Wie ein Gedicht auf Klopapier beim Start in ein neues Leben half

Sven und Ilona kommen am 21. November 1989 nach Düsseldorf. Alles ist ungewohnt, alles ist anders, aber am Ende wird alles gut. Auch wegen der Freunde vom Fortuna-Büdchen. Die deutsch-deutsche Geschichte des Paares.
Veröffentlicht am 21. November 2022
Sven und Ilona Tiller
Fortuna-Büdchen, Sven und Ilona vor dem Fortuna-Büdchen Foto: Andreas Endermann

Rückblick: Ein Januartag im Jahr 1990. Auf dem Gelände der Firma Henkel an der Bonner Straße findet ein Neujahrsempfang der Düsseldorf Jonges statt. Elegant gekleidete Damen und stattliche Herren lassen die Gläser klirren, essen, trinken und unterhalten sich angeregt. Mitten unter ihnen sitzen Sven und Ilona. Sie fühlen sich wie Außerirdische. Wie berlinernde Außerirdische unter lauter schönen und reichen Rheinländern. Sven kratzt seinen strubbeligen Schopf und geht auf die Herrentoilette. Er setzt sich in einer der Kabinen auf den Deckel des WCs, holt einen Stift aus seiner Hosentasche, zieht am Klopapier und beginnt zu schreiben.

Seit November im Westen,
im goldenen Land???
Die Heimat dafür verlassen,
´nen Koffer in der Hand.

„Wir waren, gloob ick, die Quoten-Ossis auf der Feier. Die hatten zwei Pärchen aus der DDR zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen. Und ick saß da mit meinem Vokuhila und meiner Ilona und einem anderen Ost-Pärchen.“

Diese ist eine von gefühlten 41 WhatsApp-Sprachnachrichten von Sven auf meinem Handy in den vergangenen Wochen. Ich wollte unbedingt einen deutsch-deutschen Text schreiben zum 3. Oktober, dem Tag der Einheit. Aber ich gebe zu, ich war ein bisschen naiv. Es wurde Herbst, der 3. Oktober nahte, und ich wurde nicht fertig. Denn ich spürte, dass ich einen Mann beschreiben wollte, den man schlecht beschreiben kann. Eigentlich muss man ihn hören oder sehen. Er selbst findet seine Story ziemlich unspektakulär. Ich nicht.

Na gut, Sven hat sich weder aus Protest an den Checkpoint Charlie gekettet, noch ist er mit einem Heißluftballon in den Westen geflüchtet. Am 9. November 1989, dem Tag, an dem die Mauer, die über 28 Jahre Deutschland in Ost und West teilte, sich öffnete, erfuhr er in einem schnieken Ostberliner Restaurant namens Schwalbennest, dass die DDR-Regierung für alle Ausreisewilligen die Grenze öffnen wollte. Diese Nachricht überbrachte ihm die Toilettenfrau, die leise Radio hörte und häkelte. Er glaubte der Frau kein einziges Wort.

Noch vor kurzem waren Freunde von Sven in einer offenen Gerichtsverhandlung für den Versuch, die Spree zu durchschwimmen, zu einer mehrjährigen Haft verurteilt worden. Erst einen Tag zuvor, am 8. November, hatte er sich doch von einem guten Freund, dem ein Ausreiseantrag bewilligt worden war, verabschiedet. Verabschiedet für voraussichtlich sehr lange Zeit oder sogar für immer. Die unsichtbare Überwachung durch die Staatssicherheit der DDR war schon vor Wochen ein Kampf mit offenem Visier geworden. An der Ständigen Vertretung der BRD an der Hannoverschen Straße hatte der VEB Horch und Guck, wie die Stasi im Volksmund hieß, Mitarbeiter in den Büschen positioniert. Und genauso, wie diese Büsche ihr Laub verloren, verlor die Stasi im Herbst 1989 an Macht.

Die vier Freunde, die eben noch in Ostberlin im Restaurant in der Nähe des Roten Rathauses mit Freunden zusammensaßen, wollten in den Westteil der Stadt, in das andere Berlin, und zwar sofort.

(…)  Donnerstag, den 9. November 1989
Berlin Alexanderplatz in den Abendstunden.
Ein Taxi hält.
Vier Menschen stehen vor dem Wagen. Sie könnten problemlos einsteigen, aber ihre Gedanken kreisen um weitaus mehr als um das Hier und Jetzt. Es geht auch nicht um eine banale Fahrt von A nach B oder die bequeme Tour auf dem schnellsten Weg nach Hause. Nein, DIESES Taxi hat die Macht, in eine andere Zeit und in ein anderes Leben zu fahren. Für immer.

Ich zitiere hier aus Svens Text „Mein deutscher Herbstund erkläre Ihnen gerne, woher der Mann aus Brandenburg an der Havel und ich, die Frau aus Willingen im Hochsauerland, die beide seit über 30 Jahren in Düsseldorf leben, sich kennen. Für mich war Sven „Der Mann hinter dem Schild“. Dem Schild mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“, dahinter zwei blaue Augen, ein Stück Nase und ein Ohr. Svens Autorenfoto. Wir schrieben beide von 2006 bis 2011 Artikel für Opinio, das Onlineforum der „Rheinischen Post“: Alltagserlebnisse, Ausflugstipps, Gastro-Empfehlungen, Tatsächliches und Erfundenes, Poesie und Prosa, ein bürgerjournalistisches Miteinander. Wir tippten uns die Finger wund und kommentierten gegenseitig unsere Texte. Tagsüber. Nachts. So lange, bis die Schreibcommunity zur Zweitfamilie wurde. Der journalistische Ritterschlag war damals die Veröffentlichung eines Onlinetextes in der Printausgabe der RP. Sven schrieb unter seinem klangvollen Autorennamen Sehnsuchtsvorstand und gehörte zu den beliebtesten Autoren. Alle Opinios waren untröstlich, als das Schreibportal aus Kostengründen eingestellt wurde.

Sven ist mein Lieblings-Ossi.
Er berlinert. Manchmal weniger, manchmal janz doll. Wobei ich nicht weiß, ob der Brandenburger seinen Dialekt pflegt, weil er nicht anders kann oder weil er ihn mag oder weil es hilft, ihn geografisch einzuordnen. Ich vermute ja, dass zum Beispiel Howard Carpendale zuhause ein lupenreines Hochdeutsch spricht und nur aus Vermarktungsgründen den Südafrikaner gibt. Zu seinem Berliner Dialekt muss ich Sven mal befragen, wenn wir uns zufällig an unser beider Lieblingsbüdchen treffen. Das mit der Fortuna-Beleuchtung auf dem Dach.

Im Berlinern übertroffen wird der Ex-Brandenburger und Jetzt-Düsseldorfer von seiner langjährigen Lebensgefährtin Ilona, mit der er im November ’89 in den Westen gegangen ist. Um diese Frau zu beschreiben, ist die Redewendung „Pfeffer im Arsch haben“ aus meiner Sicht sehr geeignet. Ilona hat extrem viel Pfeffer im Arsch. Diszipliniert ist sie und von klein auf ehrgeizig. Zu DDR-Zeiten war sie eine gute Schülerin, durfte jedoch keine weiterführende Schule besuchen. Die hervorragende Sportlerin hatte nur ein Ziel: Artistin werden.

Sie bestand die anspruchsvolle Aufnahmeprüfung der Staatlichen Artistenschule. Leider platzte ihr Traum wegen ihrer Rückenprobleme. Darum entschied sie sich zu einer Ausbildung zur Servicekraft und wurde Oberkellnerin im Hotel Haveltourist in Brandenburg an der Havel. Das war das erste Haus am Platze. Dort gab es West-Trinkgeld, von dem keiner wissen durfte, und Kontakte zu Menschen aus Westdeutschland. Die Ausreise in die BRD mit ihrer kleinen Tochter Janine hatte Ilona schon geplant. Das Hochzeitskleid für die Vermählung mit ihrem Freund aus dem Westen lag bereit.

Wahrscheinlich kreuzten sich Ilonas Wege mit denen des Polytechnik-Studenten und Strubbelkopfs Sven ein paar Male zu oft. Er ging gern mit seinen Kumpels im Haveltourist Bierchen trinken und nach Schichtende mit den Hotelangestellten in die Disco. Irgendwann machte es richtig Zoom, und die beiden Brandenburger gestanden sich in einem Café in Berlin-Karlshorst bei Kaffee und Kuchen unter Tränen ihre Liebe. Diese Liebe war stärker als der Freiheitsdrang. So mussten das Hochzeitskleid im Osten und der Wessi-Freund im Westen bleiben.

Sven und Ilona Tiller
Ilona und Sven vermuten, dass dieses Bild aus früheren Tagen in Brandenburg aufgenommen wurde. Foto: Tiller

Bis zur Öffnung der Mauer wurde im Land, in dem Grillhähnchen Broiler und Astronauten Kosmonauten hießen, einfach das Beste aus allen Lebenssituationen gemacht. Darin war man in der DDR richtig gut. Als Jugendlicher fuhr Sven mit dem Moped, einer Simson S 50, von der Havel an die Ostsee und blieb so lange mit seinem Zelt auf dem Campingplatz in Kühlungsborn, bis dem Platzwart auffiel, dass er gar nicht für seinen langen Aufenthalt gezahlt hatte. Sven musste den Platz verlassen, nutzte aber ein paar hundert Meter weiter einen Nebeneingang, schlug sein Zelt wieder auf und verlängerte seinen Urlaub.

Vermutlich zur selben Zeit verbrachte ich einen Urlaub ohne Erziehungsberechtigte auf einem Campingplatz an der Weser. Wir hausten zu viert in einem Wohnwagen der Eltern meiner Freundin und machten erste Alkoholerfahrungen mit einer gefährlichen Blue-Curacao-Sprite-Mische in der campingplatzeigenen Kneipe.

Als ich 1987 vierzehn Tage lang einem immer gleichen Schlafen-Strand-Essen-Disco-Schlafen-Rhythmus in meinem Mallorca-Urlaub nachging, reiste Sven mit einer Freundin in einem Zug nach Budapest. „Ungarn war für uns der Westen light, das Paradies. Genauso wie damals in der DDR der Intershop einen Blick hinter den westlichen Vorhang bot. In Ungarn gab es coole Klamotten, die so ganz anders waren als die DDR-Jugendmode, und dann die Platten und Sticker von Westbands, auf die wir janz scharf waren. Das war alles wahnsinnig teuer für uns. Ein Queen-Konzert im Nepstadion konnten wir uns natürlich nicht leisten.“

Die jungen Ostdeutschen wollten es im Zug nach Budapest ein bisschen bequem haben und im Gang vor der Toilette ihr Lager aufschlagen. Deshalb hatte Sven ein Schild mit der Aufschrift TOILETTE DEFEKT vorbereitet, das er an die Tür des WCs heftete. Dieser kreative Schachzug führte zu reichlich Platz und einer exklusiven Toilettennutzungsmöglichkeit für das Pärchen.

Als ich Mitte der 80er Jahre mit meinem Arztsohn-Freund in einem VW Scirocco White Cat vor unserer Dorfdisco namens Rock In vorfuhr, kreierte Sven in Brandenburg mit Zuckerwasser und Seife seine wilde Limahl-Frisur. Seine Mutti nähte ihm Pumphosen aus alter Bettwäsche, die eine Komponente eines recht auffälligen Stylings wurden. Während wir im Westen der BRD auf einer bierverklebten Tanzfläche zu „Alt wie ein Baum“ von den Puhdys im Kreis herumwirbelten, war der in seiner Heimat bald sehr bekannte Sven Teil des Teams der Interdisco Rathenow. „Wenn wir so auf die Dörfer jekommen und dann zu Modern Talking oder so im Stroboskop-Geflacker von Johnnys Lichtanlage auf dem Podium hin- und herjezappelt sind, war das für viele Mädels schon so, als wäre Ilja Richter live zu Gast.“

Aus jener Zeit gibt es viele Schwarzweiß-Fotos. Die Schnappschüsse von bröckelnden Fassaden, Jugendlichen und Partys in Brandenburg hat Mathias Knoppe gemacht. Zu DDR-Zeiten war der Fotograf, der heute in Hamburg lebt, auch einer von den bunten Hunden. So wie Sven. In OST COLA haben zwei Fotografenkollegen und er Bilder von damals zusammengestellt. Die OST-COLA-Facebookseite hat mehr als 12.000 Follower, die in Erinnerungen schwelgen und eigene Fotos zur Verfügung stellen. 2013 erschien ein gleichnamiger Bildband, der schnell vergriffen war. Raten Sie, wer das Vorwort zu diesem Bildband geschrieben hat? Mein Lieblings-Ossi.

Um mein eigenes deutschdeutsches Schreibprojekt umzusetzen, habe ich Sven – sowohl per Mail als auch per WhatsApp – mit Fragen geradezu bombardiert: Wann war euch klar, dass ihr in den Westen gehen wolltet? In welcher Situation wart ihr kurz vor dem Fall der Mauer? Fühltet ihr euch im Westen willkommen? Wo habt ihr in Düsseldorf gearbeitet?

Diese und viele, viele weitere Fragen hat Sven brav und geduldig beantwortet, auch als der 3. Oktober nahte und wir wussten: Das wird nichts mehr mit der Fertigstellung des Textes. Sven dazu: „Wir feiern den 3. Oktober sowieso nicht. Wir feiern den 9. November und den 16. November, den Tag unserer Ausreise in den Westen.“

Der Tag der Ausreise war nicht nur mit guten Gefühlen verbunden. Die Freude über die neu gewonnene Freiheit und Reisemöglichkeiten überdeckte der Schatten der Trennung. Svens geschiedene Eltern, der Stiefvater und der jüngere Bruder blieben im Osten. Auch Ilonas kleine Tochter Janine musste zurückbleiben. Erst sollte die Wohn- und Arbeitssituation in der BRD geklärt, dann das Kind in den Westen geholt werden. Nach einem tränenreichen Abschied führte die Reise von Sven und Ilona sowie Svens Cousine und ihrem Freund ins Notaufnahmelager in Gießen. Von dort wollten die vier jungen Brandenburger nach Viersen fahren, was Svens Tante und Onkel zum neuen Domizil erklärt hatten. Die Busfahrt von Gießen führte nach Düsseldorf und ins Ungewisse. Die Passagiere des Busses schauten ängstlich auf die vorbeiziehende etwas düstere Zechenlandschaft des Ruhrgebiets. „Der Busfahrer wirkte so gar nicht vertrauenserweckend. Zwischendurch dachte ick, er verkauft uns als Arbeitssklaven an einen Zechenbesitzer. Kein Scherz.“

Die Busfahrt endete am 21. November 1989 nicht unter Tage, sondern auf dem Fluss. Die DDR-Flüchtlinge, die ihr bisheriges Leben in nicht mehr als zwei Koffer verstaut hatten, wurden auf einem Schiff mit dem Namen Victoria untergebracht. Dieses Schiff war am Rheinufer festgemacht, am Unteren Werft, direkt vor den Kasematten, damals noch ohne Gastronomie. An Bord des Schiffes: ein freundlicher niederländischer Kapitän namens Klaas, ein Schiffsmanager mit dem Spitznamen Bär und ein hilfsbereites Team des Deutschen Roten Kreuzes.

Auf der Victoria fühlten sich Sven und Ilona wie Sieger. „Auf dem Kahn war es überraschend cool. Die Gemeinschaft hat gepasst. Da sind Freundschaften entstanden, die noch viele Jahre hielten. Wir wurden ziemlich schnell gefragt, ob wir auf der Victoria arbeiten wollten. Ilona als Barchefin (ja, es gab eine Bar!) und icke (nicht lachen!) als Küchenchef und Nachtwächter. Bin oft nachts, wenn alle schliefen, mit einer Stechuhr eine feste Tour über das Schiff gelaufen.“

Sven und Ilona Tiller
Sven auf der Victoria: Die Übersiedlerkähne mussten wegen Hochwassers von der Rheinuferpromenade ablegen und in den Hafen schippern, da sie zu kippen drohten, wenn das Wasser über die Ufer steigt. „Da wurde „gefragt“, wer beim Leinen einholen dabei ist, und schwupp stand ich da“, erzählt Sven. Foto: Tiller

Dann, im Januar 1990, wählte der Schiffsmanager zwei DDR-Paare für das Neujahrstreffen der Düsseldorfer Jonges aus. An jenem Januarabend, an dem Sven und Ilona sich wie Außerirdische vom Planeten DDR fühlten und Sven das Gedicht auf Klopapier niederschrieb.

Den Rücken gedreht
den Verwandten, Bekannten,
mit der Familie geweint,
Bruders Tränen geteilt.
Die Haustür geschmissen
und zum Zuge geeilt.
Mit Freunden geschworen
und aufs Glück gebaut.
Plötzlich jenseits der Grenze,
nichts schien vertraut.

„Ich hatte dann nach drei, vier oder vielleicht auch fünf Alt den Mut gefasst und das Gedicht laut vor all den fremden feinen Herrschaften vorgelesen. Ein voller Erfolg.“ Es gab frenetischen Applaus für Svens Klopapier-Zeilen. Viele der Jonges kamen an den Tisch, an dem die DDR-Flüchtlinge saßen. Sie stellten sich vor, gaben ihnen ihre Visitenkarten und versprachen, die Neu-Düsseldorfer zu unterstützen. „Die Hilfe haben wir nie angenommen. Wir sind danach sogar noch bei einer Ratinger Ratsfrau zum Kaffeetrinken eingeladen worden. Aber wie gesagt, wir haben eigentlich immer unser eigenes Ding gemacht, trotz der Probleme und Aufs und Abs.“

Der Aufenthalt auf der Victoria endete im April 1990: „Nach der schönen Zeit auf dem Schiff wurde es hart.“ Sven und Ilona wurden in einer Flüchtlingsunterkunft an der Oststraße einquartiert. Die Freude über die Wiedervereinigung und die positive Einstellung zu Bürgern aus der DDR hatte sich spürbar geändert. Während man in Ostdeutschland noch „Helmöt, Helmöt“ skandierte, wenn Bundeskanzler Kohl zu Gast war, und David Hasselhoff ungestraft behauptete, mit „Looking for freedom“ die Mauer zum Einsturz gebracht zu haben, hatte der Wind of change sich in Düsseldorf gedreht. Die ehemaligen DDR-Bürger fühlten sich in ihrer überlaufenen Unterkunft nicht wohl und suchten dringend eine Wohnung, vor allem um das Töchterchen Janine endlich in den Westen holen zu können. Sie setzten sich eine Frist. Wenn bis Weihnachten 1990 keine eigene Wohnung gefunden hätten, würden sie zurück in die Heimat gehen.

Die Heimat, die Düsseldorf noch längst nicht war. „Dann hatten wir tatsächlich irgendwann Glück und bezogen eine eigene Wohnung. In Neuss, vis-à-vis vom Huma. Wir wohnten da in diesem großen Block, über den es sogar einen eigenen Film gibt. Die Wohnmaschine. Sehr treffend. Wir haben sofort die Kleene aus Brandenburg geholt, haben es uns für ein paar Jahre im 11. Stock der Wohnmaschine nett gemacht und gemeinsam unser Heimweh überwunden.“ Jobmäßig ging es auch langsam aufwärts. Ilona bekam eine Stelle als Servicekraft bei einer Düsseldorfer Kreditbank, bei der sie dann später am Empfang saß.

Und Sven? „Der Freund meiner Cousine und ich versuchten unser Glück als Telefonverkäufer von Druckerutensilien. Das Büro war am Graf-Adolf-Platz. Wir haben nicht ein Geschäft abjeschlossen, dafür hauptsächlich mit den Eltern im Osten telefoniert. Unsere Kündigung haben wir uns mit ein paar Bierchen auf der Oststraße schmecken lassen. Danach hatte ich einen Job bei Toys R Us auf der Duisburger Straße, dort musste ich die Spielewand in alphabetischer Reihenfolge einräumen. Und als ich endlich bei Z ankam, hatte ich plötzlich ein Spiel mit B in den Händen. Die Arbeit war genauso nervig wie der Chef. Dann wurde ich Postbote. Den Job wollte ich eigentlich nur einen Winter lang machen, wegen des Trinkgelds. Daraus wurden dann fünf schöne Jahre. Mein Studium in Ostberlin wurde hier leider nicht anerkannt, weil es so etwas wie Polytechnik im Westen nicht gab. Ich hatte kein Geld für ein neues Studium, also machte ich über das Arbeitsamt von 1996 bis 1999 eine Umschulung zum Erzieher und bin seitdem in der Graf-Recke-Stiftung hängenjeblieben. Da betreue ich seit vielen Jahren eine Jungswohngruppe. Mit Herz und Seele.“ Wer ihn kennt, glaubt das sofort.

Sven und Ilona Tiller
Ilona und Sven mit einem roten Renault an der Klosterstraße. Es war das erste Auto, das die beiden wirklich besessen haben. Der Kauf eines Golfs über einen Bekannten war zuvor schiefgegangen. Foto: Tiller

Es dauerte mindestens drei Jahre, bis Sven und Ilona aus Brandenburg Düsseldorf ihr „Zuhause“ nannten. Fußball half dabei. An einem Wochenende im Jahr 1990, nach einem Spiel der Fortuna gegen den KFC Uerdingen, schloss Sven es kategorisch aus, Fan vom FC Schalke, der Borussia Mönchengladbach oder des BVB zu werden. Er wurde Fortune, genauso wie seine Ilona und Stieftöchterchen Janine, mit denen er oft im Familienblock im Rheinstadion saß, wenn er nicht zu Auswärtsspielen über die Dörfer zog.

Unter den Fortuna-Fans war Sven schnell bekannt. Der Mann aus Brandenburg, von dem es fast 50 Fotos mit Schauspielern, Musikern und Sportlern gibt, war irgendwann selber so etwas wie ein Prominenter. „Kannste dich noch an die Telekom-Werbung mit Thomas D. erinnern? Million Voices? Bei Minute 2:27 singe ich.“ Das Fortuna-Fan-Fieber wurde in der Familie weitergegeben. 1997 kam auch Svens kleiner Bruder Lars ins Rheinland und wurde direkt zum Fortunen umgeschult.

2003 folgte dann endlich Svens Mutter mit ihrem Mann Siggi. Mit Mutti spaziert der Düsseldorfer aus Brandenburg oft um den Unterbacher See. Das Wasser scheint es ihm überhaupt angetan zu haben. Mit Ilona und seinem Wohnmobil macht Sven gern Campingurlaub am Rheinufer in Meerbusch mit Blick auf Kaiserswerth. Die Hausbrauereien gefallen den beiden, vor allem im Sommer. Das El Gitano in der Schneider-Wibbel-Gasse, wo sie mit dem Kellner Abdel aus Marokko herumflachsen, ist ebenso ein Wohlfühlort.

Der absolute Lieblingsplatz in der Stadt ist jedoch das Fortuna-Büdchen. „Wir haben schon an dem Büdchen jestanden, als das Ding kaum einer kannte. Ich war auch in deren Tipp-Runde. Mein Tipper-Name war Icke. Das Büdchen war unser Anlaufpunkt für ein spätes Feierabendbierchen mit auffe Mauer sitzen, Beene baumeln lassen und träumen. Das war einfach die beste Kneipe von Düsseldorf.“

Wenn Sie also demnächst an genau diesem Büdchen einen Mann Mitte 50 mit strubbeligen Haaren und Bart sehen, der sein Fahrrad angelehnt hat, auf der Mauer sitzt, sein Füchschen trinkt und auf den Rhein schaut, dann könnte das sehr gut der Mann sein, der am 16. November 1989 seine ostdeutsche Heimat verlassen hat und am 21. November in Düsseldorf ankam. Dann ist das der Mann, der im Januar 1990 ein Gedicht auf Klopapier verfasst und vor den Düsseldorfer Jonges zum Besten gegeben hat.

Dann ist das höchstwahrscheinlich Sven.

Mein Lieblings-Ossi.


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