Ein Herz und eine Niere

Als Antonia plötzlich an die Dialyse muss, liegt die Rettung in der eigenen Familie. Mutter Bettina wird zur Organspenderin und schenkt ihr ein neues Leben.
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 24. Dezember 2024
Nierenspende Düsseldorf
Mutter Bettina (rechts) hat ihrer Tochter Antonia mit einer Organspende geholfen. Die beiden haben uns gebeten, ihren Nachnamen in dieser Geschichte nicht zu nennen.

Bettina und Antonia sitzen einander an einem großen Esstisch gegenüber. Vor ihnen steht Tee, zwischen den Tassen ein kleiner Teller mit Keksen. Dahinter ist an diesem trüben Winternachmittag der Rhein zu sehen. „Bis auf die Diagnose haben wir immer nur Glück gehabt“, sagt Mutter Bettina. Sie zitiert einen Satz ihrer, wie sie sie nennt, „äußerst optimistischen“ Tochter Emily. In ihrem Körper hat sie nur noch eine Niere, eine weitere trägt sie an ihrem rechten Ringfinger. „Den Ring hat Antonia mir einen Tag vor der OP geschenkt.“ Kurz darauf verschicken beide eine Anzeige mit einem gemeinsamen Foto, auf dem Antonia noch ein Kleinkind ist. „Ein Herz & eine Niere“ steht darauf.

Etwa 9000 Menschen stehen in Deutschland derzeit auf der Warteliste für ein Spenderorgan, die meisten von ihnen warten auf eine Niere. Viele dieser Menschen sind seit langem krank und seit Jahren auf Dialyse angewiesen. Antonia, heute 34, fühlte sich hingegen noch Tage vor ihrer Diagnose im September 2022 vollkommen fit. Am Wochenende zuvor holte sie mit ihren Freundinnen ihren Junggesellenabschied nach. Beim Padelturnier wurde sie Zweite, danach feierten sie bis 5 Uhr morgens im Club. Montags darauf stand eine Routinekontrolle mit Blutbild an. Das Ergebnis: fünf Prozent Restnieren-Leistung. Antonia muss sofort ins Krankenhaus.

„Mir ging es zu dem Zeitpunkt eigentlich wirklich gut“, sagt sie zwei Jahre später am Esstisch ihrer Eltern. Rückblickend habe sie sich vielleicht ein wenig müde gefühlt, aber das war alles. Nun im Krankenhaus beginnt die Zeit des Suchens. Niemand kann sich so richtig erklären, warum die Nieren der jungen sportlichen Frau plötzlich versagen. „Wir haben das alle gar nicht begriffen. Es war so unwirklich. Aber es kann eben jeden treffen“, sagt Bettina. Bei Antonia sind es die Medikamente, die sie wegen einer Darmerkrankung nehmen muss, die schließlich auf die Nieren schlugen. Und es wird klar: Die Organe werden sich nicht mehr erholen. Antonia muss an die Dialyse.

Sie arbeitet weiter in einer Düsseldorfer Spielzeugfirma, allerdings nur noch zwei volle und drei halbe Tage. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag muss Antonia nachmittags für vier Stunden zur Blutwäsche. Sie verträgt die Prozedur gut, ist danach nur immer extrem müde und ziemlich hungrig. „Es war für mich mental deutlich anstrengender als körperlich.“ Im Krankenhaus ist sie mit Abstand die Jüngste, trotzdem tun ihr vor allem die anderen leid – wie die Frau, die seit zwei Jahren Düsseldorf nicht mehr verlassen hatte. „Ich hatte ja eine Perspektive.“

Die Perspektive, das wird schnell klar, sind ihre Eltern. Wer auf eine postmortale Organspende angewiesen ist, muss in Deutschland in der Regel rund zehn Jahre warten. Da bei Menschen eine funktionsfähige Niere ausreichend ist, bleibt die Option der Lebendspende. Diese bringt zwei entscheidende Vorteile mit sich: Die Wartezeit fällt weg, und die Organe werden Studien zu Folge dabei seltener abgestoßen. Sowohl Mutter Bettina als auch Vater Achim kommen als Lebendspender in Frage. Nach einigen Tests ist klar: Bettina passt noch ein wenig besser als Achim. Sofort beginnt die Vorbereitung. „Die Wartezeit hat mich wahnsinnig gemacht“, sagt Bettina.

Denn auch wenn Antonia das große Glück hat, dass direkt eine willige und passende Spenderin gefunden ist, ist es bis zum Operationstermin noch ein langer Weg. Es folgen medizinische Untersuchungen, psychologische Tests und das Gespräch mit einem Ethikrat. In Deutschland darf nur spenden, wer seine Motivation und eine enge persönliche Bindung zur empfangenden Person nachweisen kann. So soll auch Organhandel vorgebeugt werden. „Ich halte es für richtig, dass das so streng ist. Aber es ist dadurch auch ein sehr langer Prozess“, sagt Antonia. Zwischen Diagnose und Lebendspende vergehen bei ihr acht Monate. Die Ärzte in Köln sagen ihr, wie rekordverdächtig schnell das ist.

Als der Tag endlich gekommen ist, ist die Stimmungslage der beiden Frauen höchst unterschiedlich. „Ich war total froh, dass das Warten vorbei war. Ich hatte uneingeschränktes Vertrauen“, sagt Mutter Bettina. „Ich hatte wahnsinnige Angst“, sagt Tochter Antonia. Auch, weil trotz aller Tests es immer noch möglich war, dass die Niere spontan abgestoßen wird. „Dann hätte mir meine Mutter umsonst ein Organ gegeben.“ Kurzfristig wird die Operation um einen Tag verschoben, weil ein noch komplizierterer Fall dazwischenkommt. Dann geht es los. Erst wird Bettina die Niere entnommen. Dann, noch vor dem Ende von Bettinas OP, beginnt Antonias Narkose. Ob alles gutgegangen ist, bekommt sie vorher nicht mehr mit.

Der Eingriff selbst ist bei einer Nierentransplantation nicht das größte Problem. Schon gar nicht an der Universitätsklinik Köln, einem der größten Transplantationszentren Deutschlands. Über einen Schnitt im Bauchraum wird dem Spender die Niere entnommen und dann in den Körper des Empfängers einoperiert. Dort wird es komplizierter. Während des Eingriffs und in den Wochen danach muss genau kontrolliert werden, ob der Körper das fremde Organ annimmt und wie sich die Nierenwerte entwickeln. Bei Antonia ist nach wenigen Stunden klar, dass Grund zu vorsichtigem Optimismus besteht. Der Eingriff ist gelungen.

„Man wacht aus dieser Drei-Stunden-OP auf, ist noch total medikamentös behandelt. Dann kommen die Ärzte rein und sagen: Sie haben jetzt schon unglaublich gute Nierenwerte.“ Im Krankenhaus überwiegt die Erleichterung. Mutter Bettina verbringt die Tage mit dem Stricken eines Pullovers für ihre Tochter, Antonia muss noch länger zur Beobachtung bleiben. Als sie nach Hause darf, fällt sie erst einmal in ein Loch. Plötzlich gibt es keinen nächsten Schritt mehr, nur Abwarten. „Das war eine mental sehr schwierige Phase.“ Doch von Tag zu Tag wird Antonia körperlich fitter und kämpft sich auch aus ihrem seelischen Tief. Drei Monate nach der Operation fängt sie wieder an zu arbeiten.

Bis auf ihre kleine „Kaiserschnitt“-Narbe hat sich für Bettina durch die OP kaum etwas verändert. Außer, dass sie nun genauer darauf achtet, welche Medikamente ihre Nieren schädigen könnten. Für Antonia ist das Thema mit der Transplantation nicht beendet. Sie muss immunsupprimierende Medikamente nehmen, damit der Körper ihr neues Organ dauerhaft akzeptiert. Das macht sie anfälliger für manche Krankheiten und schwächt wiederum ihre Niere. Wenn sie Glück hat, hält das Organ 25 Jahre durch. Dann braucht sie wieder eine Transplantation. Immer noch muss sie regelmäßig zum Arzt. Die Angst um ihre Gesundheit ist geblieben.  

Doch natürlich ist da auch ganz viel neues altes Glück. Antonia kann wieder essen, ohne zu viel darüber nachzudenken, spontan sein, Sport treiben. „Doch am meisten habe ich mich nach der OP gefreut, wieder normal duschen zu können.“ Vorher war es kompliziert. Sie trug einen Port, an den kein Wasser gelangen durfte. Erst im September hat sie ihre große Hochzeitsfeier nachgeholt, die wegen der Diagnose ausfallen musste. Noch mehr als zuvor achtet Antonia auf ein gesundes Leben. „Ich blicke anders und dankbarer auf die Dinge.“

Was sich in der Familie verändert hat, ist die intensive Beschäftigung mit dem Thema Organspende. Vor allem Vater Achim und Mutter Bettina können sich regelrecht in Rage reden, wenn das Thema auf die Entscheidungslösung in Deutschland fällt. Anders als in anderen europäischen Ländern ist hier nur Organspender, wer sich bewusst und aus Eigeninitiative dafür entscheidet. Das führt dazu, dass viel zu wenig Organe vorhanden sind und Menschen zehn Jahre an der Dialyse hängen, bevor eine passende Niere bereitsteht. „Ich verstehe jeden, der sagt: Ich möchte das nicht. Aber es muss den Menschen einfach leichtgemacht werden“, sagt Antonia. Auch ihre Eltern haben sich erst nach ihrem Nierenversagen aktiv um einen Organspendeausweis bemüht.

So nervenaufreibend die weitere Verschiebung der Operation vor eineinhalb Jahren war, so zufrieden sind sie in der Familie heute mit dem damaligen Datum, dem 5.5.2023. „Die fünf war immer unsere Zahl. Wir sind zuhause zu fünft. Ich habe zwei Geschwister. Als Autokennzeichen haben wir die fünf. Das war schon eine besondere Symbolik“, sagt Antonia.

Und auch der Nierenring hat für Mutter Bettina heute eine große Bedeutung. Neulich während einer Reise befürchtete sie tagelang, sie hätte ihn verloren. „Ich habe wirklich im Flugzeug gedacht: Jetzt habe ich den Ring nicht an, jetzt stürze ich ab. Man wird abergläubisch.“

Gerne hätten sie als Familie auch gemeinsam den ersten „Nierengeburtstag“, so nennen sie es, gefeiert. Doch Antonia musste leider beruflich in London sein. „Aber dass das wieder möglich war, war auch ein schönes Gefühl.“

Wichtiger wird es ohnehin im kommenden Jahr. 5.5.25, viel mehr Symbolik geht nicht.


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