Mata-Hari-Passage-Geschichten zwischen Popkultur und Heinrich Heine

Mein bester Freund P. ist einer der größten Mata-Hari-Passagen-Vermisser der Stadt. Wenn wir gemeinsam in Altstadtnähe unterwegs sind, kann es gut passieren, dass ihn ein Nostalgieflash trifft. So, auch heute. Donnerstagabend, 19 Uhr. P. legt los, erzählt, wie toll das gewesen sei – damals, als er während Schule und Studium einen großen Teil seiner Freizeit rund um den Häuserblock zwischen Flinger Straße, Bolkerstraße und Hunsrückenstraße verbracht habe. An der letztgenannten stoppen wir vor der Burger-King-Filiale. Bis zum Jahr 2002 konnte man hier über einen von drei Eingängen in die bunte, grelle, schräge, irgendwie andere und doch mainstreamkompatible Welt der Mata-Hari-Passage eintauchen, die von vielen liebevoll-kurz „die Mata Hari“ genannt wurde, und mein Begleiter dreht sofort auf, knurrt: „Eine Schande ist das!“
Ich ahne sein Motiv, frage trotzdem zurück: „Was denn?“
Und er sagt (auf das Logo der Schnellimbisskette deutend): „Na das da! Du weißt schon …“
„Aber du magst doch Burger“, sage ich.
„Ja, aber nicht an diesem Ort!“, sagt er.
„Sollen wir trotzdem reingehen?“, frage ich scherzhaft. „Vielleicht erkennt man ja noch Reste der Passage.“
„Meinetwegen“, antwortet er ernsthaft. „Aber nur, wenn du darüber schreibst.“
Und so spazieren wir ein paar Sekunden später durch den schlauchförmigen Eingangsbereich Richtung Bestelltheke. Früher erstreckte sich hier einer der drei Arme der Mata-Hari-Passage. Ich aktiviere meine Erinnerung, sehe im Geiste den schwarz-weißen Schachbrett-Boden vor mir. Seitlich des Ganges: Schuh-, Schmuck- und Modeläden. Weiter hinten: ein Friseur, ein Tattooladen, zwei Schallplattenläden, ein Uhrengeschäft. In der Mitte treffen die Passagen-Arme auf ein rot-plüschiges Lokal – integriert ins Einkaufsgeschehen und mit allerlei Neon-Reklame-Schildern und dem so schlichten wie passenden Namen: Café Bistro. Schulschwänzer trinken Kakao mit Sahne, Szeneleute trinken Milchkaffee, dazu gibt es Schinken-Käse-Toast, und abends kommen die Ausgehleute und bestellen Bier, Wein und Cocktails.


Und nun, rund 20 Jahre nach dem Verschwinden dieses besonderen Ortes, stellen wir uns, ohne groß nachzudenken, in die Burger-King-Schlange.
„Was war für dich eigentlich das Faszinierende an der Mata Hari?“, frage ich.
Mein bester Freund P. denkt nach, zumindest tut er so – und sagt: „Das Ambiente war extravagant genug, um Extravagante anzuziehen, gleichzeitig war es anschlussfähig für Nicht-Extravagante, die gerne mal etwas Extravagantes sehen oder kaufen wollten.“
Ob dieser Worte habe ich sofort den stadtbekannten Mata-Hari-Passagen-Besitzer Heinz Cremer vor Augen, über den Insider erzählen, er habe manchmal einen Papagei namens Coco auf der Schulter spazieren geführt und in seinem Büro über der Passage – extravaganter geht es wohl kaum – einen Ozelot gehalten, diese gepunktete Wildkatzenart, die von Wildkatzenlaien meist als zu klein geratener Gepard oder Leopard identifiziert wird. Wie in einem Raubtierkäfig soll es im Raubtierbüro auch gerochen haben, und dann und wann gewährte Mr. Mata Hari dem Ozelot-Weibchen – sie hieß Sheila und war Namenspatin für eine Disco, die Cremer eine Ecke weiter an der Neustraße betrieb – einen kurzen Freigang. Ein Ozelot, der über Düsseldorfer Altstadtdächer spaziert: Das hätte ich sehr gerne live gesehen, und eigentlich klingt die Geschichte zu unglaublich, um wahr zu sein. Aber wir reden hier ja über die extraordinäre Mata-Hari-Passage, nicht über eine x-beliebig-gesichtlose Shopping Mall, insofern passt alles ins Bild. Auch, dass Sheila bei ihren Freiluftausflügen nicht nur rigoros den Hauskatzenbestand der Altstadt dezimierte – sogar der Cremersche Papagei fiel ihr irgendwann zum Opfer.
Diesen Heinz Cremer habe ich in den 80er- und 90er-Jahren immer wieder mal in der Passage oder vor der dazugehörigen Tiefgarageneinfahrt gesehen, ohne Ozelot, aber stets bis zum Schlapphut in schwarzes Leder gekleidet, und manchmal führte er dabei ein oder zwei elegante Afghanen an der Leine. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, aber aus heutiger Perspektive hätte ich dem Träger eines so weißen wie langen Vollbarts und Besitzer eines riesigen Schlüsselbunds gerne eine Frage gestellt: Wie er vor der Eröffnung im Jahr 1972 auf die Idee gekommen ist, seine Ladenpassage nach der 1876 geborenen Margaretha Geertruida Zelle aus der niederländischen Stadt Leeuwarden zu benennen – der Frau, die unter den Namen Mata Hari als Doppel-Agentin, Kurtisane und (Striptease)Tänzerin in die Geschichtsbücher einging und im Prinzip mit Düsseldorf nichts zu tun hat. Doch das geht natürlich nicht, denn Heinz Cremer ist ein Jahr, bevor die Einkaufsattraktion der Altstadt aufgrund von nicht-erfüllten (oder nicht-erfüllbaren?) Brandschutzauflagen schließen musste, verstorben. Vermutlich hätte er sich in seiner Antwort auf das Image bezogen, das mit der Figur Mata Hari verbunden ist, denn dieses Image passte tatsächlich perfekt zu der in Deutschland einzigartigen Blaupause einer alternativ-urbanen Einkaufspassage mit Gastronomie: attraktiv, außergewöhnlich, geheimnisvoll, verführerisch, leicht verrucht.
Noch stehen drei Parteien vor uns in der stark unverruchten Burger-King-Schlange, und gerade als ich meinen nostalgischen Begleiter fragen möchte, wie denn sein persönlicher Extravagant-Status so gewesen sei gegen Ende der 1980er, da überrascht er mich, nachdem er ein wenig auf seinem iPhone herumgetippt hat, mit einem Rechercheresultat.
„Ich habe gerade mal `Heinz Cremer Mata Hari´ gegoogelt“, sagt er. „Und dabei bin auf den Mann gestoßen, der im ersten Weltkrieg Mata Haris Kontakt beim deutschen Geheimdienst war, ein deutscher Konsul in Amsterdam namens Carl Hubert Cremer, der Nachname mit C – wie bei Heinz Cremer.“
„Sicher ein Zufall“, sage ich. „Es gibt nämlich Zufälle.“
„Konsul Cremer stammte aus Uerdingen, also um die Ecke von hier“, sagt P. und grinst verschwörerisch.
Ich zucke die Achseln.
„Und er war Vorsitzender des Deutschen Wellensittichzüchter-Verbands“, fährt P. auf sein iPhone blickend fort. „Kein Scherz, noch heute wird in seinem Andenken der Consul-Cremer-Preis vergeben – als höchste Auszeichnung der Vereinigung für Artenschutz, Vogelhaltung und Vogelzucht.“
„Das ist doch total unseriös, aus dem gleichen Nachnamen auf eine Verwandtschaft mit dem Mata-Hari-Mann zu schließen“, sage ich gespielt empört. „Und ein Ozelot ist auch kein Vogel.“
„Ein Papagei aber schon“, sagt P.
Und dann sind wir plötzlich die ersten in der Bestell-Reihe, und der Burger-King-Angestellte guckt uns an: „Ihre Bestellung bitte!“ Wir gucken ihn an, P. sagt „Äh, Moment!“ und guckt mich an, und ich sage „Sorry!“ in Richtung des Angestellten, und danach ziehe ich P. weg, ich weiß gar nicht, warum, und wir verlassen das Schnellrestaurant.
Am liebsten würde mein Begleiter mir jetzt das Passagen-Logo in der geschwungenen Schrift zeigen, das angeblich immer noch in der Tiefgarage zu sehen ist. Doch weil diese privat, also unerreichbar ist, spazieren wir zur Flinger Straße, biegen ab Richtung Rhein. Dort: eine Young-Fashion-Ketten-Filiale neben der anderen. Wir passieren das Ladenlokal, in dem P. nach dem Abi als Verkäufer gejobbt hat und das zu unserer Jugend Factory hieß und heute das Label PME Legend beherbergt. Wir bleiben stehen, drehen uns nach rechts und versuchen beim Blick auf das gegenüberliegende Schaufenster der Modemarke Monki im Haus Nr. 54 zu bestimmen, wo einst der Eingang zur ehemaligen Mata-Hari-Passage gewesen ist. Erfolglos, denn anders als bei Burger King ist der Durchgang nicht mehr auszumachen.
Ohne dass ich ihn gefragt habe, erzählt P. von seiner Skatervergangenheit rund um die Mata Hari. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, kenne das alles schon: Fast jeden Tag habe er Ende der Achtziger mit seinen Leuten vor dem Carsch-Haus abgehangen und Tricks geübt, und zwischendurch seien sie immer mal wieder durch die Passage gecruist – vor allem auch, weil in dem Geschäft mit Skater-Mode und Skater-Zubehör so eine hübsche Verkäuferin gearbeitet habe, in die alle ein wenig „verliebt“ gewesen seien. Jede Menge Jugendkulturen habe es zu seiner Teenager-Zeit gegeben, auch Mods und Scooter-Boys, die geskatet hätten, seien in der Clique gewesen, und abends sei man oft zusammen ins Line Light am Ende der Flinger Straße feiern gegangen.
„Und du?“, fragt P., den ich damals noch nicht kannte, unvermittelt. „Was hast du so in der Mata Hari gemacht?“
Ich habe weniger zu „bieten“ als mein Begleiter: Bei Coast Schuhe gekauft und eine Jeansjacke. Außerdem Maxi-Singles bei Soundsgood, wo die Verkäufer DJs waren und Ende der Achtziger als erste in Düsseldorf – zumindest kam es mir so vor – Hoodies trugen. Kaffee getrunken habe ich in der Mata-Hari-Passage eher selten, viel öfter hingegen um die Ecke im Café Spitz an der Bolkerstraße – vielleicht auch deswegen, weil ich zu jung für die besten Zeiten der Passage gewesen bin, die ab Mitte der Neunziger Jahre scheinbar nicht mehr so populär war wie in den Jahrzehnten zuvor.
„Am spannendsten war es in der Mata Hari in den Siebzigern, als wir noch Kinder waren“, sagt P., als wir uns eine Stunde später verabschieden.
„Und woher weißt du das?“, frage ich, „du warst doch noch ein Kind.“
P. grinst sein überlegenes P.-Grinsen: „Ich schicke dir dazu später noch Material. Schreibst du jetzt darüber – oder nicht?“
Zuhause erreichen mich per WhatsApp diverse aus Büchern abfotografierte Textabschnitte, in denen die Mata-Hari-Passage erwähnt wird. Auszüge aus den Autobiografien der Kraftwerk-Mitglieder Wolfgang Flür und Karl Bartos sowie aus der Oral-History „Electri_City – elektronische Musik aus Düsseldorf“. Ich lerne, dass der spätere Kraftwerk-Drummer Wolfgang Flür und die beiden Gründungsmitglieder Ralf Hütter und Florian Schneider sich an einem warmen Sommerabend im Jahr 1973 im Café Bistro der Mata-Hari-Passage zu einer Art Vorstellungsgespräch trafen – damals noch weit entfernt vom „Wir sind die Roboter“-Stil und den strengen Kurzhaarfrisuren, die später zum Markenzeichen werden sollten: Flür kombinierte einen dünnen Schnurrbart mit einer schwarzen Lederhose à la Jim Morrison sowie mit Hochplateauschuhen in grün-metallic und Goldkettchen. Hütter trug ebenfalls eine enge schwarze Lederhose und lange Haare, dazu spitze Stiefeletten, wohingegen Schneider den angesagten Glam-Rock-Stil brach und mit Flanellhose, Lodenjanker und elegantem Halstuch eher konservativ, fast folkloristisch daherkam.
Ebenso sind spätere gemeinsame Mata-Hari-Besuche von Ralf Hütter mit dem vierten Bandmitglied Karl Bartos verbürgt. Auch Klaus Dinger, bis 1973 Schlagzeuger bei Kraftwerk, und sein Bruder Thomas, deren Bands NEU! und La Düsseldorf international Musiker wie David Bowie und Brian Eno beeinflussten, wurden öfter in der Passage und im Café Bistro sowie in der Disco Cabaret gesehen. Das Tanzlokal, das nur noch diejenigen kennen, die seinerzeit bereits im Ausgeh-Alter waren, befand sich dort, wo später der Ladenpassagen-Durchgang zur Bolkerstraße entstand. Die Einlasskontrolle soll streng und die Atmosphäre gleichermaßen hippieesk wie glamourös gewesen sein, das Publikum das durchgeknallteste der Stadt und durchaus drogenaffin. Eine Art Düsseldorfer Version der späteren Ibiza-Szene, die ganz nebenbei den Grundstein für eine internationale DJ-Karriere legte: Für den zwischen „Bowie“, „Kraftwerk“ und „Disco“ changierenden Cabaret-Sound sorgte nämlich Giuseppe Nuzzo, zeitweise auch Plattenverkäufer im Studio 33, der später unter den Namen DJ Pippi zum gerühmten Haus-DJ des Pacha in Ibiza-Stadt avancierte.

Eine Nische zwischen Glamour und Subkultur scheint die Mata Hari auch für zahlreiche Kunden gewesen zu sein. Beim Surfen durch die Social-Media-Kommentare zur Passage entdecke ich immer wieder Sätze, die mit „das erste“ oder „die erste“ beginnen: das erste Ohrloch, das erste Piercing, das erste Tattoo, die ersten Plateaustiefel, die erste Lederjacke, die ersten High Heels. Noch dazu lese ich von zahlreichen als besonders empfundenen Einkaufserlebnissen: schwarze Satinhosen und rote Wildlederstiefel mit Goldrand, kleine silberne Haie in der Auslage des Schmuckladens Mata d´Or, ein Kaschmirmantel, pinke Westernstiefel, glänzende Bomberjacken, Guarana-Shakes, Vanilla-Hosen und Levis 501 in ungewöhnlichen Farben – und über allem, so heißt es, schwebte ein Geruch nach Patchouli.
Kurz bevor ich schlafen gehe, meldet sich P. erneut: Wir seien ja leider so überstürzt geflohen, und eigentlich habe er mir vor Ort noch einen absolut wertvollen Hinweis geben wollen: Nämlich, dass hinter der Burger-King-Theke und der Burger-King-Küche noch heute ein Teil der ehemaligen Mata-Hari-Passage begehbar sei. Genauer gesagt: der Teil, wo sich damals der palmenbestandene Brunnen befunden habe, bewacht von einer Heinrich-Heine-Büste und einem Großdruck des Heine-Gedichts „Mein Kind, wir waren Kinder“. Ich solle doch mal der Buchhandlung im Heine-Geburtshaus an der Bolkerstraße 53 einen Besuch abstatten – dann wüsste ich sofort Bescheid.
Am nächsten Vormittag durchschreite ich den langgezogen-schmalen Verkaufsraum von Müller & Böhm, Lieblingsbuchladen des berühmten niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom, vorbei an Regalen und Verkaufstischen, und betrete schließlich den sich in die Breite öffnenden Veranstaltungssaal mit angeschlossener Café-Bar. Ich habe hier zwar schon einige Lesungen erlebt, und mir war auch die Historie des Raumes bewusst. Nämlich: Dass hier im Hinterhaus 1797 der wohl berühmteste aller Düsseldorfer das Licht der Welt erblickte. Blind hingegen bin ich für die jüngere Geschichte gewesen: Denn tatsächlich war der Vortragsaal von Müller & Böhm einmal Teil der Einkaufspassage meiner Jugend. Jener von meinem besten Freund P. erwähnte „Heine-Brunnen“ stand bis zu seinem Abriss 2006, als der Raum nach einigen Jahren Leerstand für den Einzug der Buchhandlung umgestaltet wurde, genau hier – vor der heutigen Trennwand zur „königlichen“ Burger-Braterei. Gelenkt von meiner Mata-Hari-Passage-Erwartung fällt mein Blick auf die den Saal strukturierenden Säulen und das von eisernen Elementen im Stil der Art Déco getragene Glasdach: Das Mata-Hari-Dach, die Mata-Hari-Säulen! Erstaunlich, dass mir das bei den bisherigen Besuchen nicht aufgefallen ist.

Im Bereich der Lese-Bühne residierte in der Passage eine Jeans- und Mode-Boutique namens „Superstar“, betrieben von Mr. Mata Hari Heinz Cremer höchstpersönlich. Heute ist der bestuhlte Saal auch eine Art Museum: Schwarz-Weiß-Porträts des Fotografen Dieter Eikelpoth, die Installation „Bücher verwenden“ von Susanne Wiegand, das überdimensionale Kunst-Foto einer Buchseite aus Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ – als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt von Andreas Gursky. Und übernommen aus der Mata-Hari-Passage: die bronzene Heine-Büste, Abguss des Originals von Arnold Frische aus dem Jahr 1897. Heine steht auf einem Sockel neben der Café-Bar, den Lesesaal überblickend, und dieser Sockel ist aus eben jenen 80 Backsteinen entstanden, die aus dem im Zweiten Weltkrieg abgebrannten und danach neu aufgebauten Geburtshaus gerettet werden konnten. Genau die historischen „Heine-Backsteine“, die Heinz Cremer und die Heine-Gesellschaft im Jahr 1984 für den Bau des „Heine-Brunnens“ in der Mata-Hari-Passage genutzt haben.

Kurzum: Früher war die Mata-Hari-Passage der schrille Paradiesvogel des Düsseldorfer Einzelhandels und des Düsseldorfer Nachtlebens, heute ist die Literaturhandlung Müller & Böhm der feinsinnige Exot an Düsseldorfs touristischer Ausgehmeile. Und wenn man genau hinschaut, entdeckt man ein weiteres, sehr persönliches Detail, das beide Welten zusammenführt: Am Übergang zwischen Literaturcafé und Verkaufsraum hängt ein gerahmtes Foto. Es zeigt Selinde Böhm, die gemeinsam mit ihrem Mann Rudolf Müller die Buchhandlung betreibt, Anfang der 1980er Jahre hinter dem Tresen des Lokals „Zum Goldenen Einhorn“, wo sie parallel zu Studium und Promotion kellnerte. In einem der Lokale an der Ratinger Straße also, die zu den Hochzeiten der Mata-Hari-Passage, sowohl von Mata-Hari-Stammgästen wie den zuvor erwähnten Musikern, als auch von Leuten aus der Kunstszene, etwa Jörg Immendorf, gerne besucht wurden. Allerdings ist das „Einhorn-Foto“ kein Schnappschuss, vielmehr eine inszenierte Hommage an das legendäre 1942er Ölgemälde „Nighthawks“ des amerikanischen Malers Edward Hopper. Selinde Böhm und drei entsprechend gekleidete Tresen-Gäste standen beziehungsweise saßen bei der Foto-Session genau in den gleichen Positionen wie die Figuren auf dem Originalgemälde, und der Fotograf – ein kunstaffiner Gymnasiallehrer namens Rudolf Penner – nahm sie im gleichen Winkel auf.

Die Hopper-Hommage mit der späteren Buchhändlerin ist nicht die einzige Verbindung zur Ratinger Straße im Heine Haus: Gegenüber der Kasse hängt bei Müller & Böhm eine dunkelblaue Original-Fliese aus dem Ratinger Hof an der Wand, umfunktioniert zum Kunstwerk. Zu sehen ist eine von Hansa Wißkirchen gezeichnete Figur mit angedeutetem Irokesenschnitt, dazu eine Comic-Sprechblase mit der Botschaft: „Der Hof ist tot“. Buchhändler Rudolf Müller erhielt das Souvenir 1989, als der klassische Ratinger Hof, der Deutschlands Punkszene geprägte hatte wie kein anderes Lokal, abgerissen wurde. Die „Punk-Fliese“ schmückte zunächst Müllers im gleichen Jahr an der Neustraße eröffnete Buchhandlung – und zog schließlich mit um an die Bolkerstraße. Wieder mal: Die kreative Düsseldorfer Nähe zwischen Nachtleben, Kunst und Musik – und Heines Geburtshaus mittendrin.
Die im Text erwähnten Bücher
Wolfgang Flür: „Ich war ein Roboter. Electric Drummer bei Kraftwerk“, Fuego, 7,99 Euro (eBook), als Print-Ausgabe (Egmont) nur noch antiquarisch zu haben.
Karl Bartos: „Der Klang der Maschine“, Eichborn, 21,99 Euro
Rüdiger Esch: „Electri_city – elektronische Musik aus Düsseldorf“, Suhrkamp, 14,99 Euro
Kurzchronik der Mata-Hari-Passage
Die Ladenpassage zwischen Flinger Straße, Bolkerstraße und Hunsrückenstraße bestand von Ende 1972 bis 2002 und beherbergte anfangs rund ein Dutzend, später mehrere Dutzend Ladenlokale, mit im Laufe der Jahre wechselnden Mietern. Bis zum Schluss residierte im hinteren Bereich das von Tom Thomas betriebene Café Bistro. Von 1972 bis circa 1984 gab es zudem im späteren Verbindungsteil zur Bolkerstraße eine Disco namens Cabaret.
Die Gänge und Geschäfte der Mata-Hari-Passage zogen sich bis in den Wiederaufbau des Gebäudes, in dem der Dichter Heinrich Heine im Jahr 1797 geboren wurde: das 1942 bei einem Brand zerstörte Hinterhaus der Bolkerstraße 53. Bereits zu Zeiten der Passage wurde 1984 in diesem Bereich der Mata-Hari-Passage mit Hilfe von 80 aus dem ursprünglichen Hinterhaus geretteten Backsteinen ein Heine-Brunnen eingerichtet, daneben ein Sockel mit einer Heine-Büste. Der Brunnen wurde nach dem Ende der Passage und einigen Jahren Leerstand 2006 abgerissen, als die Literaturhandlung Müller & Böhm in das Heine Haus einzog. Die Backsteine des Brunnens wurden nun für den Bau eines neuen Sockels für Heine-Büste genutzt. Das ehemalige Hinterhaus wird von der Buchhandlung als Veranstaltungsaal und Literaturcafé genutzt, immer wieder sind Autorinnen und Autoren live auf der Bühne zu erleben, unter anderem berühmte Namen wie Herta Müller, Durs Grünbein oder Judith Hermann.
Am Mata-Hari-Passagen-Eingang zur Flinger Straße befindet sich heute eine Filiale der Modemarke Monki, die beiden ehemaligen Eingänge an Hunsücken- und Bolkerstraße werden von Burger King genutzt. „Freunde der Mata-Hari-Passage“ gehen in der gleichnamigen Facebook-Gruppe auf Zeitreise.
Kurioser Zufall: Das „Nachtschwärmer“-Gemälde von Edward Hopper, welches der im Ladenlokal von Müller & Böhm hängenden Foto-Hommage aus dem Goldenen Einhorn zu Grunde liegt, stammt aus dem Jahr 1942 – dem gleichen Jahr, in dem das ursprüngliche Heine Haus im Zweiten Weltkrieg abbrannte.
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