Die Düsseldorfer Hochburg der Demokraten

Nirgendwo in der Stadt ist die Wahlbeteiligung so hoch wie in Himmelgeist. Was sich daraus lernen lässt und warum das vielleicht nicht nur eine gute Nachricht ist.
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 3. Juni 2024
Wahlkreis Himmelgeist
Ilyas Gencer (links) und Josef Kürten engagieren sich in der Kommunalpolitik für Himmelgeist und diskutieren bei einem Rundgang, warum die Wahlbeteiligung dort so hoch ist, wie in keinem anderen Düsseldorfer Stadtteil.

Seit zehn Minuten sprechen Ilyas Gencer und Josef Kürten über ihren Stadtteil, die Lokalpolitik und warum sie eigentlich hier gelandet sind. Genau lange genug, um von der Bushaltestelle im Ortskern die Feldwege am Ortsrand zu erreichen. Dort wechselt das Thema zum Grund meines Besuchs. Ob sie sich vorstellen können, warum in Himmelgeist immer so viele Menschen wählen? Kurze Ratlosigkeit, gefolgt von einem Erklärungsversuch. „Wir gehen hier halt alle sonntagmorgens zum Bäcker und dann wählen“, sagt Gencer.

Am 9. Juni ist Europawahl. Traditionell ist das einer dieser Anlässe, nach denen Reporter wieder dorthin fahren, wo sich kaum jemand dafür interessiert hat. Meistens irgendwo ins Ruhrgebiet, mit Vorliebe in den Duisburger Norden. Für Himmelgeist, den kleinen Stadtteil im Düsseldorfer Süden, interessiert sich dann niemand. Dabei gäbe es auch hier Dinge zu lernen. Die Himmelgeister sind nämlich vorbildliche Demokraten. Bei allen vergangenen Wahlen hatte der Stadtteil die höchste Wahlbeteiligung in ganz Düsseldorf. Sie lag hier zuletzt bis zu 20 Prozent höher als im Stadtdurchschnitt. Ich will wissen: Warum ist das so?

Darum laufe ich an diesem Montagmorgen mit Gencer und Kürten durch ihren Stadtteil. Die beiden sind die einzigen Himmelgeister in der Bezirksvertretung und könnten unterschiedlicher nicht sein. Gencer ist in der CDU, 23 Jahre alt und studiert an der Heinrich-Heine-Universität Medizin. Kürten ist bei den Grünen, 68 Jahre alt und Rentner. Sobald es um Lokalpolitik geht, sind sie sich allerdings die meiste Zeit einig. Dann ist die Rede von wichtigen Verkehrsprojekten, die im Rathaus nicht umgesetzt werden. „Wir haben den Eindruck, dass alles südlich von Bilk von der Stadtpolitik nicht wahrgenommen wird“, sagt Kürten. Gencer nickt.

Ob Menschen zur Wahl gehen, ist eine hochpolitische Frage. Denn es bleibt nicht einfach nur ein zufälliger Querschnitt zuhause. Das fängt schon im Regionalen an. Bei der Bundestagswahl 2021 gaben 90 Prozent der Himmelgeister ihre Stimme ab, in Garath waren es 62 Prozent, in Duisburg-Marxloh sogar nur 40. Wer an diesen Orten schon einmal war, weiß, dass sie und ihre Bewohner sehr unterschiedlich sind. Wenn sich die Wahlbeteiligung zwischen ihnen so stark unterscheidet, macht das auch etwas mit der Zusammensetzung des Parlaments. Die Interessen der Himmelgeister sind über-, die der Garather unterrepräsentiert.

Ein Anruf bei Frank Wilmes. Der Düsseldorfer Autor hat 17 Jahre lang in Himmelgeist gelebt und zuletzt einen Roman veröffentlicht, der nicht nur in Teilen dort spielt, sondern auch genauso heißt wie der Stadtteil mit seinen rund 2000 Einwohnern. „Das Erste, was mich überrascht hat: Die Himmelgeister sagen nicht unser Stadtteil, die sagen unser Dorf. Die sind beseelt von einem großen Stolz.“ So richtig sei er in dieser Welt aus Schützenfest und Freiwilliger Feuerwehr nie angekommen, sagt Wilmes. Auch wenn er sich dort wohlgefühlt habe. „Das sind brave Menschen, sehr bürgerlich.“ Und: „Die Himmelgeister sind politisch so schwarz, die werfen sogar im Keller Schatten.“

Die Wahlbeteiligung ist nicht das Einzige, das beim Blick auf die Himmelgeister Ergebnisse auffällt. Egal, um welches Parlament es geht – um Bundestag, Landtag, Europa oder Stadtrat: Die Tendenz ist immer gleich. Bei allen Wahlen ist im Vergleich zum Düsseldorfer Durchschnitt die CDU stark und die FDP leicht überrepräsentiert. Grüne, SPD, Linke und AfD schneiden hier hingegen teils deutlich schwächer ab. Ein Beispiel: Bei der Ratswahl 2020 holten die Grünen-Kandidaten in Himmelgeist 17 Prozent (Düsseldorf: 24 Prozent), die SPD-Kandidaten 9,1 Prozent (Düsseldorf: 17,9 Prozent). Die CDU erlangte mit über 54 Prozent hingegen die absolute Mehrheit und war damit rund 20 Prozentpunkte stärker als im Stadtdurchschnitt.

Wie typisch die Himmelgeister Ergebnisse sind, lässt sich gut anhand einer Bertelsmann-Studie zur Landtagswahl 2017 in Düsseldorf nachvollziehen. Damals war zwar noch Kalkum bei der Wahlbeteiligung leicht vorne, die dort gewonnen Erkenntnisse galten jedoch ebenso für Himmelgeist. In beiden Stadtteilen lebten vor allem ökonomisch-starke Milieus, der durchschnittliche Bildungsgrad war überdurchschnittlich hoch, die Arbeitslosigkeit gering. „Die Wahlbeteiligung ist auch in Düsseldorf – wie in allen anderen untersuchten Großstädten Nordrhein-Westfalens – sozial gespalten“, heißt es dazu. Gemessen an der Sozialstruktur sei das Ergebnis daher nicht repräsentativ.

Beim Spaziergang durch Himmelgeist sprechen Gencer und Kürten über die Probleme, mit denen sich Bürger an sie wenden. Meist gehe es dabei um unklare Grundstücksgrenzen oder die Verkehrsanbindung. Während der Corona-Pandemie sei zudem der Rheinstrand des Stadtteils etwas zu beliebt gewesen. Überall waren Parkplätze blockiert, auch Müll sie dabei vermehrt entstanden. „Aber hier gibt es auch nicht viel. Wenn Sie sich umgucken, dann denken Sie ja: pure Idylle“, sagt Gencer. Dann zeigt er auf die Wiesen und das Himmelgeister Schloss, das wir gerade passiert haben. „Das ist heile Welt.“ Kürten lacht. „Wenn man nicht zu tief reinguckt.“  

Warum die ungleiche Wahlbeteiligung ein Problem ist, hat der Mainzer Politikprofessor Armin Fischer im vergangenen Jahr in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengefasst. Seine wichtigsten Erkenntnisse sind erstens: Je ärmer ein Wahlkreis ist, desto weniger Menschen gehen zur Wahl. Und zweitens: Die Schere bei der Wahlbeteiligung ist seit den 1970er-Jahren deutlich weiter auseinandergegangen. Davon profitieren die Union, die Grünen und die FDP. Eine schlechte Nachricht ist das vor allem für AfD, Linke und vor allem die SPD. Denn in den sozialdemokratischen Hochburgen ist die Wahlbeteiligung insbesondere seit 2005 besonders stark zurückgegangen.  

Frank Wilmes überrascht es überhaupt nicht, dass die Himmelgeister so zahlreich zur Wahl gehen. „Die wissen schon, was sich gehört.“ Sicher helfe auch, wie vernetzt die meisten Menschen im Dorf seien und dass sie sich in allen möglichen Vereinen ohnehin über den Weg laufen. Als Wilmes damals nach Himmelgeist zog, kamen die entsprechenden Honoratioren schnell bei ihm vorbei. Er wurde gefragt, ob er nicht für den Pfarrgemeinderat kandidieren möchte. Der Chef des Schützenvereins schob ihm einen Mitgliedsantrag zu. Wilmes verneinte beides. „Ich war ein Outsider als Insider.“

Das mit dem Schützenverein ist in Himmelgeist ohnehin so eine Sache. Er gehört so fest zum Ort wie die Feuerwehr, die Osterfeier und der Jüchtlauf. CDU-Stadtrat André Tischendorf wohnt zwar heute in Holthausen, ist aber nach wie vor bei den Himmelgeister Schützen aktiv. „Das ist schon ein Vorteil für euch“, sagt Kürten zu Gencer und lacht. Die beiden Lokalpolitiker sind mittlerweile im Neubaugebiet angekommen. Kürten hat mir gerade einen möglichen schnelleren Schulweg gezeigt, der jedoch zwischen zwei fast fertigen Häusern noch von einem Bauzaun versperrt ist. Trotz all seiner Mahnungen. Er ist der einzige aktive Grüne in Himmelgeist. Elyas Gencer ist eines von rund 60 Mitgliedern im CDU-Ortsverein. „Wir sind vor Ort präsent“, sagt er. Das, so glaubt er, helfe auch der Wahlbeteiligung.

Es hat wohl auch etwas mit den Vereinen zu tun, dem dörflichen Charakter, dem Zusammenhalt, dass sich in Himmelgeist so viele Menschen an Wahlen beteiligen. Dass ihnen nicht egal ist, wer sie, auf welcher Ebene auch immer, regiert. Das sind vielleicht die paar Prozentpunkte, die sie von den anderen gutsituierten Stadtteilen Düsseldorfs trennen. Doch die wahren Gründe sind strukturell. Je besser es den Menschen geht, je gebildeter und reicher sie sind, umso eher gehen sie zur Wahl. Die größer werdende Ungleichheit im Land setzt sich so auch im Wahlergebnis fort. In Wahrheit sind die Beteiligungsrekorde in Himmelgeist also eher Ausdruck eines Problems als deren Lösung.

Natürlich ist auch in Himmelgeist nicht alles perfekt. Zum Beispiel der Bus. Der kommt nämlich nur alle 20 Minuten. Beim Warten frage ich Elyas Gencer und Josef Kürten nach den Dingen, die sie lokalpolitisch umgesetzt haben. Ihnen fällt vor allem das ein, was die Stadt wieder einkassiert hat. Die Wildblumenwiese und das durchgehende Halteverbot, die sie in der Bezirksvertretung beschlossen hatten. „Manchmal erlebt man auch Überraschungen“, sagt Gencer. Viele positive sind es bislang nicht. Beide wollen trotzdem oder gerade deswegen noch einmal antreten. „Ich will ja noch erleben, dass einer meiner Anträge auch umgesetzt wird“, sagt Kürten.

Weitere Geschichten zum Thema

Die Düsseldorfer Hochburg der AfD

Strack-Zimmermann und Geisel im Fernduell


Lust auf weitere Geschichten?