Alena, bist du wirklich linksextrem?

Mein Freundeskreis besteht aus lauter Linken, die niemals zugeben würden, dass sie links sind. Wenn sie sich politisch verorten, dann sagen sie Mitte, denn mit Mitte kann man nichts falsch machen. Vielleicht sagen sie „irgendwie links“ oder auch sehr beliebt: linksliberal. Das angehängte „liberal“ soll zeigen: Ich bin kein verbohrter Linker, ich folge keiner Ideologie und auf keinen Fall werfe ich Steine auf Polizisten oder stecke Luxuslimousinen in Brand. Alena Hansen hingegen sagt am Telefon: „Ich bin linksextrem.“ Deshalb will ich sie treffen. Wann möchte jemand, der sich als linksextrem bezeichnet, schon mit der Presse sprechen? Jedenfalls stelle ich mir Linksextreme so vor: Kein Wort zu den bürgerlichen Medien.
Also stehe ich an einem Dienstagmorgen vor einem Haus an der Siemensstraße in Oberbilk gleich neben der Geschäftsstelle von Fifty-Fifty und drücke die Klingel. Untergebracht ist hier der Verein „Housing First Düsseldorf“, der Obdachlose wieder zu Mieter:innen machen möchte. Sozialarbeiterin Alena öffnet die Tür, bittet mich aber nicht herein, sondern stellt sich raus zu mir. Erstmal eine rauchen. Alena, 33, fällt gleich auf, auch in einer Großstadt. Pinke Haare, Ringe an diversen Stellen im Gesicht, Tätowierungen auch am Hals, schwarzes Punkrock-T-Shirt, schwarze Jeans mit Löchern an den Knien, schwarze Schuhe mit Plateausohle. Ein freundliches Gesicht macht sie trotzdem. Sie erzählt, sie habe über die Osterfeiertage ihre Eltern an der Nordsee besucht. Macht sie regelmäßig. Erst vor zwei Jahren ist sie von zuhause ausgezogen, nach Düsseldorf, für den Job.
Nach der Zigarette gehen wir rein und setzen uns in einen Gemeinschaftsraum mit Teeküche. Bloß ihr Hund Henry ist da, ein schwarzer Labrador, den sie im Scherz Kampfhund nennt. Ich fange harmlos, also ganz am Anfang an. War die Kindheit gut? „Definitiv.“ Aufgewachsen ist Alena in einem Dorf bei Husum, als Einzelkind, aber einsam war ihre Kindheit nicht. Sie hatte zwei Pferde, ritt Dressurturniere, „mit Zylinder und so. Fast spießig“. Noch heute hat sie eine Reitbeteiligung, das Pferd steht auf dem Hof ihrer Eltern. Der wiederum liegt „am Arsch der Heide“. Die Pubertät machte sie empfänglich für den Punk. Freunde gründeten Bands, Alena hing mit ihnen in Proberäumen ab, besuchte Konzerte, in Husum, Flensburg, Kiel, Hamburg. Der letzte Zug von Hamburg fuhr um 22.30 Uhr, „so, dass man die letzten Songs der Bands nicht mehr sehen konnte“.
Punk war gegen alles, das fand sie gut, obwohl die Welt nicht gegen Alena war. Damals ließ sie sich auch die ersten Tätowierungen stechen. Ihre Eltern sorgten sich, aber eher, weil sie Probleme bei der Jobsuche fürchteten. So richtig Krach gab es deshalb nie, sagt sie. Die Sache mit dem Punk hätte sich also nach der Pubertät langsam verlaufen können. Aber dann lernte sie doch die Ungerechtigkeit der Welt kennen, die ihr im Dorf nie begegnet war. Dort gab es keine Armut und keinen Rassismus, keinen offensichtlichen jedenfalls, es gab auch keine Migrant:innen. Die Stammtischparolen von damals nimmt sie erst im Rückblick wahr. „Ich habe tatsächlich nichts Schlechtes erlebt, um mich deshalb zu politisieren“, sagt sie. Sie gehört zu den Menschen, die nicht aufgrund eigener Ungerechtigkeit links wurden, sondern weil sie als ungerecht empfand, was anderen geschah. Man kann das Empathie nennen.
Nach einer Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten – maximal weit entfernt von Punk – landete Alena auf dem Amt. Erst berechnete sie Heimkosten, dann die Leistungen, die Hartz-IV-Empfängern zustanden oder eben nicht. Sie stellte fest, mit wie wenig Menschen auskommen mussten. Schon in der ersten Woche im Jobcenter dachte sie: „Ich würde gerne auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen. Nicht als Klientin, sondern um die Menschen zu unterstützen.“ Stattdessen musste sie viele Bescheide erlassen, Leistungskürzungen, ohne davon überzeugt zu sein. Aber so waren eben die Gesetze. „Das fand ich immer wieder scheiße, vor allem bei Menschen unter 25.“ Warum, dachte sie bei sich, ließen die Gesetze keinen Raum, um zu fragen: Warum hat sich dieser junge Mensch so entwickelt? Es habe Gründe, wenn Leute noch immer ohne Ausbildung oder Studium seien.
Es kam vor, dass Alena mit den Fallmanager:innen telefonierte, die für die Personen zuständig waren, und nachfragte, ob diese oder jene Kürzung wirklich sein müsse. Manchmal wurde die Entscheidung revidiert. Viel mehr aber konnte sie nicht tun. Viel zu wenig für sie. Bei der Ausbildung war Alena ohnehin nur ihrer Vernunft gefolgt, um etwas zu haben, auf das sie zurückgreifen konnte. Der Vertrag im Jobcenter war unbefristet. Aber ihr war schon früh klar: Diesen Job würde sie nicht für immer machen. Sie wartete auf einen Studienplatz für soziale Arbeit. In NRW hätte sie den zügig haben können, doch sie hatte damals einen Freund und wollte deshalb ihre Heimat nicht verlassen. Also wartete sie auf einen Platz in Kiel, jahrelang, weil der Numerus Clausus hoch war.
Als sie 2018 endlich die Zusage bekam, kündigte sie und begann mit 28 Jahren ein Studium. Erst sah sie sich in der Kinder- und Jugendhilfe, aber dann beschloss sie, wenn sie das schon studierte, wollte sie auch an ihre Grenzen kommen. Das zweite Praktikum führte sie nach Düsseldorf zum Gute-Nacht-Bus von Fifty-Fifty. Sie hatte noch keine Erfahrungen mit Obdachlosen gesammelt, wusste nicht, ob sie die Belastung aushalten würde, ob das überhaupt eine Arbeit für sie war. War es aber. Der Verein bot ihr einen Job an. Nach dem Studium zog sie zuhause aus, der Freund war ein Ex-Freund geworden. Seit 2021 arbeitet sie für „Housing First“, das eng mit Fifty-Fifty verbunden ist.
„Housing First“ folgt nicht dem früher gepflegten Prinzip, dass Obdachlose erst ihre Wohnfähigkeit beweisen müssen, durch einen Drogen-Entzug zum Beispiel, sondern der Erkenntnis, dass sie sich erst um ihre anderen Probleme kümmern können, wenn das größte, die Wohnungslosigkeit, behoben ist. 32 Personen seien schon eingezogen, keiner wieder ausgezogen, sagt Alena zufrieden. Knapp 20 Obdachlose stünden auf der Warteliste. Die Wohnungen, in die die Menschen einziehen, gehören Fifty-Fifty. Alena hilft den Leuten beim Übergang, beim Beantragen des Mietzuschusses im Jobcenter, beim Einrichten der Wohnung, bei den nächsten Schritten nach dem Einzug. „Wir zeigen der Gesellschaft, dass es funktioniert.“
Immer wieder wird unser Gespräch unterbrochen, weil sie sich um eine Klientin kümmern muss. Erst ruft die Mutter der Frau an. Sie hat längere Zeit nichts von ihrer Tochter gehört, Alena vielleicht? Nein, auch sie nicht. Also ruft Alena die Ärztin an, bei der die Drogenabhängige ihre Substitution bekommt. Ja, die Frau sei heute hier gewesen. Immerhin. Alena informiert die Mutter. Die Frau ist immer wieder mal ein paar Wochen nicht in ihrer Wohnung anzutreffen. Dann hinterlässt Alena einen Brief, und irgendwann taucht sie wieder bei ihr im Büro auf. Auch heute. Die Frau ist ziemlich aufgelöst. Es geht um Geld. Alena gibt ihr ein Handy, damit sie immer zu erreichen ist. Das Geld, das der Partner ihr schuldet, wollen sie morgen gemeinsam bei ihm abholen.
Eigentlich wollte ich mit Alena nicht so sehr über ihre Arbeit sprechen, sondern darüber, dass sie sich als linksextrem bezeichnet. So extrem kommt sie mir bisher nicht vor. Andererseits existiert auch keine exakte Definition des Begriffs „linksextrem“. Der Wikipedia-Eintrag handelt immer wieder davon, wie umstritten die Zuschreibung ist. Ich hatte immer gedacht, dass „linksextrem“ im Gegensatz zu „linksradikal“ Gewalt einschließt. Aber auch das stimmt nicht unbedingt.
Wie definiert Alena also linksextrem? Eins jedenfalls schließt sie schon mal aus: „Ich finde jegliche Form von Gewalt scheiße, egal aus welcher Richtung.“ Autos anzünden würde sie auch nicht. „Vielleicht bin ich gar nicht so linksextrem, wie ich denke.“ Aber warum sagt sie es dann über sich? „Ich mache den Mund auf und ich möchte natürlich versuchen, was zu ändern. Meine Utopie ist, Gerechtigkeit zu erlangen und Armut abzuschaffen.“ Das würde vermutlich auch FDP-Finanzminister Christian Lindner von sich sagen, allerdings würde er das Geld nicht direkt den Armen geben, sondern der deutschen Wirtschaft, damit die Armen irgendwann davon profitieren, zum Beispiel durch höhere Löhne oder überhaupt einen Job. Aber Alena hat erlebt, wie viele Probleme, diese Menschen haben – Schulden, Abhängigkeit, Depressionen. Viele Obdachlosen können sie nicht mal dazu aufraffen, Hartz IV zu beantragen. Mit Faulheit hat das nichts zu tun.
Wie weit würde sie denn gehen als Linksextreme? Die Demokratie will sie nicht abschaffen, ganz klar nicht, „aber Kapitalismus abschaffen, das wäre schon mal eine Maßnahme“. Eigentlich ist sie erst in diesem Jahr Aktivistin geworden. In Husum bot sich dazu selten die Gelegenheit. Mit Mitte 20, als sie noch im Jobcenter arbeitete, wollte sie mit einer Freundin zum G20-Gipfel nach Hamburg fahren, aber ihre Familie und ihr Freund waren dagegen, wegen der Steinewerfer und so. Deshalb blieb sie zuhause. „Jetzt würde ich das alles anders machen.“
Kurz vor der Räumung war sie im Braunkohledorf Lützerath, um Barrikaden zu bauen. Es freute sie zu sehen, dass viele Generationen beteiligt waren, alte Menschen, junge Menschen, Kinder. Den Tagebau hatte sie zuvor nur aus dem Fernsehen gekannt. Nun stand sie zum ersten Mal „vor so einem riesigen Loch an der Abbruchkante“. Sie war schockiert, wie Menschen mit der Natur umgingen. Daher war es für sie keine Frage, sich der Gruppe anzuschließen, die ein paar Tage darauf die Parteizentrale der NRW-Grünen in Düsseldorf besetzte. „Ich hatte keine Bedenken, weil ich das definitiv als richtig empfunden habe, um ein Zeichen zu setzen.“ Das Anliegen der Gruppe war es, mit Mona Neubaur zu sprechen, der NRW-Wirtschafts- und Klimaschutzministerin, und einen Aufschub für Lützerath zu erreichen. Beides gelang nicht. Zehn Stunden besetzten sie die Parteizentrale, friedlich, sagt Alena. Sie warnte ihre Eltern, dass sie in der Tagesschau zu sehen sein könnte. So war es dann auch. Kurz nach Mitternacht, als die Fernsehteams ihre Kameras abgebaut hatten, trug die Polizei die knapp 30 Aktivist:innen heraus, berichtet Alena. Die Grünen zeigten sie wegen Hausfriedensbruch an.
Wenige Tage später beteiligte sich Alena an der Großdemo in Lützerath, die Räumung lief bereits. Wie viele Tausende andere wich sie von der offiziellen Demo-Route ab. Sie habe dort das erste Mal live „krasse Polizei-Gewalt“ erlebt. „Die Cops waren dort schon sehr sehr aggressiv, sind auch rigoros gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Das glaubt einem niemand, wenn man das nicht gesehen hat.“ Ich erspare mir einzuwerfen, dass es auch Aktivist:innen gebe, die Gewalt ausüben, dass von Polizei-Seite anderes zu hören sei, aber ich bin mir sicher, dass Alena es genauso empfunden hat, wie sie es schildert. „Vor mir stand ein junges Mädel, die war wirklich nur am tanzen. Wir standen vor einer Polizeikette. Ein junger Cop kam aus der Kette heraus und hat mit einem Drehschlag mit dem Schlagstock aufs Auge gezielt und getroffen. Die ist direkt zu Boden gegangen. Es war alles voll mit Blut. Die Demo-Sanis haben sie direkt weggetragen.“ Ihr selbst sei nichts passiert, aber „ich sah aus, als wäre ich gerade aus Wacken gekommen“. Selbst in diesen Momenten, wenn sie von den Dingen berichtet, die sie wirklich umtreiben, spricht sie, ohne sich zu ereifern. Wütend und schockiert kehrte sie aus Lützerath zurück, aber auch begeistert darüber, dass so viele Menschen, so viele junge Menschen, dort waren. Das macht ihr Hoffnung.
Alena ist überzeugt, dass sich die Welt zum Guten verändern lässt. Im Kleinen, findet sie, zeigen ihr Team und sie das bei „Housing First“: Obdachlose sind wohnfähig und gehören nicht auf die Straße. Was sie vermutlich von vielen Linksextremen unterscheidet, ist, dass sie das Projekt „Welt verbessern“ nicht allein mit ihren linken Freunden vorantreiben will. Alena hat kein Problem damit, dass der Schirmherr von Housing First, Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU), einer Partei angehört, mit der sie kaum Gemeinsamkeiten hat. Oder dass einer der Unterstützer der Chef einer großen Buchhandelskette ist, also nicht gerade ein Antikapitalist. Vielleicht wirkt das Etikett „linksextrem“, das sich Alena verpasst hat, viel abschreckender, als es gemeint ist. Vielleicht reicht es zu schreiben, dass Alena nicht nur eine gerechte Welt ohne Armut möchte, sondern sich auch dafür einsetzt. Eine engagierte Linke.
Aber nach wie vor gibt es Momente, in denen sie sich ohnmächtig fühlt. Nicht mehr so sehr wie damals im Jobcenter, aber immer noch mit dem Jobcenter, den Ämtern. Wenn es darum geht, einen Klienten in einer Psychiatrie unterzubringen, genau jetzt in einer Krise, er aber vertröstet wird, noch Unterlagen einreichen muss, noch zum Hausarzt gehen soll. Wenn endlich ein Platz frei wird, will er eventuell schon nicht mehr.
Kriegen wir das mit dem Klimawandel noch rechtzeitig hin?, frage ich sie. „Ich hoffe, dass wir das schaffen. Aber schwierig wird’s. Da ist viel zu viel Zeit ins Land gezogen.“ Sie erzählt von den Windkraftanlagen in ihrer Heimat, die immer wieder stillstünden, weil die Stromtrassen fehlten, um den Strom zu transportieren, aber sie sieht, dass auch ihre Eltern nun eine Solaranlage auf dem Dach haben, einfach weil der Vater sich schon immer für Technik interessiert hat. Sie glaubt, die Leute hätten nun allmählich begriffen, dass das Thema Klimawandel alle angeht. Schließlich ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern der Grund, weshalb die Lebenshaltungskosten seit dem Ukraine-Krieg dermaßen angestiegen sind.
Nach knapp drei Stunden verabschieden wir uns. Gleich wird Alena wieder einmal im Kleinen beweisen, dass wir es selbst in der Hand haben, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie wird mit einem Mann die Filiale eines großen schwedischen Möbelhauses besuchen und dort gemeinsam mit ihm die Einrichtung für seine neue Wohnung aussuchen. Der Mann hat zehn Jahre auf der Straße gelebt.
Weiterführende Links
Die Webseite von Housing First Düsseldorf: www.housingfirstduesseldorf.de
Hier hat Christian Herrendorf über Housing First in Düsseldorf berichtet: www.viernull.de/wirtschaft-und-wohnen/erst-die-wohnung