Ein Düsseldorfer ist Deutschlands bester Nachwuchs-Herrenmaßschneider

Wenn der Stoff durch seine Hände gleitet, wenn er die Fasern des Materials spürt, die Farbe sieht, dann setzen sich vor seinem Auge kleine Puzzle-Stücke zusammen – natürlich nicht wortwörtlich, doch so ungefähr kann man sich wohl den Prozess der Arbeit von Moritz Nonnen vorstellen. Denn der 23-Jährige ist Herrenmaßschneider – ein Beruf, den nicht mehr viele junge Menschen erlernen wollen. Für den Düsseldorfer ist er Berufung.
Dass er ins Handwerk einsteigen und sich dann auch noch auf Mode und Textil spezialisieren wollte, war keinesfalls ein langgehegter Plan oder Kindheitstraum. Erst als Jugendlicher tastete sich Moritz langsam an das Thema heran.
„In der zehnten Klasse begann ich auf einmal, mich sehr für Mode zu interessieren“, beginnt Moritz zu erzählen. Einen konkreten Auslöser dafür gab es nicht, eher diverse Einflüsse von außen, wie beispielsweise Musiker, deren Musikvideos er schaute, deren Stile er begann zu analysieren. Oder der eine sehr gute Freund von ihm, ebenfalls Mode-Fan, mit dem Moritz Fashionshows von großen Designern im Fernsehen guckte und so zu verstehen begann, was Stil eigentlich bedeutete.
„Nach dem Abi hatte ich keinen Bock, direkt zu studieren“, sagt Moritz. „Ich wollte etwas mit den Händen machen. Ich weiß, das sagen viele. Aber mich von neun bis 17 Uhr in irgendein Büro zu setzen und immer wieder auf einen Bildschirm zu starren, war für mich schon immer der blanke Horror.“ Dann führte eins zum anderen. Denn mit dieser Einstellung stand er auf einmal zwischen zwei Berufsausbildungen: der zum Schreiner (dort machte er sogar ein Praktikum) oder der zum Schneider. Er entschied sich für den Beruf des Schneiders: „Die Vorstellung, dass ich bald vielleicht mal meine eigenen Entwürfe umsetzen dürfte, hat mich überzeugt.“
Seine Leidenschaft für Mode und Stilrichtungen wich bald einer anderen, konkreten Passion: der für Kleidung. Das ist ein Unterschied, betont er. Kleidung muss nicht fancy sein. Aber sie muss für den- oder diejenigen, der/die sie trägt, passend gemacht werden.
Dass er letztendlich Herrenmaß- und nicht Damen-Schneider wurde, hat etwas mit seinem ersten Praktikum zu tun. „Die ersten Berührungspunkte hatte ich mit Herrenmode. Und das hat mir so gut gefallen, dass ich gar nicht das Bedürfnis hatte, mich noch mit Damenmode intensiver auseinanderzusetzen. Im Nachhinein bin ich sehr froh über diese Entscheidung. Die Prozesse bei der Anfertigung von Herrenkleidung sind ganz anders als die bei Damenkleidung. Bei Herrenkleidung ist das Innenleben zum Beispiel viel wichtiger und vielseitiger. Es gibt Innentaschen in Sakkos oder andere Feinheiten.“ Es mache Spaß, durch kleine Finessen nicht nur schön, sondern auch intelligent und praktisch zu schneidern.
Ebenfalls ein entscheidender Faktor für Herrenmode: Die Materialien. „Schrecklich!“, stöhnt Moritz noch heute bei dem Gedanken an die Erzählungen seiner Mitauszubildenden, die in der Damenschneiderei tätig waren. Stretch und Krepp treffen auf weitere Stoffe, von Moritz liebevoll „Fuddelstoffe“ genannt, die teilweise gar nicht so leicht zu verarbeiten sind. „Und dann Pailletten und andere Kleinigkeiten, die man beinahe in einer Sisyphos-Arbeit aufnähen muss…“, sagt er und atmet schwer.
„Natürlich komme ich auch heute für Kostüme manchmal in Berührung mit von mir eher ungeliebten Stoffen“, lenkt er ein. „Doch meistens arbeitet man für Herrenkleidung mit schönen Wollstoffen, die sich – meiner Meinung nach – angenehmer verarbeiten lassen.“
Dass er auch Kostüme schneidert, verdankt er dem Betrieb, in dem er arbeitet und auch seine Ausbildung absolvierte, bei Ina Kromphardt auf der Klosterstraße. „Ich schätze den Betrieb sehr dafür, dass ich so viel lerne. Bei ‚normalen‘ Herrenausstattern näht man den immer gleichen Anzug, mal in Blau, mal in Schwarz. Das kann auf Dauer anstrengend werden. Bei Ina Kromphardt staffieren wir auch Theater- und Opernhäuser aus, oder Ballett-Ensembles. Das ist vielseitig und immer wieder eine Herausforderung.“ Herausforderungen liebt er. Er darf oftmals „abgefahrene“ Stücke herstellen, mit denen er ansonsten vielleicht eher nicht in Kontakt gekommen wäre.
Und was war das Abgefahrenste, das Moritz je anfertigen sollte? Nach der Frage muss er lachen. Die Antwort: „Goldene Schlüpper.“ Wirklich wahr! Ein Ballett-Ensemble wurde mit der glänzenden Unterwäsche aus Stretch ausstaffiert.
Auch an den Kostümen für das neue Hercules-Musical (in der Neuen Flora in Hamburg zu sehen) waren Moritz und seine Kolleginnen und Kollegen beteiligt: „Letztendlich haben wir Kostüme für griechische Götter angefertigt. Also solche Kostüme, wie sie auch in den Comics für Asterix und Obelix angefertigt würden.“ Ob die Kostüme wirklich in einen historischen Kontext gesetzt werden können, weiß er nicht, aber die Produktion war aufwendig und etwas Besonderes.
Es ist egal, ob Moritz goldene Schlüppis, Kostüme oder einen Herren-Anzug schneidert: Man merkt, dass er stets mit Herzblut und voller Konzentration bei der Sache ist. Er arbeitet sauber und versucht, für seine Kunden und Auftraggeber:innen die Kleidungsstücke zu nähen, die sie brauchen.
Und das zahlt sich aus. Moritz erhält mit nur 22 Jahren die erste Auszeichnung für seine Arbeit und wird auf Bundesebene zum besten Nachwuchs-Herrenmaßschneider 2023 bei der Deutschen Meisterschaft des Handwerks gekürt. Eine Auszeichnung, die ihn stolz macht. „Ich habe nie auf irgendeinen Preis hingearbeitet, aber zu sehen, dass meine Arbeit so wahrgenommen und belohnt wird, ist ein tolles Gefühl.“ Der Preis wurde vom Zentralverband des Deutschen Handwerks ins Leben gerufen und wird jedes Jahr verliehen. Absolventinnen und Absolventen der verschiedensten Berufsausbildungen aus mehr als 130 verschiedenen Gewerken treten jedes Jahr gegeneinander an.
Einige Berufe, wie Malerinnen und Maler, müssen nach der Gesellenprüfung noch einmal an einem Wettbewerb teilnehmen. Schneider können mit ihrem Gesellenstück an der Prüfung teilnehmen. Was dies angeht, haben Herrenmaßschneider keine Wahl: Das Gesellenstück ist immer ein Sakko. „Viel Kreativität kann man dabei zwar nicht rauslassen, ich kann die Wahl des Gesellenstücks jedoch verstehen“, sagt Moritz. „Man braucht ja eine Vergleichsgrundlage. Und anhand eines Sakkos kann man schon beurteilen, ob sauber gearbeitet wurde oder eben nicht.“
Da er in seiner Ausbildung zwar lernte, nach fertigen Schnittmustern zu schneidern, nicht aber eigene Schnittmuster zu erstellen, zieht er diesen Sommer für drei Monate nach Hamburg. Dort möchte er einen Weiterbildungskurs besuchen, um das zu lernen. Die Weiterbildung kostet knapp 4500 Euro und diese Kosten sind selbst zu bezahlen. Dank der Auszeichnung hat Moritz das Anrecht auf eine Begabtenförderung, also ein Stipendium. Diese hat er bereits beantragt und genehmigt bekommen, sodass er sie in die Weiterbildung investieren kann.
Trotz des Umzuges, der insgesamt hohen Kosten und 15 weiteren Wochen Schulbank ist für Moritz selbstverständlich, den Kurs zu besuchen: „Ich kann einen Anzug nähen, könnte aber keinen eigenen herstellen, weil mir die Fähigkeit fehlt, ein Schnittmuster zu erstellen. Das kann es doch nicht sein!“ In dem Kurs in Hamburg sieht er mehr Detail, mehr Tiefe, die größere Möglichkeit, zu lernen. Immerhin dauert der 15 Wochen und ist als Vollzeit-Job zu sehen. Danach darf er sich dann Schnitttechniker nennen.
Was seine Zukunft bringen wird, kann Moritz noch nicht abschätzen. Jede Erfahrung nimmt er mit, möchte besser werden und noch sicherer um Umgang mit Materialien, Nadel, Faden, mit Schnittmustern und der Kombination von alldem.