er, dass eines alleine – also nur Schuhreparatur oder nur Schlüsselanfertigung – sich nicht lohne. Was allerdings nicht die Frage klärt, warum ausgerechnet Schuhe und Schlüssel ein Paar bilden. Das wiederum erläutert Hasan Karadeniz vom Schuh- und Schlüsseldienst an der Lichtstraße. „Mister Minit” habe die Kombination erfunden, sagt er. Die Schuh- und Schlüsseldienstkette dürfte vielen Menschen ein Begriff sein. Gegründet 1957 in Belgien, expandierte sie in viele Länder, darunter Deutschland mit der Zentrale in Düsseldorf. Lange Zeit gehörte Mister Minit zum Inventar jeder deutschen Einkaufsstraße – bis Corona kam und die Insolvenz unausweichlich wurde. 2021 schlossen bei uns alle Läden.
Der Blick in die Vergangenheit ist ein bisschen wie der Blick in die Zukunft. Man hat eine bestimmte Vorstellung von einem Geschehen. Doch wie es wirklich war (oder sein wird), weiß im Grunde niemand so genau. So auch in diesem Fall. Im Netz ist ein Text des britischen Schuh- und Schlüsseldienstunternehmers sowie Multimillionärs John Timpson zu finden – eine Management-Kolumne, die er 2010 für die britische Zeitung Telegraph verfasste. Darin schreibt Timpson: „In den 1960er Jahren begannen die Schuhgeschäfte, synthetische Importe zur Hälfte der Lederpreise zu verkaufen.” Folge war, dass die Nachfrage nach Schuhreparaturen rapide zurückging. Jedes Jahr um 15 Prozent. „Die Schuster versuchten alles Mögliche, um den Verlust auszugleichen: Messerschärfen, Strumpfwaren, Lederwaren, Stempel und Strümpfe – das, was wirklich funktionierte, war das Schlüsselfräsen.” Von Mister Minit, das Unternehmen ist noch in mehreren Ländern aktiv, nur eben nicht mehr in Deutschland, ist in Timpsons Text keine Rede. Vielleicht deshalb nicht, weil es Konkurrenz ist? Oder stimmt die Mister-Minit-These gar nicht? An diesem Punkt verliert sich die Spur. Womöglich müsste man eine Wirtschaftshistoriker:innenkommission darauf ansetzen.
Abschließend noch folgender Erklärversuch: Laut Kasim Ertürk, Inhaber des Schuh- und Schlüsseldienstes an der Nordstraße, sollen vor rund 100 Jahren die Maschinen für die Schuhreparatur und das Schlüsselfräsen nahezu baugleich gewesen sein. Damals, sagt er, habe es Aufsätze gegeben, um schnell wechseln zu können – von der Besohlung zum Fräsen und wieder zurück. Timpson erwähnt das mit keinem Wort. Auch sonst findet sich nirgends eine Bestätigung der These. Weshalb sie an dieser Stelle nur halb gewertet sei. Interessant, aber womöglich nicht der Schlüssel zur Erklärung eines Phänomens, das vermutlich immer ein wenig geheimnisvoll bleiben wird. Es sei denn, die Historiker:innenkommission macht sich ans Werk.