Gewalt-Raum Fußballplatz

Beleidigungen und Schlägereien gehören zum Alltag von Spielern und Schiedsrichtern. Doch so schlimm wie vor vier Jahren eskalierte es in Düsseldorf selten. Eine Problembetrachtung zwischen Gerichtssaal und eigener Erfahrung.
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 4. Oktober 2024
Gewalt im Amateurfussball
Immer wieder kommt es bei Spielen im Amateur-Fußball zu Gewalt.

Im Gerichtssaal trägt S. ein graues Hemd unter einer hellen Stoffjacke, beim Fußball ein rotes Trikot. In dem stand er ziemlich genau vier Jahre zuvor mit seinem Verein Türkgücü Ratingen beim Post SV Düsseldorf auf dem Platz. Kreisliga B, zweittiefste Liga. Erst gewann der Post SV mit 3:2, dann soll S. einen seiner Gegenspieler ins Gesicht geschlagen und einem anderen gegen Kopf und Körper getreten haben. Das Amtsgericht verurteilte ihn dafür später zu zehn Monaten auf Bewährung, S. legte Berufung ein. Darüber soll nun das Landgericht entscheiden.

Gewalt im Amateurfußball ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. „Wir wissen, wo die soziale Situation äußerst prekär ist, dass da Menschen zu extremem Verhalten neigen, um ihre Probleme zu lösen“, sagte der Sportsoziologe Günter A. Pilz im vergangenen Jahr der „Sportschau“. Da hatte gerade der Düsseldorfer Landtag über die Situation in Nordrhein-Westfalen diskutiert. Innerhalb einer Saison gab es allein in NRW 255 Polizeieinsätze bei Amateurspielen, bundesweit wurden 961 Amateurspiele wegen Gewalt oder Diskriminierung abgebrochen. Wie sehr Alltagsfrust und Fußballgewalt zusammenhängen, wurde in Düsseldorf in der Hochphase der Corona-Pandemie deutlich. Die Schlägerei beim Post SV war dafür nur ein Beispiel.

Vor dem Amtsgericht hatte S. noch geschwiegen, vor dem Landgericht sagt er aus. Das ganze Spiel sei hitzig gewesen. „Zehn Kisten Bier haben die weggehauen. Nur am Beleidigen, nur am Schreien“, sagt er über die Zuschauer in Düsseldorf. An der Massenschlägerei nach Abpfiff sei er gar nicht wirklich beteiligt gewesen, habe nur einen weggeschubst. „Stattdessen werde ich hier als Bruce Lee dargestellt.“ Er kündigt an, die zwei wirklich Schuldigen zu nennen, die sich dann vor Gericht selbst belasten würden. „Die müssen das machen.“

Wie schwer es ist, über Fußballschlägereien zu urteilen, wird schon an diesem ersten Verhandlungstag deutlich. Die Polizei? Kam erst, als alles vorbei war. Zuschauer und Betreuer? Wissen noch, dass mehrere Dutzend Menschen aufeinander losgingen. Dass geschlagen und getreten wurde. Aber wer genau, kann nach vier Jahren niemand mehr mit Sicherheit sagen. Nur, dass die Trikotnummer des Angeklagten später genannt wurde. Auch der Schiedsrichter kann nicht viel zur Aufklärung beitragen. Das Spiel selbst sei nicht unfair gewesen, sagt er aus. Nach Abpfiff sei er unter „Nazi“-Beschimpfungen eines Gästezuschauers in seine Kabine gegangen. Von den gegenseitigen Beleidigungen, die sich beide Mannschaften vorwerfen, habe er während des Spiels nichts mitbekommen.

Ich war selbst 13 Jahre lang Fußball-Schiedsrichter. Eine solch brutale Eskalation wie der Düsseldorfer Kollege habe ich in dieser Zeit zum Glück nicht erlebt, auch hat mich nie jemand auf dem Sportplatz geschlagen oder getreten. Aber: Einmal hat eine Glasflasche nur knapp meinen Kopf verfehlt, ich bin bedroht, bedrängt und unzählige Male beleidigt worden. Und das vor allem, als ich noch sehr jung war und in der Jugend und bei den Herren in den unteren Kreisligen im Einsatz war. Dort, wo es noch keine Assistenten an der Seitenlinie gibt.

Die Massenschlägerei beim Post SV war nur eine von vielen gewaltsamen Zwischenfällen im Düsseldorfer Amateurfußball. Eine Auswahl allein aus den Monaten davor und danach, gesammelt von der Rheinischen Post: Ein Spieler des Garather SV löst mit seinem Faustschlag gegen den Schiedsrichter einen Rettungsdiensteinsatz aus. Ein Spieler des SF Düsseldorf-Süd II tritt den Torhüter des AC Italia krankenhausreif. Ein Spieler des FC Kosova II bringt den Schiedsrichter gewaltsam zu Boden und wird für acht Jahre gesperrt.

Dass ich „nur“ bedroht und mit einer Glasflasche beworfen wurde, zählt für eine mittellange Schiedsrichterkarriere schon als Glück. Ein ehemaliger Kollege von mir wurde mittlerweile drei Mal von Spielern körperlich attackiert. Er steht immer noch mehrmals pro Wochenende auf dem Platz. Ein anderer musste aus nächster Nähe miterleben, wie ein Spieler am Boden liegend so hart gegen den Kopf getreten wurde, dass Kiefer und Jochbein brachen. Dass ich 2017 meine Schiedsrichter-Karriere beendete, hatte andere Gründe. Der Start ins Arbeitsleben, mein Umzug, die Erkenntnis, es nicht mehr in die Profiligen zu schaffen. Aber ich kenne viele andere, die schnell aufhörten, weil sie nicht regelmäßig zehn und mehr Stunden pro Woche in ein schlecht entlohntes Ehrenamt investieren wollten, bei dem sie zudem noch regelmäßig beleidigt und angefeindet wurden.

„Der Durchlauf ist höher geworden“, sagt Bernd Biermann zur Fluktuation bei den Schiedsrichtern im Fußballkreis Düsseldorf. Der Kreisvorsitzende hat in den vergangenen Jahren einige Abbrüche von Jugendspielen erlebt und fordert, mehr über die Gewalt von außen zu sprechen. „Das sind nicht die Spieler“, sagt er. In der Jugend seien regelmäßig die Eltern das Problem. Hinzu kamen immer mehr Gewaltexzesse im Herrenbereich, gerade in der Corona-Zeit. „Das war nicht der einzige Vorfall“, sagt Biermann über den Fall, wegen dem S. sich vor dem Landgericht verantworten muss. „Aber es war ein außergewöhnlicher Fall.“

Am zweiten Prozesstag wird zunächst der Zeuge B. vernommen. B. war einer der beiden Menschen, die es in der Massenschlägerei besonders hart erwischte. Als Zuschauer war er nach dem Spiel mittendrin, als er einen Schlag von hinten im Gesicht spürte. „Dann war ich erstmal kurzzeitig ein bisschen neben der Spur.“ Danach sagt J. aus, der damals beim Post SV spielte. Er schildert, wie einer seiner Teamkollegen noch am Boden liegend immer weiter getreten wurde und er um ein „bisschen Theater“ zu machen eine Bierflasche zerschlug. Nur, so sagt er, damit die Gegenspieler stattdessen auf ihn losgehen. Namen und Nummern können beide den Angreifern vier Jahre später nicht mehr zuordnen.

Seit der besonders schlimmen Phase damals ist im Fußballkreis einiges passiert, sagt Bernd Biermann. „Wir haben, wie der gesamte Fußballverband Niederrhein, auf die Gewalt reagiert.“ Viele Gespräche wurden geführt, Strafen erhöht – teils sogar auf Wunsch der Trainer. Seit dieser Saison gibt es in ganz Deutschland das sogenannte DFB-Stopp-Konzept, das gegen die Eskalation auf Fußballplätzen helfen soll.  Wenn sich die Gemüter zu sehr erhitzen, kann der Schiedsrichter das Spiel so unterbrechen und im kleinen Kreis mit Trainer, Kapitänen und gegebenenfalls Ordnern auf eine Beruhigung der Situation hinwirken, um einen Abbruch zu verhindern. Bis Mitte September war das Konzept laut Biermann im gesamten Fußballverband Niederrhein rund 40-mal angewandt worden. „Wir müssen jetzt untersuchen: Was ist passiert und warum ist es passiert?“

Als die laut dem Angeklagten nun selbstbelastungs-willigen Zeugen den Gerichtssaal betreten, wird schnell deutlich, dass daraus nichts wird. Erst sagt T., dass er nur helfen wollte, einen Schlag gegen den Hinterkopf spürte und mit einer Abwehrbewegung reagierte. „Da waren viele Schubsereien“, sagt er. Vom angeklagten S. wisse er nicht mal, ob er überhaupt mitgespielt habe. Auch E. sagt, er habe nur schlichten wollen. Dass sei in der Rangelei allerdings nicht angekommen. Beide berichten zudem, von gegnerischen Fans rassistisch beleidigt worden zu sein.

Es gibt unterschiedliche Ansätze, dem Gewaltproblem entgegenzuwirken. Da ist es im Fußball nicht anders als in der Strafjustiz. Immer wieder wurden die maximal möglichen Strafen für Spieler und Vereine erhöht. Sportsoziologe Pilz wirbt stattdessen für Prävention und dafür, den vorhandenen Strafenkatalog konsequent anzuwenden. „Die Todesstrafe hat auch noch nie jemanden davon abgehalten, jemand anderen umzubringen“, sagte er der „Sportschau“.

Was auch immer genau der Grund sein mag, im Kreis Düsseldorf ist Biermann aktuell sehr zufrieden. „Wir sind bei uns schon auf der Sonnenseite.“ Nach sechs Spieltagen im Herrenbereich habe es noch keine einzige Sportgerichtsverhandlung gegeben. Der zuständige Vorsitzende habe bei ihm schon über Beschäftigungslosigkeit geklagt. „Wir müssen aber weiter konsequent bleiben.“

Der Landgericht-Prozess gegen S. endet so, wie es die ersten beiden Verhandlungstage hatten vermuten lassen. Im Zweifel für den Angeklagten. S. wird freigesprochen. Vor dem Sportgericht war er damals noch für zehn Spiele gesperrt worden. Vor der Strafjustiz wird auch diese Schlägerei ungesühnt bleiben.


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